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Gebrauchstexte

Überblick

 
 
 

In der Literaturwissenschaft der Gegenwart gilt die traditionelle Einteilung literarischer Texte in epische, dramatische und lyrische Texte als einzige Gattungen der Dichtung/Literatur schon seit längerer Zeit als überholt (vgl. Abraham/Kepser 22006, S.32). Bei seiner Überwindung ist nicht selten auch das ganze systematisch-klassifikatorische System in Frage gestellt werden, zumal die ursprünglich auf philosophischen und anthropologischen Grundannahmen beruhende triadische Einteilung (Epik, Lyrik und Drama) im Grunde genommen alle jene Texte "im Grenzbereich der Literatur" (Nickisch 1996, S.357).  als nichtliterarische aus dem Bereich der "Dichtung" vervies, die "aufgrund einer bestimmten Verwendungsweise und Ausgestaltung literarischen Institutionen dienstbar gemacht wurden und werden". (ebd.). Vor allem Friedrich Sengle (1910-1994) ist es zu dabei zu verdanken, dass ab 1966/67 die Meinungshoheit der die reine "Dichtungswissenschaft" bevorzugenden Literaturwissenschaftler wie »Emil Staiger (1908-1987) und »Wolfgang Kayser (1906-1960) (→normative Gattungskonzepte) allmählich zugunsten eines erweiterten Literaturbegriffs verloren ging. Damit  eröffnete sich auch die Möglichkeit, "Gebrauchstexte in den Gesichtskreis der Literaturwissenschaft" zu bringen. (Vogt 2008, S.190ff.) So war es an der Zeit zu fragen, ob und unter welchen Umständen Textsorten wie "der Traktat, der Dialog, die Rede, die Predigt, die Flugschrift, das Pamphlet, die Polemik, die Kritik, die Biographie, die Memoiren, der Bericht, die Reportage, das Protokoll und die Glosse; aber auch: der Brief, der Essay, das Feuilleton, die Autobiographie und das Tagebuch" (Nickisch 1996, S.357) Qualitäten besitzen, die sie "literarisch" machen. Und, wie könnte es in der Wissenschaft anders sein, fingen, etwas salopp gesagt, die Probleme erst an und die Diskussion darüber, was einen Gebrauchstext aus der obigen Aufzählung denn letzten Endes zu einer literarischen Zweckform macht, ist bis heute Gegenstand von Kontroversen, die auch über die Literaturwissenschaft hinausgehen. Ob es letzten Endes überhaupt Sinn macht, diese Texte im Grenzbereich mit gattungstheoretischen Konzepten der Literaturwissenschaft zu erfassen oder man diese Texte einfach als publizistische Textsorten ganz unabhängig davon verstehen sollte, wie dies verschiedentlich gefordert worden ist (vgl. Weissenberger (1985, S.1), sei hier einfach dahingestellt.
In einem klassifikatorischen System kann der Begriff der literarischen Zweckform (= literarisierte Gebrauchstexte) als (Haupt-)Gattungsbegriff jedenfalls durchaus neben die herkömmlichen literarischen Gattungsbegriffe (Epik, Lyrik und Drama) gestellt werden, ohne dass damit eine erschöpfende Antwort auf die Frage gegeben werden muss, ob die Literatur fortan "vier" Gattungen aufweise. Dies gilt umso mehr, wenn man die Entwicklungen in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft, insbesondere der Erzähltheorie (vgl. Fludernik 2006), "die Integration von Film und Massenmedien in den Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft" (Vogt 2008, S.190) berücksichtigt.

"Warum ist ein Brief von Kleist an seine Schwester literaturwissenschaftlich relevant, die Postkarte, die ich meiner Kusine Ulrike geschrieben habe, aber (wahrscheinlich) nicht?" (Vogt 2008, S.192)

So simpel der Frage klingt, so schwer ist es indessen darauf eine allseits befriedigende Antwort zu geben. Und besten nähert man sich dieser wohl so, wie dies auch Vogt (2008, S.192f.) tut, indem man sich damit beschäftigt, was Gebrauchstexte im Allgemeinen ausmacht und wie man diese wenigstens grob ordnen kann.

Belke (1973/1980a, S.10) versteht unter Gebrauchstexten, Texte, "die nicht, wie poetische Texte, ihren Gegenstand selbst konstituieren, sondern die primär durch außerhalb ihrer selbst liegende Zwecke bestimmt werden. Gebrauchstexte dienen der Sache, von der sie handeln; sie sind auf einen bestimmten Rezipientenkreis ausgerichtet und wollen informieren, belehren, unterhalten, überzeugen, überreden oder agitieren." Für ihn steht außer Frage, dass sich die Gebrauchstexte in einem Grenzbereich der Literatur befinden und es immer wieder "fließende Übergänge einerseits zu Texten mit genuin literarisch-poetischem Anspruch, andererseits zu Texten privaten Gebrauchs, die nicht publiziert werden gibt," (ebd.) Belke (1973/1980a) hält nach Ansicht von Rötzer (1980a, S.69) wenig von der Einführung einer vierten Gattung der Literatur und wünscht eher einen pragmatischen Umgang mit Gebrauchstexten, der von Fall zu Fall betrachtet werden müssten.

Belke (1973/1980a) unterteilt die Gebrauchstexte "ausgehend vom Gegenstands- und Verwendungsbereich" in "vier größere Textgruppen, die ihrerseits nach Zweck und Adressat zu differenzieren sind:

  1. Texte privaten Gebrauchs (Brief, Tagebuch, Autobiographie, Memoiren);

  2. Wissenschaftliche Gebrauchstexte (Traktat, Abhandlung, Aufsatz, Essay, Monographie, Biographie, Rezension, Kommentar, Protokoll);

  3. Didaktische Gebrauchstexte (Rede, Predigt, Vortrag, Vorlesung, Referat - Sachbuch, Schulbuch - Formen des Schulaufsatzes);

  4. Publizistische Gebrauchstexte (Nachricht Bulletin, Chronik - Bericht, Reportage, Interview - Leitartikel, Entrefilet, Glosse, Column, Feuilleton - Flugblatt, Flugschrift, Pamphlet, Anzeige (Inserat, Annonce), politische und kommerzielle Werbetexte)." (Hervorh. d. Verf.)

In Erweiterung des Gliederungsschemas von Belke (1973/1980a) hat Rötzer (1980a, S.65) vorgeschlagen, der Liste noch zwei weitere Gruppen von Gebrauchstexten als fünfte bzw. sechste Gruppe hinzuzufügen, und zwar:

  1. Normative Gebrauchstexte (Gesetzestexte)
  2. Gebrauchsanweisungen (Konstruktionsbeschreibungen, Bauanleitungen, Wartungsbestimmungen)

"Was macht einen Gebrauchstext 'literarisch'?" (Vogt 2008, S.192)

Während Belke (1973/1980a) das Kriterium der Veröffentlichung heranzieht, um literarische von nichtliterarischen (privaten) Gebrauchstexten zu unterscheiden, geht Vogt (2008, S.192f.) diese Problematik grundsätzlicher an. Dabei stellt er fest, dass sich bestimmte Gebrauchstexte "für eine Literarisierung geradezu anbieten, andere sehr viel weniger."
Aus diesem Grunde spricht er sich dafür aus, von Literarisierung dann zu sprechen, "wenn Sachverhalte in einer Weise dargestellt werden, die die Leser oder die Leserin zur affektiven und reflexiven Teilnahme einlädt; wenn der Text also in der einen oder anderen Art und Weise über den konkret behandelten Einzelfall hinausführt; wenn eine kompositorische Sorgfalt erkennbar ist, die über schematische Textmuster hinausgeht; und schließlich rhetorische bzw. literarische Verfahren verwendet werden ( z. B. Tropen und Figuren, Zitate und Anspielungen, Leserandreden und Selbstreflexionen des Autors). Das wird man also, auch innerhalb einer Gattung, stets im Einzelfall untersuchen müssen - wobei es gerade wieder die lang verschmähte Rhetorik ist, die uns Hilfsmittel für die Analyse dieser Texte an die Hand gibt."

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 29.09.2013
 

 
     
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