Die
erlebte Rede wird in der
neueren
Erzähltheorie als eine Form der ▪
transponierten Rede aufgefasst, zu der noch die
▪ indirekte Figurenrede
gezählt wird. In der
älteren
Erzähltheorie gehört sie zur Gruppe der ▪
Darbietungsformen der Figuren- bzw. Personenrede.
Grundsätzlich zeichnet sich die erlebte Rede, in den Kategorien der
älteren
Erzähltheorie gesprochen, durch ihre eigentümliche Stellung zwischen
▪
Erzählerbericht
und
▪
innerem Monolog auszeichnet (▪
Vergleich erlebte Rede und innerer Monolog).
Sie ist "eine von Einführungen unabhängige mittelbare Rede, eine »freie
indirekte Rede«" (Steinberg
1971, S.357)
Als Form der ▪ transponierten Rede dient
die erlebte Rede dazu, das was eine Figur sagt oder denkt in der 3.
Person (selten auch in der 1. Person) Indikativ Präteritum ohne
redeeinleitendes Verb (verbum dicendi) darzustellen.
Der besondere Reiz dieser Darstellung besteht darin, dass sie auf der
Grundlage einer Art Zwischenstellung zwischen direkter und indirekter
Rede sie im Gegensatz zur indirekten Figurenrede der individuelle Stil
der eigentlichen Figurenrede deutlicher hervortritt. Zugleich kommt es
im Unterschied zum Inneren Monolog und dem Bewusstseinsbericht zu einer
Vermischung der "unterschiedlichen Sprech- und Wahrnehmungsorte von
erzählendem Subjekt und erlebenden Figur". (Martínez/Scheffel
112019, S.220)
Daran erkennt man die erlebte Rede
Um die erlebte Rede in einem
▪ erzählenden Text
identifizieren zu können, kann man sich auf verschiedene Indizien
stützen. Dabei
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Merkmale
-
3. Pers. Singular Indikativ Präteritum
-
oft mit, aber
auch häufig ohne redeeinleitende Verben
-
im Allgemeinen ohne
Anführungsstriche
-
Innensicht
-
Fluktuieren zwischen
verschiedenen grammatischen Formen und Aussagequalitäten
-
Erzähler schlüpft in eine Figur, um deren Gedanken
und Gefühle eindrücklich wiederzugeben, ist aber noch als Erzähler
spürbar
-
kommentierende Einmischung möglich (z.B.
Ironisierung)
-
Erzähler tritt nahezu gänzlich hinter die Figur
zurück
-
Abgrenzung zwischen Erzählerbericht und erlebter Rede
häufig schwierig
-
Reihung rhetorischer Fragesätze verbreitet bei
dramatisch oder affektiv aufgeladener erlebter Rede
-
kann auch Zitate in direkter Rede integrieren
Weitere Indikatoren der erlebten Rede (vgl.
FAQ 5):
Nach
Roy
Pascal 1977 gibt es aber noch eine Reihe von hilfreichen Hinweisen:
-
deiktische, d.h. verweisende Zeit- und Raumadverbien
wie "morgen", "hier" "nun", die sich auf
den Standpunkt der Figur beziehen
-
affektive oder argumentative Interjektionen wie
"gewiss", "jedoch"
-
emphatische Ausrufe wie "Ach!"
-
rhetorische Fragen
-
Modalverben mit subjektiver Qualität ("hatte er
den Wagen zu holen")
-
explizite Ankündigungen von Gedanken wie "dachte
er"
-
ironische Untertöne, die vom Erzähler her kommen
-
Textpartien, die nur als innerer Monolog einer Figur
aufgefasst werden können
-
nahezu auktoriale Verwendung der erlebten Rede, die
dazu verwendet wird, unartikulierte, unstrukturierte und halbbewusste
Regungen einer Figur auszudrücken
Die erlebte Rede eignet sich besonders gut zur Vermittlung subjektiver, flüchtiger,
in sich widersprüchlicher, affektiv geprägter Zustände, Phasen und
Reflexe der Psyche (vgl.
Vogt
1990, S.166-173). Diese "besondere Eignung der erlebten Rede zur
Darstellung des Affektischen und Intimen macht ihren psychologischen
Tiefgang aus. Sie will das zaghaft Gesprochene, das blitzartig durchs
Bewusstsein Zuckende, das nicht zu Ende Gedachte erfassen. Alles scharf
Umrissene, logisch Formulierbare, mit Bedacht Gesprochene ist ihr von
Natur aus fremd und könnte besser in der Form der direkten oder indirekten
Rede ausgedrückt werden. Dem Autor, der die erlebte Rede verwendet, ist es
darum zu tun, ein direktes Schlaglicht auf die geistig‑seelische Situation
seiner Figur zu werfen." (Hoffmeister
1965, S.22) Als "gefährlich" kann sich
die
Verwendung
der erlebten Rede in nichtfiktionalen Texten erweisen, wie der
ehemalige
Bundestagspräsident Philipp Jenninger (CDU) im Jahre 1988
erfahren musste.
Dieser hatte in seiner
Rede anlässlich des 50-jährigen
Gedenkens an die Reichspogromnacht 1938 folgendes gesagt:
»Hitlers Erfolge diskreditierten nachträglich vor allem das
parlamentarisch verfasste, freiheitliche System, die Demokratie von Weimar
selbst. Da stellt sich für sehr viele Deutsche nicht einmal mehr die
Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoss vielleicht in einzelnen
Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging einem
persönlich doch besser als zuvor, und das Reich war doch unbezweifelbar
wieder groß. ja, größer und mächtiger als je zuvor. - Hatten nicht
eben erst die Führer Großbritanniens. Frankreichs und Italiens Hitler in
München ihre Aufwartung gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht
für möglich gehaltenen Erfolge verholfen? Und was die Juden anging:
Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt - so
hieß es damals -, die ihnen nicht zukam? Mussten sie nicht endlich einmal
Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar
verdient. In ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: Entsprach
die Propaganda - abgesehen von wilden, nicht ernst zu nehmenden
Übertreibungen - nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen
und Überzeugungen?«
Entgegen der Absicht
Jenningers haben damals die meisten Zuhörer diese Passagen "dem Redner selbst zugeschrieben und als
Rechtfertigung der beschriebenen Einstellung gedeutet." Die Ursache
dieses Rezeptionsfehler bestand demnach darin, "die erlebte Rede
nicht als
Personenrede
erkannt zu haben". (Vogt
1990, S.177) Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.12.2023
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