Bis
in unsere Tage hinein wird das ▪ Sonett wegen seiner strengen
Form und seines antithetischen Baus als Idealform des Kunstgedichtes angesehen.
Produktionsästhetisch betrachtet stellt, wie
Waldmann
(1998, S.259f.) darstellt, "die komplizierte Aufbauform (...) hohe
Anforderungen an die Formgestaltung und kann dazu führen, dass die Erfüllung
der Formforderungen zu viel Gewicht erhält, wenn nicht gar Selbstzweck
wird."
Und auch die starke Betonung des Reims wirkt heute etwas antiquiert.
Und zuguterletzt scheint auch eine Form, die so sehr durchkomponiert,
gegliedert und geschlossen daherkommt, nicht besonders gut geeignet
problematische Themen zu gestalten, denn hier könnte dies "eine unangemessen
glättende und harmonisierende Wirkung haben." (ebd.)
Das hat der Sonettform im 20. Jahrhundert aber nicht wirklich geschadet,
denn Sonette sind auch immer wieder verwendet worden, um gesellschaftliche
Probleme darzustellen. So haben expressionistische Lyriker auch mit Sonetten
ihre Kritik an Zeit und Kultur artikuliert: "die industrielle
Arbeitswelt (z.B. Paul Zech) und die politische und soziale Revolution
(z.B. Rudolf Leonhardt) zum Gegenstand; während der Zeit des Faschismus
drückt es im Exil (z.B. Brecht, Becher) und im deutschen Widerstand (z.B.
Reinhold
Schneider) u. a. den Protest gegen die Gewaltherrschaft aus; in
der Bundesrepublik formuliert es seit den sechziger Jahren engagierte
Sozial- und Systemkritik. Die äußere Form des Sonetts wurde dabei
allerdings nicht selten abgebaut. [...]"(ebd.)
Wenn moderne Lyriker Sonette verfassen, tun sie dies häufig unter
Verzicht auf den Reim. Sie verwenden stattdessen freie Rhythmen oder freie
Verse ohne Reim. Im Übrigen hat, worauf
Waldmann
(1998, S.259f.) dabei hinweist, schon
▪ Andreas Gryphius
(1616-1664), einer der wichtigsten Sonettdichter in der ▪
Literaturepoche
des ▪
Barock (1600-1720) hatte ein reimloses Sonett geschrieben.
Auch wenn ein ungereimtes
Sonett, das in freien Versen verfasst ist, nach Waldmann "einen Teil der es
- vor allem über den Reim - bestimmenden Formmerkmale (verliert)", mit der
Beibehaltung der Strophenform weise es aber noch so viel an spezifischen
Merkmalen seiner inneren Form auf, dass es immer noch als lyrische Form
deutlich bestimmt ist und ertragreich sein könne. (vgl.
ebd)
Dies wird z. B. an dem nachfolgenden "Ehegedicht"
von Günter Herburger deutlich, das die Aufteilung in Quartette und
Terzette nutzt und dabei seinen Gedanken über die psychosoziale Entwicklung
der Ehepartner in zeitgenössischen Ehen zum Ausdruck bringt.
Geliebt haben wir uns,
dass das Gras um uns sich entzündete.
doch die Glut schadete uns nicht,
so selbstvergessen waren wir.
Verfolgt haben wir uns,
dass wir uns bis ins Mark trafen,
doch die Wunden schlossen sich wieder,
da kein Blut aus ihnen kam.
Seitdem wir uns aber geeinigt haben,
zusammen alt zu werden,
verwandelt sich die Liebe in Behutsamkeit
und das Blut, das mitunter
nun aus den Rissen quillt, schmerzt
Tropfen um Tropfen wie heißes Wachs.
(aus: Günter Herburger, Ziele. Gedichte, Reinbek: Rowohlt 1977, S.52)
