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Zeitgestaltung
im erzählenden Text
Ich hatte in meiner Jugend einige Fertigkeit im Drechseln und
beschäftigte mich sogar wohl etwas mehr damit, als meinen gelehrten
Studien zuträglich war; wenigstens geschah es, dass mich eines Tags der
Subrektor bei Rückgabe eines nicht eben fehlerlosen Exerzitiums
seltsamerweise fragte, ob ich vielleicht wieder eine Nähschraube zu
meiner Schwester Geburtstag gedrechselt hätte. Solch kleine Nachteile
wurden indessen mehr als aufgewogen durch die Bekanntschaft mit einem
trefflichen Manne, die mir infolge jener Beschäftigung zuteil wurde.
Dieser Mann war der Kunstdrechsler und Mechanikus Paul Paulsen, auch
deputierter Bürger unserer Stadt. Auf die Bitte meines Vaters, der für
alles, was er mich unternehmen sah, eine gewisse Gründlichkeit forderte,
verstand er sich dazu, mir die für meine kleinen Arbeiten erforderlichen
Handgriffe beizubringen.
Paulsen besaß mannigfache Kenntnisse und war dabei nicht nur von
anerkannter Tüchtigkeit in seinem eignen Handwerk, sondern er hatte auch
eine Einsicht in die künftige Entwicklung der Gewerke überhaupt, so dass
bei manchem, was jetzt als neue Wahrheit verkündigt wird, mir plötzlich
einfällt: das hat dein alter Paulsen ja schon vor vierzig Jahren gesagt.
- Es gelang mir bald, seine Zuneigung zu erwerben, und er sah es gern,
wenn ich noch außer den festgesetzten Stunden am Feierabend einmal zu ihm
kam. Dann saßen wir entweder in der Werkstätte oder sommers - denn unser
Verkehr hat jahrelang gedauert - auf der Bank unter der großen Linde
seines Gärtchens. In den Gesprächen, die wir dabei führten, oder
vielmehr, welche mein älterer Freund dabei mit mir führte, lernte ich
Dinge kennen und auf Dinge meine Gedanken richten, von denen, so wichtig
sie im Leben sind, ich später selbst in meinen Primaner-Schulbüchern
keine Spur gefunden habe.
Paulsen war seiner Abkunft nach ein Friese und der Charakter dieses
Volksstammes aufs schönste in seinem Antlitz ausgeprägt; unter dem
schlichten blonden Haar die denkende Stirn und die blauen sinnenden Augen;
dabei hatte, vom Vater ererbt, seine Stimme noch etwas von dem weichen
Gesang seiner Heimatsprache.
Die Frau dieses nordischen Mannes war braun und von zartem Gliederbau,
ihre Sprache von unverkennbar süddeutschem Klange. Meine Mutter pflegte
von ihr zu sagen, ihre schwarzen Augen könnten einen See ausbrennen, in
ihrer Jugend aber sei sie von seltener Anmut gewesen. - Trotz der
silbernen Fädchen, die schon ihr Haar durchzogen, war auch jetzt die
Lieblichkeit dieser Züge noch nicht verschwunden, und das der Jugend
angeborene Gefühl für Schönheit veranlasste mich bald, ihr, wo ich
immer konnte, mit kleinen Diensten und Gefälligkeiten an die Hand zu
gehen.
»Da schau mir nur das Buberl«, sagte sie dann wohl zu ihrem Mann;
»Wirst doch nit eifersüchtig werden, Paul?«
Dann lächelte Paul. Und aus ihren Scherzworten und aus seinem Lächeln
sprach das Bewusstsein innigsten Zusammengehörens.
Sie hatten außer einem Sohne, der damals in der Fremde war, keine Kinder,
und vielleicht war ich den beiden zum Teil deshalb so willkommen, zumal
Frau Paulsen mir wiederholt versicherte, ich habe grad ein so lustigs
Naserl wie ihr Joseph. Nicht verschweigen will ich, dass letztere auch
eine mir sehr zusagende, in unserer Stadt aber sonst gänzlich unbekannte
Mehlspeise zu bereiten verstand und auch nicht unterließ, mich dann und
wann zu Gast zu bitten. - So waren denn dort der Anziehungskräfte für
mich genug. Von meinem Vater aber wurde mein Verkehr in dem tüchtigen
Bürgerhause gern gesehen. »Sorge nur, dass du nicht lästig fällst!«
war das einzige, woran er in dieser Beziehung zuweilen mich erinnerte. Ich
glaube indessen nicht, dass ich meinen Freunden je zu oft gekommen bin.
Da geschah es eines Tages, dass in meinem elterlichen Hause einem alten
Herrn aus unserer Stadt das neueste und wirklich ziemlich gelungene Werk
meiner Hände vorgezeigt wurde.
Als dieser seine Bewunderung zu erkennen gab, bemerkte mein Vater dagegen,
dass ich ja aber auch schon seit fast einem Jahr bei Meister Paulsen in
der Lehre sei.
»So, so«, erwiderte der alte Herr; »bei Pole Poppenspäler!«
Ich hatte nie gehört, dass mein Freund einen solchen Beinamen führe, und
fragte, vielleicht ein wenig naseweis, was das bedeuten solle.
Aber der alte Herr lächelte nur ganz hinterhältig und wollte keine
weitere Auskunft geben. -
Zum kommenden Sonntag war ich von den Paulsenschen Eheleuten auf den Abend
eingeladen, um ihnen ihren Hochzeitstag feiern zu helfen. Es war im
Spätsommer, und da ich mich frühzeitig auf den Weg gemacht und die
Hausfrau noch in der Küche zu wirtschaften hatte, so ging Paulsen mit mir
in den Garten, wo wir uns zusammen unter der großen Linde auf die Bank
setzten. Mir war das »Pole Poppenspäler« wieder eingefallen, und es
ging mir so im Kopf herum, dass ich kaum auf seine Reden Antwort gab;
endlich, da er mich fast ein wenig ernst wegen meiner Zerstreutheit
zurechtgewiesen hatte, fragte ich ihn gradezu, was jener Beiname zu
bedeuten habe.
Er wurde sehr zornig. »Wer hat dich das dumme Wort gelehrt?« rief er,
indem er von seinem Sitze aufsprang. Aber bevor ich noch zu antworten
vermochte, saß er schon wieder neben mir. »Lass, lass!« sagte er, sich
besinnend, »es bedeutet ja eigentlich das Beste, was das Leben mir
gegeben hat. - Ich will es dir erzählen; wir haben wohl noch Zeit dazu.«
-
(aus: Theodor Storm, Pole Poppenspäler (Novelle,
1874), Novellenanfang, Projekt Gutenberg, 1.11.00
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Zeitgestaltung
im erzählenden Text
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.12.2023
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