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"Literarische Gegenstände kommen dadurch zustande, dass
der Text eine Mannigfaltigkeit von Ansichten entrollt, die den Gegenstand
schrittweise hervorbringen und ihn gleichzeitig der Anschauung des Lesers
konkret machen. Wir nennen diese Ansichten im Anschluss an einen von
Ingarden geprägten Begriff "schematisierte Ansichten" [...].
Offensichtlich bedarf es vieler solcher Ansichten, um den literarischen
Gegenstand mit zureichender Deutlichkeit vorstellbar zu machen. [...]
Diese elementare Beschaffenheit des literarischen Textes bedeutet, dass
die "schematisierten Ansichten", durch die der Gegenstand
entrollt werden soll, oftmals unvermittelt aneinander stoßen. Der Text
besitzt dann einen Schnitt. Die häufigste Verwendung dieser
Schnitttechnik findet sich dort, wo mehrere Handlungsstränge gleichzeitig
ablaufen, aber nacheinander erzählt werden müssen. Die Beziehungen, die
zwischen solchen übereinander gelagerten Ansichten bestehen, werden in
der Regel vom Text nicht ausformuliert, obgleich die Art, in der sie sich
zueinander verhalten, für die Intention des Textes wichtig ist. Mit
anderen Worten: Zwischen den "schematisierten Ansichten"
entsteht eine Leerstelle, die sich durch die Bestimmtheit der aneinander
anstoßenden Ansichten ergibt. Solche Leerstellen eröffnen dann einen
Auslegungsspielraum, in der man die in den Ansichten vorgestellten Aspekte
aufeinander beziehen kann. Sie sind durch den Text überhaupt nicht zu
beseitigen.[...] Die Leerstellen eines literarischen Textes sind nun
keineswegs, wie man vielleicht vermuten könnte, ein Manko, sondern bilden
einen elementaren Ansatzpunkt für seine Wirkung. Der Leser wird sie in
der Regel bei der Lektüre des Romans nicht eigens bemerken. Dies lässt
sich für die meisten Romane bis etwa zur Jahrhundertwende sagen. Dennoch
sind sie auf seine Lektüre nicht ganz ohne Einfluss [...]. Der
Leser wird die Leerstellen dauernd auffüllen beziehungsweise
beseitigen. Indem er sie beseitigt, nutzt er den Auslegungsspielraum und
stellt selbst die nicht formulierten Beziehungen zwischen den einzelnen
Ansichten her. Dass dies so ist, lässt sich an der einfachen
Erfahrungstatsache ablesen, dass die Zweitlektüre eines literarischen
Textes oftmals einen von der Erstlektüre abweichenden Eindruck
produziert. Die Gründe dafür mögen in der jeweiligen Befindlichkeit des
Lesers zu suchen sein, dennoch muss der Text die Bedingungen für
unterschiedliche Realisierungen [Hervorh. durch den Verf.]
enthalten. [...] Bekannte Vorgänge rücken nun in neue, ja sogar wechselnde
Horizonte und erscheinen daher als bereichert, verändert und korrigiert. Von
alledem ist im Text selbst nichts formuliert; vielmehr produziert der Leser
diese Innovationen. Das wäre aber unmöglich, enthielte der Text nicht einen
gewissen Leerstellenbetrag, der den Auslegungsspielraum und die
verschiedenartige Adaptierbarkeit des Textes überhaupt ermöglichte. In
dieser Struktur hält der Text ein Beteiligungsangebot an seine Leser bereit.
Sinkt der Leerstellenbeitrag in einem fiktionalen Text, dann gerät er in
Gefahr, seine Leser zu langweilen, da er sie mit einem steigenden Maß an
Bestimmtheit - sei dieses nun ideologisch oder utopisch orientiert -
konfrontiert. Erst die Leerstellen gewähren einen Anteil am Mitvollzug und
an der Sinnkonstitution des Geschehens."
(aus:
Wolfgang Iser,
Die Appellstruktur (1970), in:
Warning
1975, S.234-236, gekürzt)
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