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Wenn es wirklich so wäre, wie uns die 'Kunst der
Interpretation' glauben machen möchte, dass die Bedeutung im Text selbst
verborgen ist, so fragt es sich, warum Texte mit den Interpreten solche
Versteckspiele veranstalten; mehr noch aber, warum sich einmal gefundene
Bedeutungen wieder verändern, obgleich doch Buchstaben, Wörter und
Sätze dieselben bleiben. [...] Bedeutungen literarischer Texte werden
überhaupt erst im Lesevorgang generiert; sie sind das Produkt einer
Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckten Größen, die
aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt: Generiert der
Leser die Bedeutung des Textes, so scheint es nur zwangsläufig, wenn
diese in einer je individuellen Gestalt erscheint. [...]
Wäre ein literarischer Text wirklich auf eine bestimmte Bedeutung
reduzierbar, dann wäre er Ausdruck von etwas anderem - von eben dieser
Bedeutung, deren Status dadurch bestimmt ist, dass sie auch unabhängig
vom Text existiert. Radikal gesprochen heißt dies: Der literarische Text
wäre die Illustration einer ihm vorgegebenen Bedeutung. So wurde denn
auch der literarische Text bald als Zeugnis des Zeitgeistes, bald als
Ausdruck von Neurosen seiner Verfasser, bald als Widerspiegelung
gesellschaftlicher Zustände und als anderes mehr gelesen. [...]
Wir aktualisieren den Text durch Lektüre. Offensichtlich aber muss der
Text einen Spielraum von Aktualisierungsmöglichkeiten gewähren, denn er
ist zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Lesern immer ein wenig
anders verstanden worden [...].
(aus:
Wolfgang Iser,
Die Appellstruktur (1970), in:
Warning
1975, S.229f.)
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