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"Die unterschiedliche Wirkungsweise von Texten ist das
zentrale Thema der literarischen Rezeptionsästhetik. Sie versucht zu
erfassen, welche Qualitäten des Textes und welche Eigenarten des
menschlichen Bewusstseins die verschiedenen Lesearten literarischer Werke
entstehen lassen. [...] Es geht nicht mehr nur um die Frage, was uns der
Leser mitteilen will, sondern auch um die Entdeckungen, die der Leser
macht, wenn er den Text liest. Die Abenteuer des Leser - das ist ihr
Interesse. Kernstück jenes Teils der Rezeptionsästhetik, den Roman
Ingarden und Wolfgang Iser repräsentieren, sind folgende Gedanken: Ein
literarisches Werk ist kein für sich bestehendes Objekt, das jedem
Betrachter zu jeder Zeit den gleichen Anblick bietet. Vielmehr sind Texte
von Unbestimmtheiten gekennzeichnet, das heißt, sie sind nicht auf
eindeutige Ansichten des Textgegenstandes und Sinngehalte festlegbar,
sondern auf die Vorstellungskraft des Lesers angewiesen, der diese
Textgehalte vervollständigen muss, damit Bedeutung und Sinn überhaupt
entstehen kann. Der virtuelle Interaktionsprozess zwischen Text und Leser
wird sowohl von den Textstrukturen als auch von den Erfahrungen und
Werthaltungen des Lesers geprägt. Literatur bildet Wirklichkeit damit
nicht ab, vielmehr entfalten sich ihre Wirklichkeitsangebote erst, wenn
der Leser sie wahrnimmt, aufnimmt und in seiner Phantasie ausmalt. Eine
entscheidende Bedeutung kommt dabei den Unbestimmtheitsstellen zu, die -
metaphorisch gesprochen - die offenen Einfallstore für die Phantasie des
Lesers in den Text sind. Diese Unbestimmtheitsstellen sind nicht sein
Mangel, sondern sein eigentliches Wirkungspotential: Die Wirkung geht von
dem aus, was nicht geschrieben ist. Dieser Prozess des objektiv im Text
verankerten, subjektiv realisierten Potentials ermöglicht und erfordert
es, bisher Unbekanntes aus dem Hintergrund der eigenen
Erfahrungsgeschichte zu beleuchten. Gespeist werden diese Lücken aus dem
Vorrat von Haltungen, Einstellungen und Bildern, über den Leser zum
Zeitpunkt des Leseakts verfügen."
(aus: Martin Lensch, Spielen, was (nicht) im Buche
steht. Die Bedeutung der Leerstelle für das literarische Rollenspiel,
Münster: Waxmann 2000, S.9f.)
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