Nicht-normative Gattungskonzepte stellen Gattungen in ihren historischen
und kommunikativen Kontext
Bei der Einteilung (Klassifikation) literarischer Werke in
Gattungen
kann man nach
Wilhelm
Voßkamp (1992) die nicht-normativen Gattungskonzepte
von den ▪ normativen Gattungskonzepten
unterscheiden.
Nicht-normative Gattungskonzepte
-
betonen die historische Bedingtheit (Entstehung,
Kontext) der Gattungen
-
sehen in Gattungen "historisch bedingte
Kommunikations- und Vermittlungsformen"
-
betrachten Gattungen "als soziokulturelle,
literarisch-soziale Konsensbildungen und nicht als normative,
transgeschichtliche Formkonstanten" (Wilhelm
Voßkamp (1992, S.256)
Wichtige moderne
Gattungstheorien folgen nicht-normativen Ansätzen
Man kann die modernen Gattungstheorien von drei verschiedenen nicht-normativen
Ansätzen geprägt sehen:
Strukturalistischer Ansatz
Vertreter:
Merkmale/Ziele: Untersuchung von Textkonstanten und ihrer Abweichungen, um eine
literarische Typenbildung zu ermöglichen
Kritik:
-
Art und Grad der Verknüpfung der literarischen und
sozial-historischen Entwicklung mit Entstehung und Ausformung
bestimmter Gattungen nicht hinreichend geklärt
-
Verwendung von ahistorischen Konstanten im Kontext der
Gattungsentwicklung (absolute, überzeitlich geltende Invarianten
und historische Variable)
Vertreter:
vor allem »Hans Robert Jauß
(1921-1997) (hermeneutisch fundierte
Rezeptionstheorie) und »Wolfgang Iser
(1926.2007) (phänomenologisch
fundierte Rezeptionstheorie)
Merkmale/Ziele Analyse von Gattungen unter dem Aspekt wechselseitiger
Komplementarität von historisch unterschiedlichen Erwartungen der
Leser und den Werk-»Antworten«, die zugleich wieder einen
Erwartungshorizont erzeugen
Kritik:
-
»Erwartungs«- und »Horizont«-Begriff allein können
die vielfältigen Beziehungen zwischen den historisch
bedingten Gattungstypen (Fiktion) und der sozialen Realität nicht
hinreichen erklären.
-
Hinzuziehen sind daher leser- und publikumsoziologische
Untersuchungen und sozial- und funktionsgeschichtlichen Ansätze.
Sozial- und funktionsgeschichtlicher Ansatz
Vertreter:
»Wilhelm Voßkamp
(geb. 1936)
Merkmale/Ziele:
-
"Beschreibung der Selektionsstruktur literarischer
Gattungen"
-
"Bestimmung des Verhältnisse
zwischen der relativen literarischen Autonomie jeder Gattung und ihrer
jeweiligen Sozialabhängigkeit und Zweckbedingtheit"
(vgl.
Wilhelm
Voßkamp (1992), S.256-259)
Aufgaben einer sozial- und funktionsgeschichtlich orientierten
Gattungstheorie
"Zu den Aufgaben einer sozial- und funktionsgeschichtlich
orientierten Gattungstheorie gehört die Beschreibung der
Selektionsstruktur literarischer Gattungen wie auch die genaue Bestimmung
des Verhältnisses der relativen literarischen Autonomie einer einzelnen
Gattung zu ihrer jeweiligen Sozialabhängigkeit und Zweckbedingtheit. Literarische Gattungen sind in besonderer Weise durch ihre
Selektionsstruktur charakterisiert, bei der die vorhandenen, dominanten
Text- und Lesererwartungskonstanten eine entscheidende Rolle spielen.
Selektiv verhalten sich literarische Gattungen einerseits zum
literarischen, andererseits zum sozialen Kontext, so dass die
literarhistorische und realgeschichtliche Konstellation jeweils präzise
angegeben werden muss [...]. Systemtheoretisch lässt sich bei literarischen Gattungen [...] von einer
Reduktion gegenüber der Komplexität des literarischen Lebens und der
sozialen Wirklichkeit sprechen. [...] Die Herausbildung literarischer Gattungen kann als Folge eines
Auskristallisierens, Stabilisierens und institutionellen Festwerdens
dominanter Strukturen beschrieben werden. [...]" (ebd.,
S.258f.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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