"Der eigentlich didaktischen Poesie
gehen mit dem Charakter ungeschiedener Ursprünglichkeit in Epos und
Drama Erzeugnisse voran, welche den
Lehrgehalt
als religiöse Tatsache ansprechen. [...]
Die didaktische Poesie geht immer vom geistigen Inhalt aus und von
da erst zum Bilde fort; [...]
Das Beispiel [...] bringt zum Beleg einer
Wahrheit einen Fall, eine Erscheinung aus dem Leben ohne Fiktion
herbei, worin diese Wahrheit real geworden ist oder immer wieder
aufs Neue wird; es gehört eigentlich ganz in die Prosa [...]. Idee
und Bild fallen in dieser einfachen Form gar nicht und ebenso sehr
ganz auseinander; [...] die Güte eines Beispiels besteht nur darin,
dass die vorgetragene Wahrheit den wesentlichsten unter den Zügen
des angeführten Wirklichen bildet.
Die Parabel dagegen fingiert einen Hergang
für ihren Zweck, hebst als Band zwischen ihm und der Wahrheit, die
sie vortragen will, das tertium comparationis heraus und knüpft an
dieses die letztere. Hat sie sich ihren Fall erfunden, so ist er
eben ganz auf dies tertium angelegt, und dass in solchem Hergang
auch noch andere Gesetze, Wahrheiten liegen können, geht sie gar
nichts an.
Der Zusammenhang zwischen Idee und Bild ist daher loser
als im Beispiel, aber loser im Sinne des Freien, was sich das
zweckmäßigste Anschauungsbild selber mit Phantasie schafft und eben
dadurch straffer. Die Parabel ist demnach eigentlich
ein Gleichnis, aber ein entwickeltes, zur Erzählung ausgebildetes,
episch gewordenes Gleichnis und diese Entwicklung hat ihren
Grund darin, dass die vorzutragende Lehre nicht einfach, sondern
vielseitig ist, eine Reihe von belegenden Momenten, einen Reihe von
Vergleichspunkten fordert. [...] Es ist in der Sache begründet, dass
der der Parabeldichter am liebsten einen Vorgang aus der
Menschenwelt erdichtet, weil er hier die reichsten
Vergleichungspunkte für seinen vielseitigeren Lehrgehalt findet.
Dieser bewegt sich
weniger im untergeordneten Gebiete der Lebensklugheit als in dem
hohen und ernsten der Ethik;
die Parabel ist eine Bilderschrift, welche kindlichen Menschen
erhabene und ehrwürdige, auf die Religion gegründete Wahrheiten des
sittlichen Lebens einprägt und ihren frischen Geist durch die
einleuchtende Zweckmäßigkeit erfreut und erfasst. Der
Lehrgehalt wird
direkt ausgesprochen: »das Himmelreich ist gleich« usw. der
Parabelerzähler gesteht offen, dass das Bild bloß Mittel ist;
Nathan in der
Parabel von den drei Ringen tut dies war nicht ausdrücklich,
aber es liegt im Anlasse, dass der Lehrzweck seiner Erzählung kein
Geheimnis ist.
Die Fabel nun scheint auf den ersten Blick das
Verhältnis zwischen dem Bild und dem Gehalte viel lockerer zu sein
als in der Parabel. Das Gleichnis wird auch in ihr zur Erzählung,
diese aber ist Fiktion in viel engerem Sinne, denn sie leiht der
unbeseelten Natur, Pflanzen, Bergen, Gewässern, einzelnen Organen
des Körpers, vor allem aber der Tierwelt Bewusstsein, Vernunft,
Sprache und verlegt so Handlung in ein Gebiet, wo es nach
Naturgesetzen keine gibt, freilich eine Handlung, die dem
beobachteten Charakter der Naturwesen entspricht. Produkte der
menschlichen Kunst treten ebenfalls auf und werden wie beseelte
Naturwesen aufgefasst.
Lebhafte Fiktion auf Grundlage der Naturbeobachtung ist also das
Wesen der Fabel, nicht bloß der Äsopischen, sondern der Fabel
überhaupt. Dass auch geisterhafte gestalten, Riesen und Zwerge,
Götter und allegorische Personen auftreten, ändert nichts an diesem
Charakter, denn sie werden in diesem Zusammenhange ganz ähnlich wie
typisch einfache Tiercharaktere verwendet; [...]
Die Fabel vereinigt also Wunderbarkeit und Natürlichkeit. [...]
der Vergleichspunkt ist durch die geläufige Einfachheit und
Entschiedenheit der Züge, die von den Naturwesen entlehnt werden,
namentlich die schlechthin einleuchtende Analogie der allbekannten
Tiercharaktere zu menschlichen Eigenschaften, Gesinnungen, so ganz
schlagend, dass er
mit voller Ungesuchtheit hervorspringt. Es ist nur ein
unmerkbarer Ruck, der das Menschenähnlich zum Scheine des wirklich
Menschen erhebt, ein augenblickliches scheinbares Ernstmachen aus
einer Unterschiebung, die jedes lebendigen Menschen Phantasie leicht
und gern mit den Naturgebilden vornimmt. am meisten die kindliche,
und der Fabel gehört ursprünglich ein Auditorium, das wie Kinder
gewohnt ist, Bäume, Steine, Flüsse, Tische, Messer und Gabel, Fuchs
und Wolf sprechen zu lassen.
Es ist nichts zu verwundern, es versteht sich von selbst. Die
Beziehung der vertrauten und einleuchtenden Eigenschaften der
Naturwesen auf das tief verwandte Menschliche liegt nun eben schon
in diesem Rucke zum scheinbar wirklich Menschlichen; der Dichter
braucht daher die Moral gar nicht herauszustellen, wenn er richtig
und lebendig erzählt, in der Handlung selbst von den Akteuren
ausgesprochen."
(aus: Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des
Schönen 1923, S.365ff., zit. n.
Dithmar 1982, S.193-196)
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Gleichnis
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
10.11.2020