Stilanalyse im
Kontext der schulischen Interpretation literarischer Texte
Die
▪ literarische Stilanalyse ordnet sich im
Literaturunterricht der Schule in die Aufgaben ein, die im
Rahmen des ▪
Interpretierens literarischer Texte zu bewältigen sind. Sie
stellt im Allgemeinen keine eigenständige analytische Aufgabe
dar, sondern die Beschreibung stilistischer Merkmale, von
Stilprinzipien und Stileffekten usw. ordnet sich der allgemeinen
Interpretationsaufgabe unter. "Philologische Turnstunden" (Spillner
1996, S.253), bei denen es darauf ankommt, möglichst viele
rhetorisch-stilistische Elemente in einem literarischen Text zu
identifizieren, ohne ihre Funktion im Kontext, im Vergleich zu
alternativen Möglichkeiten und im Blick auf den Leser zu
analysieren" (ebd.),
haben in einem ▪
kompetenzorientierten Literaturunterricht keinen Platz mehr.
Den "Stil an sich", wie ihn noch die
▪ hermeneutisch und textimmanent orientierte Werkinterpretation
propagierte gibt es jedenfalls nicht. Methoden, die im Literaturunterricht zum Einsatz kommen, sind
ohnehin nicht gleichzusetzen mit ▪
literaturwissenschaftlichen
Interpretationsmethoden einschließlich der ▪
Stiltheorien und der
wissenschaftlichen
literarischen Stilistik. Dennoch ist auch die Literaturdidaktik natürlich stets bemüht,
Anschluss an den fachwissenschaftlichen Diskurs zu halten, sofern dieser,
unter literaturdidaktischer Perspektive betrachtet, nicht zu abgehoben
erscheint und dem Ziel literarischer Bildung und des ▪
literarischen Lernens
Spinner (2006)
in der Schule nicht oder nur kaum zuträglich erscheint.
Wenn also die
wissenschaftliche literarische Stilistik Eingang in den
Literaturunterricht findet, dann unter dem Vorbehalt, dass die
Beschäftigung mit ihr eine besondere Spezifik im Literaturumgang und beim ▪
literarischen Lernen entwickelt. Stil-Fragen
gehören schon allein deshalb dazu, weil auch Schüler*innen im
Zuge ihrer literarischen Sozialisation, als Ergebnis
institutioneller und nicht-institutioneller Lernprozesse,
lernen, "Texte aufgrund ihres S(tils) mit großer Sicherheit
einem Autor, einer Gattung, einer literarischen Strömung oder
einer Epoche" (Anderegg
22006,,
S.375) zuordnen. Sie tun dies, weil sie aus Erfahrung wissen,
"dass die Bedeutung oder der Sinn von Texten nicht nur durch das
Vorhandensein bestimmter sprachlicher Zeichen entsteht, sondern
auch, gewissermaßen auf zweiter Ebene, durch die spezifische Art
und Weise, in der mit den sprachlichen Zeichen bzw. mit den
sprachlichen Möglichkeiten umgegangen wird." (ebd.)
Epochenstil als heuristische Kategorie
Auch wenn es,
wissenschaftlich gesehen, ernstzunehmende Bedenken dagegen gibt,
ob sich tatsächlich so etwas wie ein gemeinsamer Nenner aus
einer Vielzahl von an konkreten Texten festzumachenden
Individualstilen gibt, der zu einem ▪
Epochenstil
abstrahiert werden kann, ist das damit verbundene, ansonsten
wenig taugliche ▪
Abweichungsparadigma zur Bestimmung von Stil und
Stilqualitäten für das schulische Interpretieren literarischer
Texte ein hilfreicher heuristischer Ansatz, quasi als Folie, "um
auffällige Textmerkmale zu entdecken" (Spillner
1996, S.244).
So führt die Beschäftigung mit Prototypen einer bestimmten
Literaturepoche, die im Vergleich zu anderen im Allgemeinen auf
bestimmte stilistische Gestaltungen setzt und diese mitunter gar
im Sinne der ▪
präskriptiven Stilistik in geschriebenen oder
ungeschriebenen Regeln und Regelwerken manifestiert hat, zu
einem Stilwissen, das das Wahrnehmen stilistischer Markierungen
in einem konkreten Text erleichtert und damit den Stil als
zusätzliche Quelle von Bedeutung bei der
▪ kognitiven Konstruktion des Textverstehens verwendet.
Am besten spricht man aber wohl im Sinne von
Spillner (1996) statt von Begriffen wie Epochen- oder auch
Gattungsstil "von Stiltendenzen, zeitgenössischen
Konventionen, literarischen Moden (...) und nicht von einem
»Stil«." (Spillner
1996, S.241). Dieser Vorschlag ist auch angesichts der
inflationären Verwendung des Begriffs Stil in der Alltagssprache
▪ literaturdidaktisch
angeraten.
Selbstverständlich ist es auf der Grundlage des ▪
typologischen
Stilbegriffs möglich "aus einer thematisierten Form
Rückschlüsse auf ihren Produzenten oder auf die soziale Gruppe
(die Epoche, die Kultur, die Nation), der er oder sie angehört
(haben), zu ziehen (vgl.
Gumbrecht 2007, S.509). Doch sollte das Abstrahieren von
Gruppenstilen stets umsichtig erfolgen und sich aus dem
Vergleich von verschiedenen Prototypen im Literaturunterricht
ergeben. Dann
lassen sich z. B.
"vor dem Vergleichshintergrund der strengen, hierarchischen und
statischen Gliederung des Barock" mit der "Architektur und Stukkatur
des Rokoko" beim Rokoko
"ein ähnliches Bemühen um Leichtigkeit und Bewegtheit erkennen
wie in der Rokokolyrik." (Anderegg
22006, S.376)
Und auch unter
diachronem Vergleichaspekt lassen sich bestimmte Stiltendenzen,
zeitgenössische Konventionen und/oder literarische Moden
analysieren.
Während es in der Antike
drehte bei der Beschäftigung mit Stilistischem stets um die
Angemessenheit eines sprachlichen Ausdrucks im rhetorischen
Sprachgebrauch, veränderte sich dies ab dem 18. Jahrhundert
nämlich
grundlegend.
Die antike
rhetorische (präskriptive) Tradition, die die sprachliche
Gestaltung (elocutio) als Ausformulieren von Gedanken verstanden
hat, unterschied dabei ▪
vier
Sprach- oder Stilqualitäten (virtutes elocutiones)
mit normativer Funktion. Ab dem 18.
Jahrhundert verliert die antike rhetorische Tradition bei der
Beschäftigung mit Stilfragen zusehends an Bedeutung. Stilistik
verliert als allgemeine Theorie der Beredsamkeit im "Lehrgebäude
der Rhetorik" (Spillner
1996, S.236) an Bedeutung
und wird mehr und mehr zu einer "Anleitung zum angemessenen
Gebrauch der Schriftsprache" (Czapla
2007, S.516)
Im Zusammenhang
"mit dem nun aufkommenden Interesse sowohl am Individuellen als
auch am historisch Charakteristischen bei der Beschäftigung mit
Kunst und Literatur" (Anderegg
22006, S.375) wurde "unter dem Einfluss des
Geniekultes und der durch ihn beförderten Individualisierung des
Werkbegriffs (Originalität) die präskriptive Stilistik abgelöst
von einer persönlichkeitsgebundenen, nach heutigem Verständnis
'deskriptiven' Auffassung der Stilistik." (Czapla
2007, S.516) Der Stilbegriff, der die so genannte Geniezeit
bzw. die ▪
Literaturepoche des ▪
Sturm und Drang
(1760-1785) löste sich damit "vom
rhetorisch reglementierten Sprachdekor zu einem Verständnis von
Stil als subjektivem Persönlichkeitsausdruck." (Becker/Hummel/Sander
22018, S.47)
Literarischer Stil ist nur interdisziplinär beschreibbar
Auch in der
Wissenschaft gibt es
▪ keine einheitliche Beschreibungssprache für stilistische
Textqualitäten. Dementsprechend ist ein solche auch im
schulischen Literaturunterricht nicht vorhanden. So kommen beim
schulischen Interpretieren literarischer Texte auch Termini aus
so unterschiedlichen Bereichen wie der ▪
Rhetorik, der ▪
Grammatik, der ▪
(Text-)Linguistik
oder der Semiotik
zum Einsatz. Ferner werden zur Beschreibung bestimmter
stilistischer Textqualitäten auch Termini der
literaturwissenschaftlichen ▪
Erzähl-,
▪ Dramen- oder ▪
Lyrikanalyse
verwendet. Im
Rahmen der Stilbeschreibung können sowohl makrostilistische
Aspekte (wie z. B. bestimmte Textmuster oder Textsortenmerkmale,
der Textaufbau, Textstrukturen und Darstellungsart etc.)
herangezogen werden.
Die mikrostilistische Analyse
nimmt hingegen gattungsübergreifend die "Stillage
hinsichtlich der Wortwahl (Nominalstil,
Verbalstil,
Adjektivstil; Wortfelder,
Metaphernbildung usw.) und des
Satzbaus (z. B. den Grad der Komplexität als
parataktisch oder
hypotaktisch oder unvollkommen bzw.
elliptisch." (Becker/Hummel/Sander
22018, S. 47) in den Blick. Ferner richtet sie ihren Blick auf
die Verwendung auffallender, vom Alltagssprachgebrauch
abweichender Wörter oder Wortverbindungen wie z. B.
Neologismen.
Dabei spielen ▪
(Stil-)Figuren und Tropen
eine zentrale Rolle. Allerdings stehen Fragen nach ▪
Änderungsoperationen, ▪
Wirkungsbereichen,
▪
Wirkungsakzenten und ▪
weiteren
Mitteln zur Stilbildung dabei nicht im Sinne eines "Stils an
sich" eine Rolle, sondern stets die Frage nach dem
Funktionszusammenhang, in dem sie stehen, d. h. welchen Beitrag
die stilistischen Markierungen für die Bedeutungskonstruktion
haben.
Dabei gelten
alle
Textelemente, die dies leisten, als stilistisch relevant.
Sie werden in einem Text auf verschiedene Art und Weise
markiert. Dazu wird eine "spezifische Auswahl und Anordnung
graphischer und phonischer sprachlicher Zeichen" vorgenommen,
"wobei das Mittel der
Rekurrenz
(Wiederkehr, Wiederholung eines sprachlichen Zeichens im Text)
die wichtigste Rolle spielt."
(Spillner
1996,
S.249) In diesem Sinne
richtet sich das Interesse "auf das, was im Vielfältigen eines
Textkorpus in charakteristischer Weise gleich bleibt oder
wiederkehrt." (Anderegg
22006., S.375) und dabei vor allem auf die ▪
Wahlmöglichkeiten des Autors im Bereich des Wortschatzes und des
Satzbaus (besonders der Satzstellung)". (Spillner
1996, S.249)
Ziel ist es dabei die Zusammengehörigkeit von Textteilen oder
Texten aufzuzeigen, die "sich in der Art von wiederkehrenden
Mustern" (Anderegg
22006., S.37) manifestiert.
Rhetorische Stilmittel, die dies vor allem leisten, sind z. B.
die
Anapher
(Wiederholung derselben Ausdrücke am Anfang mehrerer Sätze
oder Absätze), die
Epipher (Wiederholung derselben Ausdrücke an Ende mehrerer
Sätze oder Absätze) und der
(grammatische) Parallelismus (Wiederholung einer bestimmten
syntaktischen Struktur). Sie müssen aber im Hinblick auf
ihre Funktion im Kontext und im Vergleich zu anderen
Möglichkeiten sowie im Blick auf den Leser betrachtet werden.
(vgl. Spillner
1996,
S.253) Der
grammatische Parallelismus kann so (stilistisch gesehen) z. B.
folgende verschiedenen Funktionen in einem Text übernehmen. Er
kann "für
Klarheit und logische Gliederung sorgen, er kann Aufzählungen
strukturieren, er kann die leichte Einspeicherung ins Gedächtnis
und Merkfähigkeit sichern, er kann – vor allem in politischen
und religiösen Texten – dem Zweck intensiver Überredung dienen."
(ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
02.07.2024
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