▪
Gattungen und
Gattungsbegriffe: Die Basics
▪
Gattungen unter sozial- und funktionsgeschichtlicher
Perspektive
▪
Gattungen und Gattungsbegriffe im
schulischen Literaturunterricht
▪ Kohärenzbildung über mentale Modelle, kognitive Schemata und literarische
Konventionen (Gattungen)
»fulgura frango (Robert Wohlleben)
Was ein ▪
Sonett ist, was es produktions- und
rezeptionsästhetisch ausmacht, ist Gegenstand eines sich über
Jahrhunderte hindurchziehenden Diskurses, der zu so manchen "Sonettenkriegen"
zwischen seinen Befürwortern und Gegnern geführt hat.
Kaum einer der
namhaften Dichter, Literaturkritiker und sich sonstwie zum Urteil
darüber berufen fühlenden Intellektuellen hat es ausgelassen, sich
gegenüber dem Sonett zu positionieren, um die eigenen ästhetischen
und oft auch weltanschaulichen Vorstellungen auch an dieser
lyrischen Form,
ihrer Verteidigung, Modifizierung der Ablehnung, zu verdeutlichen.
Wie kaum eine
andere lyrische Form besitzt das Sonett ein "dichtes intertextuelles
Verweisnetzwerk" (Jordan
2008, S.49), in dem "häufig auf Traditionen der Gattung
angespielt und in Sonetten über das Sonett die eigene Struktur
reflektiert (wird)" (ebd.).
Eine besonders ausgeprägte Intertextualität über Jahrhunderte hinweg
gehört zu dieser lyrischen Form, bei der sich jeder Autor bzw. jede
Autorin bis heute "bewusst in eine starke Traditionslinie (stellt)"
und sich gestellt sieht. (ebd.)
Das gilt auch dann,
wenn man sich z. B. wie »Robert
Gernhardt (1937-2006) eines Sonetts bedient, um die Aussage zu
exponieren "Ich tick es echt nicht. Und wills echt nicht wissen: /
Ich find Sonette unheimlich beschissen." Sein Sonett
»Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform
italienischen Ursprungs (1979) (»Text)
ist aber nur vordergründig eine mit vulgären Wörtern gespickte
Schmährede des lyrischen Ichs auf Sonette, sondern ironisiert damit die Auffassungen des lyrischen Ichs, das
offenkundig in einem »performativen
Widerspruch gar nicht erkennt, dass es die Form nutzt, um seine
Ablehnung zu exponieren.
So ist auch in
diesem Fall die Verwendung des Sonetts, was es eigentlich schon
immer "fast von Beginn an – spätestens seit Dante und Petrarca –"
gewesen ist, nämlich "auch in hohem Maße explizites Formzitat und
bis heute hat sich daran nichts geändert." (Jordan
2008,
S.49f.)
Die
Gattungsgeschichte des Sonetts hier nachzuzeichnen sprengt den
Rahmen und ist Gegenstand einer umfangreichen
literaturwissenschaftlichen Forschung. Hier müssen, gemessen daran,
was die Forschung dazu erbracht hat, wenige Anmerkungen reichen, um
in einer subjektiven Auswahl von Gesichtspunkten einen gewissen
Überblick über das Sonett als lyrische Form zu erhalten. Dabei ist
die angenommene literaturdidaktische Bedeutung des jeweiligen
Aspekts die Grundlage für seine Auswahl, ohne diese in jedem Fall
einzeln zu begründen.
Ausgangspunkt ist
dabei die Überzeugung, dass auch beim Sonett von einem ▪
nicht-normativen
Gattungskonzept auszugehen ist, das "den historischen Charakter
literarischer Gattungen im Sinne soziokultureller Konventionen" (Wilhelm
Voßkamp 1992, S.253) betont und sich an struktur-,
sozial- und funktionsgeschichtlichen Kontexten orientiert. Dies
entspricht auch "neuesten Entwicklungen in der Sonettforschung", die
"zu einem flexiblen und kommunikativ orientierten Formverständnis
geführt" haben (Jordan
2008, S.42) Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, "dass die
festen Regeln, die in normativen Theorie propagiert werden, in der
sonettistischen Praxis nicht bestätigt, sondern – im Gegenteil –
widerlegt werden." (ebd.,
S.38, dort Bezug auf
Greber
1994, S.57f.)
Wenn es wie
Borgstedt (2001) darstellt, kein einzelnes unverzichtbares Merkmal
gibt, das den Gattungscharakter eines Sonetts über die Jahrhunderte
hinweg betrachtet, sichern könnte, kommt es darauf an, jene
kombinatorischen Merkmale zu bestimmen, die, auch wenn sie
einzeln und in ihrer Kombination veränderbar sind, ermöglichen, den Text als Sonett zu identifizieren und damit von
anderen lyrischen Formen zu unterscheiden. (vgl. (ebd.,
S.41)
Die Behandlung von
▪ Sonetten im Literaturunterricht der Schule
beschränkt sich meist auf die ▪
Literaturepoche
des ▪
Barock (1600-1720), in der sich die ▪
Liebeslyrik und die ▪
Vanitas-Dichtung gleichermaßen vor allem der Sonettform
bedienen. Die Auswahl der Sonette, die dabei üblicherweise im
Literaturunterricht behandelt werden, entsprechen dabei
gattungshistorisch betrachtet nur einem bestimmten Typ des Sonetts.
Wenn im Unterricht
lediglich Sonette aus einer bestimmten Literaturepoche behandelt
werden, kann dies zu einem ahistorischen und normativen
Gattungsverständnis führen. Im Falle barocker Sonette kann
also leicht der Eindruck entstehen, es bilde einen überzeitlichen
Bezug von Form und Inhalt in geradezu mustergültiger Weise ab.
Was ein Sonett ist,
welche Merkmale und Strukturen es als eine unverwechselbare
Textsorte, Gattung oder Genre qualifizieren, ist bis heute
umstritten.
-
Hans-Jürgen
Schlütter (1979) in seiner nicht-normativen, integrativen
Sonettheorie betont, dass über die nicht "aufgebbare Formsubstanz
des Sonetts" kaum mehr als das Folgende gesagt werden könne, nämlich: "dass es ein sich geschlossenes Gedicht
vorbestimmter Begrenzung ist, von dem wir eine sinnvolle Beziehung
zwischen innerer Bewegung und strophischer Gliederung erwarten, der
traditionellen oder einer – als solchen erkennbaren – Variation." (Schlütter
1979, S.7f.) Unverzichtbar dafür, dass ein Sonett als Sonett
identifizierbar ist, erscheint Schlütter die Versgruppierung in den
vier Sonettstrophen. In welcher Weise "der Sonettdichter diesem
Formgebot nachkommen soll", regelten bestimmte Poetiken.
-
Andere
Sonetttheorien wie z. B. die von Dirk
Schindelbeck (1988)
heben, vor
allem für die Sonettdichtung des 20. Jahrhunderts, auf die innere
Struktur als wichtigstes Gattungsmerkmal ab.
-
Erika
Greber
(2002) geht prinzipiell von keiner festen Form aus und sieht im Sonett eine "genuin kombinatorische Gattung",
was zugleich das Erfolgsrezept für "seine jahrhundertelange Faszination, seine Langlebigkeit, Internationalität,
Anpassungsfähigkeit und immer wieder erneuerbare Modernität" sei. (Greber
2002, S.599)
-
Andreas
Böhn (1999, S.137) plädiert für einen an dem ▪
Prototypenkonzept
orientierten Sonettbegriff, der von der
Familienähnlichkeit
bestimmter Texte ausgeht und damit ein Feld von Texten beschreibt,
"innerhalb dessen zudem bestimmte
Prototypen als Attraktoren
fungieren, um die herum sich die Bezüge verdichten."
Der Prototypenansatz lässt sich vor allem bei der Beschäftigung
mit ▪ Gattungsfragen im schulischen
Literarunterricht verfolgen, wenn in der Konkurrenz der
"Literaturwissenschaftsdidaktik versus Literaturdidaktik" (Köster
2015, S.60 unter Bezugnahme auf
Pflugmacher
2014, S. 157f.) der Schwerpunkt auf die Literaturdidaktik gelegt
wird. Die Entscheidung zugunsten einer eher an der
Ganzheitlichkeit ästhetischer Erfahrung ansetzenden "Prototypendidaktik"
(vgl. u. a.
Spinner 2006,
Köster 2015)
sieht sich dabei in einem klaren Gegensatz zur ▪
"klassischen" Gattungsdidaktik.
Unterschiedliche Lesarten von Sonetten
Wie bei allen
mehrdeutigen literarischen Texten gibt es auch für
Sonette unterschiedliche Lesarten. Dies gilt
gleichermaßen für die aktuelle und die jeweils zeitgenössische
Rezeption der Texte.
So ist
davon auszugehen, dass zum Beispiel im ▪
Barock (1600-1720) vielen Rezipient*innen bei der öffentlichen
Rezitation der Texte in höfischer Gesellschaft die ausgeklügelte
Zahlenkomposition, die den »Lissaer
Sonetten von ▪ Andreas
Gryphius (1616-1664) zugrundeliegt (vgl.
Kaminski 1998, S.60f..), nicht bewusst gewesen ist. In der
gelehrten Rezeption der Texte ist dies hingegen anders, weil den
Gelehrten die aus dem Mittelalter stammende Zahlenallegorese sicher
geläufig war. Ebenso wird es für die gelehrten Leser auch ein
Leichtes gewesen sein, den heilsgeschichtlichen Zusammenhang der
Sonette aufgrund ihrer Kenntnis des Gesamtwerkes problemlos
herzustellen. (vgl.
Meid
2008, S.102).
Viele werden
Sonette wohl aber auch nur dann als "gut und schön" geschätzt haben,
"wenn sie – als in sich gerundete Gebilde – aus ihrem Zusammenhang
isoliert werden" konnten. Mit Sonetten, die nur im Zusammenhang
verständlich" waren, konnten sicher viele nichts anfangen (Mönch
1955, S.38). Daraus allerdings abzuleiten,
"Geschlossenheit und Selbständigkeit" (ebd.,
S.39) sei grundsätzlich eines der wesentlichen Merkmale eines
Sonetts, schießt über das Ziel hinaus.
Der Gedächtnisraum der Gattung
Blickt man bei der
Sonettdichtung über die ▪
Literaturepoche
des ▪
Barock (1600-1720) mit der ▪
petrakistischen Liebeslyrik und der ▪
Vanitas-Dichtung hinaus, kann auch die Entwicklung der
Gattung und ihr "dichtes intertextuelles Verweisnetzwerk" (Jordan
2008, S.49), in dem "häufig auf Traditionen der Gattung
angespielt und in Sonetten über das Sonett die eigene Struktur
reflektiert (wird)" (ebd.), sehr interessante Aspekte zur Behandlung von Sonetten im
Literaturunterricht bereithalten.
Richtet sich die Aufmerksamkeit
darauf, kann nämlich ein über mehrere Jahrhunderte hinweg intertextuell
eingeschriebener "Gedächtnisraum" der Gattung sichtbar
werden. Dieser "Gedächtnisraum" ist als ein Katalog
thematischer und struktureller Topoi zu verstehen, auf die Sonettisten, wie man die Produzent*innen der Gattung nennt, über
Jahrhunderte hinweg bis in unsere Gegenwart zurückgegriffen haben
Denn: "Wer ein Sonett schreibt, stellt sich [...] bewusst in eine
starke Traditionslinie und kann und will nicht erwarten, dass von
dieser abstrahiert wird. Die Verwendung des Sonetts ist fast von
Beginn an – spätestens seit Dante und Petrarca – immer auch in hohem
Maße explizites Formzitat und bis heute hat sich daran nichts
geändert." (ebd.,
S.49f.)
Auch die neuere
Sonettforschung orientiert sich an "einem flexiblen und
kommunikativ orientierten Formverständnis " (Jordan
2008, S.42). Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, "dass die
festen Regeln, die in normativen Theorie propagiert werden, in der sonettistischen Praxis nicht bestätigt, sondern – im Gegenteil –
widerlegt werden." (ebd.,
S.38, dort Bezug auf
Greber
1994, S.57f.)
Merkmale des Sonetts in der traditionellen Gattungstheorie
Die klassische
Gattungstheorie, wie sie z. B. die Monographie
Walter Mönchs (1955) repräsentiert, geht von einem mehr oder
weniger überzeitlichen Gattungsverständnis aus. Das "Wesen des
Sonetts"
(Mönch 1955, S.9) umfasst dabei bestimmte äußere Merkmale
wie das Metrum und die Reimanordnung, aber auch die innere Struktur
des Gedichts, in der er ganz ähnlich wie z. B. die Romantiker mit ▪
August Wilhelm Schlegel (1767-1845), "Kräfte geheimer Faszination" (ebd.,
S.33) wirken sieht.
Die
lyrische Form
des Sonetts (ital. sonetto = kleiner Tonsatz von lat. sonare = klingen) ist
danach ein Reimgedicht mit einer bestimmten Strophenform.
-
Ein Sonett besteht aus zwei Quartetten
(zwei vierzeilige Strophen) und zwei Terzetten (zwei dreizeilige Strophen).
-
Durch die vorhandene Zäsur zwischen den Quartetten und Terzetten
eignet sich das Sonett besonders
gut für die Gedankendichtung mit ihren Strukturen wie Satz (These) und Gegensatz
(Antithese), Frage und Antwort, Problem und Lösung, Erlebnis und allgemeine
Anwendung, Gedankenspiel und Fazit (vgl.
Bantel 1963,
S.84)
Nach
Walter Mönch (1955, S,16) lassen sich vier ▪ Grundtypen des Sonetts
unterscheiden. Die unterschiedliche Art der Reimverschränkung fußt dabei
auf verschiedenen historischen Traditionen.
Die Aufteilung eines Sonetts in zwei Quartetten und zwei
Terzette ist von besonderer Bedeutung, weil sie, wie
Freund
(1990, S.15f.) betont, "der argumentativen Gedankenführung nach dem
▪ vierfachen Schriftsinn wie keine andere lyrische Dichtart entgegen(kommt)."
Der Erkenntnisgewinn des Gedankenganges, den ein Sonett gestaltet und beim
Rezipienten ermöglichen will, sei dabei nämlich ganz streng auf je eine
Sonetteinheit verteilt: "Der Wortsinn auf das erste Quartett, der
allegorische Sinn auf
das folgende und der moralische Sinn auf das erste Terzett, gefolgt im
abschließenden Terzett vom heilsgeschichtlich-anagogischen Sinn. Die Zäsur zwischen den Vier- und
Dreizeilern entspricht im wesentlichen der wachsenden Distanzierung vom
Vordergründig-Irdischen. Entwickelt sich der allegorische Sinn noch ganz aus
dem Wortsinn, so hebt der moralische Sinn schon von der Bindung an das
Weltliche ab und bereitet die Transzendierung als Ziel des
Argumentationsprozesses vor." (ebd.)
So klar und stringent wie sich die Gedankenführung im Aufbau eines
Sonetts niederschlägt, zeigt sie sich auch bei Klang und Betonung etc.
("prosodische und klangliche Organisation"). So ist nach
Freund
(1990, S.15f.) "der breit
ausladende
Alexandriner, mit seinen zwölf Silben ungewöhnlich lang für eine
Gedichtzeile, (...) das angemessene Medium gedanklicher Auseinanderfaltung." Dabei verwiesen "die identischen Reimpositionen und die streng durchgeführte Zweireimigkeit
in den Quartetten (...) auf den Zusammenhang von Wortsinn und
allegorischer Auslegung, auf die irdische Verknüpfung von Erscheinung und
Wesen." (vgl.
ebd.)
Allerdings haben viele
Sonettdichterinnen und -dichter, man hat sie auch gerne Sonettisten genannt,
ein Stück weit darunter gelitten, dass das Sonett eine so schwierig zu
gestaltende lyrische Form war. Daher ist auch früher immer wieder "mit dem
»Prokrustesbett« verglichen worden, nach dessen engen Maßen Gedanken, Worte
und Zeilen gereckt werden müssten; immer sei das Bett unpassend und die »die
Sclaverey mit den Reimen« ([Christian]Weise
[1642-1708]) laste wie ein Joch auf dem Dichter." (Mönch
1955, S.39) Ein drastisches Bild: »Prokrustes,
ein Riese und Wegelagerer aus der griechischen Mythologie "bot nämlich der
Sage nach Reisenden ein Bett an, aber in manchen Sagen zwang er auch
Wanderer, sich auf ein Bett zu legen. Wenn sie zu groß für das Bett waren,
hackte er ihnen die Füße bzw. überschüssigen Gliedmaßen ab; waren sie zu
klein, hämmerte und reckte er ihnen die Glieder auseinander, indem er sie
auf einem Amboss streckte." (Wikipedia)
Das Sonett kommt im 18. Jahrhundert zunächst nahezu gänzlich aus der Mode.
Zwar wandten sich auch »Friedrich
Gottlieb Klopstock (1724-1803), »Johann
Jakob Bodmer (1698-1783) und sogar »Gotthold
Ephraim Lessing (1729-1781) durchaus auch »Francesco
Petrarca (1304-1373) zu, aber "die Periode der
Oden-,
Dithyramben- und
Hymenpoesie
(war) keine günstige Zeit für das Sonett. Lessing wusste mit der Gattung
nicht viel anzufangen;" und »Johann
Christop Gottsched (1700-1766) "verachtete es samt den Sonettisten" (Mönch
1955, S.139) und sprach sogar von "poetische(m) Unrat" (zit. n.
Schlütter 1979, S.14) bzw. einem "künstlich gebaute(n) Kartenhaus"
(zit. n.
Jordan 2008, S.46)
Erst mit der ▪
Literaturepoche der ▪
Romantik
(1798-1835) gewinnt die Sonettdichtung wieder an Boden. ▪
August Wilhelm Schlegel
(1767-1845), der später mit seinem Bruder »Friedrich
Schlegel (1772-1829) Herausgeber der
romantischen Zeitschrift "»Athenaeum"
gewesen ist, stilisierte in der deutschen ▪
Romantik (1798-1835) das
Sonett zur idealen lyrischen Form, indem er die formale Gliederung des
Sonetts in Quartette und Terzette dialektisch ausdeutete. (vgl.
Borgstedt
2007a, S.448)
Gegen diese normative
Stilisierung der Gattung, deren poetische Umsetzung von ▪
August
Wilhelm Schlegel (1767-1845) als ein "Bravourstück, worin sich der
Virtuose" (zit. n.
Jordan 2008,
S.46) zeigen könne, bezeichnet wurde, haben sich schon im sogenannten
"Sonettkrieg" Anfang des 19. Jahrhunderts etliche Gegner des romantischen
Sonettkonzeptes in Stellung gebracht, bei denen sich beide Seiten mit
Satiren überhäuften, um die Haltlosigkeit der Position des jeweils anderen
der Lächerlichkeit preiszugeben.
In der Kontroverse konnte das Sonett in seiner
strengen Form "als Beispiel für traditionsverpflichteten Kunstanspruch, aber
auch für Künstlichkeit fungieren, als zu enges Korsett poetisch gewordener
Eingebung (zum Topos geworden durch »Johann
Wolfgang von Goethes (1749-1832) »▪
Das Sonett«."
(Borgstedt
2007a, S.448) Was den einen also "gezwungener Schellenklang" war
(Gottsched), konnte anderen wie z. B. »Johannes
R. Becher (1898-1951) 150 Jahre später – immer noch oder wieder – als
"Sinnbild einer Ordnungsmacht / als Rettung vor dem Chaos" (Becher
1947, S. 6, zit. n.
Jordan 2008,
S.47) erscheinen.
Bis
in unsere Tage hinein sieht man das Sonett allerdings wegen seiner strengen
Form und seines antithetischen Baus als Idealform des Kunstgedichtes an.
Produktionsästhetisch betrachtet stellt, wie
Waldmann
(1998, S.259f.) darstellt, "die komplizierte Aufbauform (...) hohe
Anforderungen an die Formgestaltung und kann dazu führen, dass die Erfüllung
der Formforderungen zu viel Gewicht erhält, wenn nicht gar Selbstzweck
wird." Und auch die starke Betonung des Reims wirkt heute etwas antiquiert.
Und zuguterletzt scheint auch eine Form, die so sehr durchkomponiert,
gegliedert und geschlossen daherkommt, nicht besonders gut geeignet,
problematische Themen zu gestalten, denn hier könnte dies "eine unangemessen
glättende und harmonisierende Wirkung haben." (ebd.)
Das hat der Sonettform im 20. Jahrhundert aber nicht wirklich geschadet,
denn Sonette sind auch immer wieder verwendet worden, um gesellschaftliche
Probleme darzustellen. So haben expressionistische Lyriker auch mit Sonetten
ihre Kritik an Zeit und Kultur artikuliert: "die industrielle
Arbeitswelt (z.B. Paul Zech) und die politische und soziale Revolution
(z.B. Rudolf Leonhardt) zum Gegenstand; während der Zeit des Faschismus
drückt es im Exil (z.B. Brecht, Becher) und im deutschen Widerstand (z.B.
Reinhold
Schneider) u. a. den Protest gegen die Gewaltherrschaft aus; in
der Bundesrepublik formuliert es seit den sechziger Jahren engagierte
Sozial- und Systemkritik. Die äußere Form des Sonetts wurde dabei
allerdings nicht selten abgebaut. [...]"(ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
01.01.2022
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