▪ Leitfragen zur Analyse der
Zeitgestaltung in einer Erzählung
Rückwendungen: Ein Stück Vergangenheit in die Erzählgegenwart
hereinholen
Wenn eine Geschichte erzählt wird, wird in der Regel etwas dargestellt,
was zeitlich zurückliegt, d.h. sie werden
retrospektiv
erzählt. Allerdings kann die Zeit bzw. der Zeitablauf einer Erzählung und
andere Aspekte der ▪ Zeitgestaltung
epischer (narrativer) Texte auf verschiedene Art und Weise gestaltet sein.
Die ▪ Zeitgestaltung beim
Erzählen kann so gestaltet werden, dass ein Geschehen deutlich abweichend von
einem "natürlichen", einfachen zeitlichen Nacheinander erzählt
wird. Dies nennt man eine ▪ nicht-lineare Reihenfolge.
Hebt man auf die zeitlichen Umstellungen ab, die dabei vorgenommen werden,
spricht man in diesem Zusammenhang von
Permutation. Die im Gegensatz zu einer ▪
linearen Reihenfolge
(synthetisches
Erzählen,
chronologisches Erzählen) vorgenommenen Umstellungen der
Handlungselemente (Ereignisse,
Geschehen) werden
als
Anachronie bezeichnet.
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Bei der Rückwendung wird ein Ereignis nachträglich im Bezug auf den
Zeitpunkt des aktuellen erzählten Geschehens in die
Basiserzählung eingefügt. Oft wird dies auch
als Rückgriff, in der
Erzähltheorie
von »Gérard
Genette (1930-2018) (1972,
dt. 1994/1998)
Analepse,
sonst auch Retrospektion
genannt.
Genette
(2. Aufl. 1998, S.25) definiert die Analepse als "jede nachträgliche
Erwähnung eines Ereignisses, das innerhlb der Geschichte zu einem früheren
Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht
hat." Dabei bezieht sich Genettes Begriff der Analepse sowohl auf erzählte
als auch bloß evozierte Ereignisse. (vgl.
Hawthorne
1994, S.11f.)
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Auch in einem nicht-linearen, überwiegend anachronischen Erzähltext
kann es aber längere Passagen geben, die linear erzählt werden.
Rückwendungen müssen nach
Lämmert (1955, S. 101) als
"untergeordnete Bestandteile der Gegenwartshandlung bzw. eines für sie
relativ gegenwärtigen Handlungsstranges" angesehen werden, bei denen der
Erzähler die Erzählgegenwart nicht verlässt, "um an früherer Stelle einen
anderen Teil seiner Erzählung zu beginnen, sondern er führt ausholend ein
Stück Vergangenheit in die Gegenwart ein." (ebd.)
.
Reichweite und Umfang der Rückwendung
Bei der Rückwendung wird ein Ereignis nachträglich im Bezug auf den Zeitpunkt
des aktuellen erzählten Geschehens eingefügt.
Grundsätzlich kann man beide Hauptformen anachronischen
Erzählens, die ▪ Vorausdeutungen ebenso wie
die Rückwendungen, nach den Kriterien der Reichweite und des Umfangs
unterscheiden (vgl.
Genette, 2. Aufl. 1998, S.31ff.):
-
Mit der
Reichweite bezeichnet man den "zeitliche(n)
Abstand zwischen der Zeit, auf die sich der Einschub bezieht, und
dem gegenwärtigen Augenblick der Geschichte" (Martínez/Scheffel
1999/2016, S.37). Auf der Basis des Kriteriums der Reichweite
lassen sich die ▪ externen und internen Analepsen unterscheiden, "je
nachdem, ob der Punkt, bis zu dem sie zurückreichen, außerhalb oder
innerhalb der Zeitfeldes der Basiserzählung liegt." (Genette,
2. Aufl. 1998, S.41)
Keine Rückwendung stellt nach
Lämmert (1955, 101f.) die Vorzeithandlung (z. B.
Kindheitsgeschichte einer Figur) dar, da sie im Allgemeinen mit dem Wechsel
auf eine andere Handlungsebene verbunden ist, die sie als eigenständiger
Erzählstrang im Rahmen eines meist mehrsträngig angelegten Erzähltextes
kennzeichnet und nicht wie im Falle der Rückwendung eine Ausweitung der
Gegenwartshandlung durch Hineinnahme von Vergangenheit bedeutet
(Synchronisierung).
Ähnlich sieht es auch
Genette
(2. Aufl. 1998, S.33), der solche Vorzeithandlungen zwar grundsätzlich
zu den internen Analepsen zählt, sie aber
als heterodiegetische interne
Analepsen "beiseite" lässt, weil sie "einen Strang der Geschichte bzw.
einen diegetischen Inhalt betreffen, der sich von dem (oder denen) der
Basiserzählung unterscheidet: also etwa, sehr klassisch, eine neu
eingeführte Person, deren 'Vorgeschichte' der Erzähler aufhellen möchte" (ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
22.01.2024
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