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Es ist unvorstellbar, wie sie entstehen, ganze new-yorker Stadtteile müssen an
ihnen arbeiten. Und so ziemlich alle sind gleichartig, mit »I love you« und »blue«
und dem ganzen Kram. Zur Zeit sind sie wohl außerordentlich gefühlvoll. Was für
ein Gefühl ist das –?
Es ist eine konfektionierte Lyrik, die über den großen Städten schwebt. Sie
bedient sich zum Teil alter Formen – aber der Inhalt ist ein pochendes
Maschinenherz. »Du machst mich so traurig – du machst mich so froh –«, aber das
ist gar nicht wahr, der Sänger glaubt es auch nicht; er bekommt gut bezahlt,
wenn er den nötigen weichen Kehlkopf einstellt, und die Hörer wissen auch, dass
das alles nicht wahr ist, doch entspannt es nach Geschäftsschluß recht angenehm,
und es läßt sich gut danach tanzen. Diese Musik klingt so süß, aber sie ist,
wenn man näher hinhört, glashart und sehr spröde, sie gibt nichts her, sie will
ein Schlager sein, nach Geschäftsschluß.
Das geht über die Welt, alle Leute singen es, sicherlich kann man in den Straßen
Kantons und Rio de Janeiros dieselben Melodien hören ... es ist eine Musik
zwischen den Geschäften, keine Musik der Geschäfte ... doch, auch eine Musik der
Geschäfte. Wenn die Börse trällern könnte: so sänge sie.
Hoch über den Antennen, die diese Musik versenden, zittert die Lyrik der Welt.
Wurzellos ist das, diese Musik hat kein Vaterland, nur einen Herstellungsort:
sie ist nicht geboren, sie ist Copyright. Der sie gemacht hat, glaubt kaum an
sie; der sie vertreibt, schon gar nicht – der Hörer auch nicht so recht ... sie
ist ein Gebrauchsgegenstand. Wie Kaugummi.
Doch denke ich manchmal: wie müssen Menschen beschaffen sein, die sich das
abends vorspielen lassen? Wie also sind wir beschaffen?
Es sind Menschen, die wohnen in der Stadt, und einen Garten haben sie nicht.
Doch sehen sie manchmal gerührt in einen kleinen künstlichen Garten aus
Stoff-Pflanzen und Papierbäumen, der steht in einer Glaskugel, und die Hände
dieser Menschen gleiten mit einer Zärtlichkeit, die sie sonst nicht verschenken,
über die glatte Kugel des Glases ... das ist ihre Poesie. Übrigens denken sie
sich nichts weiter dabei, und so verwickelte Sachen schon gar nicht. »Stell mal
das Grammophon an, Barbara!« Barbara stellt es an.
Und es erhebt sich eine Haaröl-Stimme, ein Kerl singt, dem wimmert es nur so aus
der Kehle, er hat sozusagen ein Bett-Timbre, samten entquillt ihm die Liebe,
denn er hat einen guten Scheck bekommen. Es ist so eine unpersönliche
Zärtlichkeit, die dieser Stimme entströmt, sie richtet sich an niemand, und
daher sind alle sehr gerührt. Nein, gerührt nicht – nur leicht angerührt. Und
weil die Musik dazu »Tschucktschuck – tschuck-tschuck-tschuck« macht, so tanzen
sie ein bißchen, im Atelier oder sonstwo. Was singt der Mann da –?
Fleißige junge Damen, die sonst nichts zu tun haben, sitzen mit Bleistift und
Papier vor dem Apparat und notieren sich die bedeutenden Worte, jene
Kombinationen von »I love you« und »happiness«, ein immer wechselndes
Kaleidoskop. So berühmt möchte ich auch einmal sein – sieh doch, wie sie
notieren und schreiben und sich die Platte vierundsechzigmal vorspielen lassen,
damit ihnen auch kein kostbares Wort verlorengehe! Und wenn sie es glücklich
herausbekommen und alles aufgeschrieben haben, dann verlieren sie den Zettel,
inzwischen aber können sie den Text auswendig, und sie singen ihn mit, bis er
von einem neuen Text abgelöst wird, in dem der Sänger versichert, er sei froh,
weil er eben so traurig sei, und alles durch you-hou ... Einer singt und sagt
»Goldnen Juni-Tagen«, aber es ist kein Gold und kein Juni und keine Tage ...
solche schönen Lieder sind das.
Doch darf man diese Gebrauchsmusik, die es immer gegeben hat, nie mit dem
einfachen Ohr hören. Es gehört noch eine andere Art Ohr dazu, sie ganz und gar
aufzunehmen. Gebrauchsmusik wird nur von den Mitlebenden verstanden – daher ist
es unmöglich, alte Operetten völlig aufzufrischen, selbst ganze Teile von
Offenbach sind verstaubt, dahin, klanglos trotz allen musikalischen Charmes.
Warum? Weil wir nicht mehr mit dem Zylinder auf dem Kopf hinter die Kulissen
gehn und den kleinen Ballettmädchen Ringe schenken – weil sich die Formen, nicht
die Geschlechter, wohl aber die Formen der Liebe gewandelt haben – und diese
alten Walzer klingen auf einmal so einfach. Aber sie waren es nicht. Der
Komponist der Gebrauchsmusik hatte nur nicht alles in seinen Schlager
hineinlegen können, er hatte den Zeitgenossen mit dem Ellbogen angestoßen und
ihm zugezwinkert: »Du weißt doch ... du weißt doch ... « und der Zeitgenosse
wußte. Wir wissen nicht mehr.
Doch wissen wir genau, was es mit den amerikanischen Schlagern auf sich hat.
Diese Lieder stellen sich dumm – es ist das äußerste Raffinement, mit dem etwa
eine sehr elegante Frau ›ein ganz einfaches Kleid‹ anzieht, eines, an dem nun
überhaupt nichts mehr dran ist – so ganz einfach, wissen Sie? Kostet viel Geld,
das Kleid. Die Lieder stellen sich kindlich – simpel – jugendlich – sie sind es
gar nicht. Sie sind alt wie der Wald, traurig, jammervoll leer, weil alles nur
in sie hineingepumpt ist ... Liebe aus Blech. Und doch ist da etwas.
Es ist das Zeitgefühl, eben jenes von 1931, eben jenes, das abgearbeitete
Menschen haben, wenn sie sich abends dadurch ausruhen wollen, dass sie sich
nicht ausruhen. Gefühle zerbröckeln, es schwingt etwas, einer singt von ihren
schönen braunen Augen, doch es sind die Augen eines Schaukelpferds, Puppenliebe
und Affentheater, und doch ist alles echt, weil es so wunderschön falsch ist.
Hoch über den Antennen aber, die diese Musik versenden, zittert die Lyrik der
Welt.Peter Panter (= Kurt Tucholsky
Vossische Zeitung, 05.09.1931, Nr. 418.
(Quelle:
http://www.textlog.de/tucholsky-lyrik-antennen.html )
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