Die Entstehungsgeschichte der
griechischen Tragödie
Die ▪ Tragödie
ist in der ▪ griechischen Antike
als ▪
dramatische Gattung
entstanden und und ihre ▪
Formen wurden in späterer Zeit
immer wieder verändert. Vielen gilt und galt sie als die "höchste"
(dramatische)
Gattung
schlechthin.
Wie sie
entstanden ist und sich in der Antike entwickelt hat,
lässt sich in der griechischen und der römischen Antike
beobachten.
Die Tragödie als intellektuelle Leitgattung der griechischen
Kultur
Dass sich die Tragödie gemeinsam mit
der Komödie zu den dramatischen Leitgattungen entwickelten, die
Tragödie im
5. Jahrhundert gar zur "intellektuellen Leitgattung der
griechischen Kultur" (ebd.,
S.179) avancierte, hat verschiedene Ursachen. Der wichtigste
war wohl die Tatsache, dass die Tragödie athenischer Prägung,
welche die bedeutendste ihrer Zeit war, einen festen Platz im Rahmen
besonderer kultischer Feste in
Attika, dem zur
Polis von »Athen
gehörigen Land, aufgeführt wurde, eingenommen hat. Zu solchen
Festen zählten die »(Großen)
Dionysien, die »Lenäen
und die Ländlichen Dionysien zählten.
Begonnen hat das antike griechische Theater wohl mit einem
Chor während der ersten Dionysien um 600 v. Chr., bei denen ein
Chor in Korinth, dessen Mitglieder als Böcke verkleidet waren, in
einem Opferritual "die lokale Gottheit Dionysos Lysios mit einem
exzentrischen Kultruf, dem »Dithyrambos,"
(Denk/Möbius
2008, S.26) angerufen haben. Später, etwa ab der Mitte des
6. Jahrhunderts, ist dieser Bocksgesang auch für Athen
nachgewiesen. Dort wird er von dem Tyrannen
»Peisistratos (um 600–528/527 v. Chr.), der den »Dionysoskult
zum Staatskult von Athen machte, auf den Gott
»Dionysos
Eleuthereus übertragen und in die sogenannten und »(Großen)
Dionysien eingebracht. (vgl.
ebd.)
Tragödien ersetzen dabei auch mehr und mehr den
Dithyrambos, der eine emotionalisierte
enthusiastisch-ekstatische Form des antiken Chorliedes
darstellte. Dabei blieben trotz der ästhetischen Überformung der
archaischen Kultelemente auch in den dramatischen Gestaltungen
des Dithyrambos und der Tragödien die den ursprünglichen Mythos
prägenden Gegensätze von zwei diametral entgegengesetzten
existenziellen Haltungen erhalten und vor allem
"Tanz und Gesang der Chöre ließen bei aller Überformung die
Bewegungsdynamik und musikalische Atmosphäre des kultischen
Brauchtums noch erahnen." (Brauneck
2012, S.20)
Bis heute wird die Begriff des Adjektivs "dithyrambisch" als
über alle Maße begeistert und schwärmerisch davon abgeleitet.
Im Übrigen hat die sogenannte Dithyramben-Dichtung bis ins in
die
»empfindsame Lyrik »Friedrich
Gottlieb Klopstocks (1724-1803) (z. B. ▪
Auf meine Freunde, 1747) nachgewirkt und auch einige Hymnen
des jungen »Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832) (z. B. »Wandrers
Sturmlied (1771) können der Dithyramben-Dichtung zugeordnet
werden.
Orte und Organisation der Aufführungen
Im Verlauf der Großen Dionysien, die zu Ehren des Gottes »Dionysos
veranstaltet und eine große Bedeutung für den Zusammenhalt des
griechischen Gemeinwesens hatten, erstreckten sich über mehrere Tage.
Sie
veränderten im Laufe der Zeit ihre Funktion, ohne aber
jemals ihren kultischen Ursprung vergessen zu lassen. Tragödien-
und Komödienaufführungen waren die wichtigsten und
massenwirksamsten Events dieser Großveranstaltungen.
Die vom »Archon,
einem hohen oder dem höchsten Beamten, ausgewählten
Theaterstücke wurden dabei unter
den Bedingungen eines
Wettbewerbs (gr. agón) vor vielen
tausend Zuschauern aufgeführt und am Ende zeichnete eine sorgsam
ausgewählte Jury die besten Stücke aus.
-
In der
Frühphase geschah dies auf der »Agora,
dem zentralen Fest-, Versammlungs-, Markt- und Kultplatz der
griechischen Polis (Stadtstaat), der nicht umsonst als
räumliche "Schnittstelle von Politik, Religion und Kunst" (Gödde
2008, S.95, zit. n.
Brauneck 2012, S.20) bezeichnet wird.
-
Später
inszenierte man in den großräumigen Theatern wie z. B.
dem »Dionysos
Eleuthereus unterhalb der »Akropolis
von Athen oder dem »Theater
in Epidaurus. Diese Monumentalbauten sollten als
"Raumsymbole einer gesellschaftlichen Vision"(
Brauneck 2012, S.28) dienen und einen Raum schaffen, der
durch den Zusammenhalt der Polis stärken sollte, dass er den Bürgern verschiedene
Partizipationsmöglichkeiten im agonalen Dramenwettstreit
zuwies: "Allen Bürgern wurde dadurch die Gemeinschaftsidee
der Polis unmittelbar erlebbar. Sie waren Publikum, aber
auch Mitgestalter des dramatischen Agons." (ebd.)
Die »Antike
Orchestrabühne (gr. orchestra = Tanzplatz) mit ihren
Freiluftaufführungen hatte in ihrem Halbrund, das
mit einer neutralen Wand (Bühne, skene) und dem Ausblick in die
das Theater umgebende Landschaft als Hintergrund arbeitete,
Platz für viele tausend Zuschauer. Die größten von ihnen wie die in »Epidaurus
(14.000) und »Ephesus
(24.000) fassten weit über zehntausend. Da die Zuschauer in einem
Über-Halbrund um die Spielfläche platziert waren, gab es auch
kein illusionistisches Bühnenbild, wie wir es heute von der ▪
Guckkastenbühne her kennen. Dazu befand sich die Bühne in
einer vergleichsweise großen Entfernung zu den Zuschauern, so
dass die Sichtverhältnisse und die Akustik auf vielen Plätzen
sicherlich zu wünschen ließ.
Aus diesem Grund gab es auch kein
realistisches Spiel der ohnehin, sieht man vom Chor ab, geringen
Zahl von Schauspielern. Der Schauspielstil war entsprechend
stilisiert: Man deklamierte, sang im Chor, trug typisierende ▪
Masken und
symbolische Kostüme und, wenn Gestik überhaupt ein Rolle
spielte, dann nur in großer und weit ausholender Gebärde.
Die
Sitzordnung des Publikums spiegelte die gesellschaftlichen
Hierarchien wieder: Direkt vor der Orchestra hatten Priester und
die höchsten Beamten der Polis ihre Plätze mit thronartigen
Ehrensesseln, dahinter kamen die Ratsmitglieder und Fremde, die
sich um die Polis verdient gemacht hatten, dann die männlichen
Bürger und ganz oben, wo man von der Bühne besonders weit weg war,
durften sich Frauen, Kinder und Sklaven niederlassen. (ebd.,
S.23)
Die Organisation des Dramenwettbewerbs
Die Durchführung des Dichter- bzw. Dramenwettbewerbs, der während der
Dionysien ausgetragen wurde, vollzog sich von seiner
Vorbereitung hin bis zur Durchführung in einem komplexen
Produktionsablauf. An dem Wettbewerb nahmen Komödien teil, die
in den ersten Tagen der Dionysien aufgeführt wurden, und
Tragödien.
- Neben der Auswahl geeigneter Stücke durch den bzw. einen
»Archon,
anfangs waren dies in der Regel Tetralogien, also
Produktionen, die aus drei Tragödien und einem heiteren und
befreienden »Satyrspiel mit burlesken Situationen (vgl.
Schößler 2017, S.20) bestanden, musste die Finanzierung
der Produktion gesichert werden. Dafür kamen nur die
reichsten Bürger Athens in Frage, die entweder vom Archon
ernannt oder später vom den Verwaltungsbezirken Athens
(Phylen) ausgewählt wurden. Manchmal war dies einer, meist
zwei, aber auch drei reiche Bürger der Polis, die damit zu
Choregen ernannt wurden. Das
Amt besaß einen hohen Prestigewert in der Gesellschaft und
wurde oft zum Sprungbrett für
eine aussichtsreiche politische Karriere. (vgl.
Brauneck 2012, S.21)
Die Choregen hatten eine Menge zu bezahlen, denn die
Produktionskosten für eine derartige tragische Tetralogie
waren erheblich. Sie summierten sich aus Kosten für
Ausstattung und Kostüme und aus finanziellen Zuwendungen,
welche die zwei oder
drei Schauspieler und der Flötenspieler erhielten, der den Chorgesang
begleitete. Hinzukamen noch Aufwandsentschädigungen für die
Chormitglieder (Choreuten) aus athenischen Bürgern, die
diese für ihre umfangreiche, sich oft über Monate
hinziehende Probenarbeit erhielten.
- Die sich über Monate hinziehende Einstudierung der
tragischen Tetralogien mündete in einer Vorabpräsentation
der Stücke, die für die Dionysien vorgesehen waren. Während
der Dionysien wurden dann die drei ausgewählten Tetralogien
an drei aufeinander folgenden Tagen zur öffentlichen
Aufführung gebracht und von einer Jury mit sorgsam
bestimmten Mitgliedern bewertet und der Sieger des
Wettbewerbs bestimmt. (vgl.
Hose 2012, S.176f.)
Der historische Kontext der Entstehung der Tragödie
Als "Erfinder" der athenischen Tragödie gilt der griechische
Dichter »Thespis,
der für eine Dionysien-Feier während der 61. Olympiade (535-532
v. Chr.) erstmals ein neuartig konzipiertes Drama zur Aufführung brachte,
das sich von den bis dahin verbreiteten dramatischen Formen (z.
B. dem bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. entstandenen »Dithyrambos) abhob.
Im Gegensatz zu diesen stellte er dem bis dahin allein, mit menschlichen Masken, singenden
und tanzenden »Chor
erstmals einen Schauspieler (in der Tracht des Dionysos)
gegenüber, wodurch sich neue dramaturgische Möglichkeiten für
das Spiel ergaben.
Die Tendenz weg vom Chor, hin zum
Schauspieler nimmt dann in der Entwicklung der Tragödie in
Griechenland im Laufe der Jahrzehnte weiter so zu, dass im späten 5.
Jahrhundert "die Lieder des Chores nur noch Zutat zum Stück
waren, die nichts Wesentliches zum Gehalt beitrugen und
austauschbar - oder auslassbar - wurden." (ebd.,
S.180) Diese Entwicklung schlug sich auch in der abnehmenden dramaturgischen
Bedeutung der
Orchestra, dem vor dem Zuschauerraum befindlichen
kreisrunden oder halbkreisförmigen Auftrittsbereich des Chores,
nieder. In »hellenistischer Zeit, wo auch andere
architektonische Umbauten an den griechischen Theaterbauten
stattfanden, wurde sie "allenfalls noch für musikalisch-chorische
Darbietungen oder für virtuose Auftritte von Pantomimen genutzt."(Brauneck
2012, S.26)
Dass »Thespis
die Tragödie gerade dann "erfand" oder "erfinden" konnte, als in
Athen der Tyrann
»Peisistratos (um 600–528/527 v. Chr.) herrschte, ist
indessen kein Zufall. Denn dieser machte den »Dionysoskult
zum Staatskult von Athen und führte dazu auch die »(Großen)
Dionysien ein.
Was Peisistratos und seine ihm folgenden Söhne »Hippias
und »Hipparchos
während der sogenannten
Peisistratiden-Tyrannis in Athen bewogen hat, eine solche
"ambitionierte Kulturpolitik"
(ebd.,
S.174) zu betreiben, erklärt sich wohl aus ihrem Bestreben,
damit "die Loyalität breiter Bevölkerungsschichten gewinnen" zu
wollen. So lässt sich offenbar "vermuten, dass Thespis'
Schöpfung der Tragödie in Athen im Interesse der Peisistratiden
erfolgte" (ebd.,
S.175) und ihren Zielen diente, "die über Jahrzehnte hin in
mannigfaltigen Konflikten verstrickten sozialen Gruppen und
aristokratischen Familienclans zu befrieden." (Brauneck
2012, S.15)
Es war »Kleisthenes
(570-507 v. Chr.), der gegen Ende des 6. Jahrhunderts aber
die Großen Dionysien von dieser die Tyrannis und ihre Ziele
stützenden Instrumentalisierung im Zuge seiner umfassenden
Reformpolitik (»Kleisthenische
Reformen) befreite und zu einer Manifestation machte, mit
der sich die dann demokratisch verfasste Polis selbst feierte
und nach innen und außen präsentierte. (vgl.
ebd,
S.22)
Gründe für den Erfolg der Tragödie als dramatische Gattung
Das Erfolgskonzept der Tragödie beruhte, über den
skizzierten institutionellen Rahmen hinaus, nach Ansicht von
Hose (2012,
S.179f.) auch darauf,
-
dass die
athenischen (männlichen) Bürger auf vielfältige Art an dem
(agonalen) Wettkampf der Dramen beteiligt waren (als Choregen, die die
Finanzierung der Produktion bezahlten; als Chormitglieder (Choreuten)
oder als Juroren) und sich somit über das kultische
Staatsfest auch mit der Politik der Polis identifizierten (Brauneck
2012, S.19)
-
dass die
Aufführung ein öffentliches Ereignis der Polis war
-
dass das
dargebotene Geschehen ein (multimediales) Spektakel mit
Sprache, Gesang, Musik, Tanz und hin und wieder einer
Bühnenhandlung war
-
dass mit ihr
tief in den Mythen verwurzelte Geschichten erzählt wurden,
die den Menschen Hilfe und Orientierung zur Erklärung von
Welt und Gesellschaft und ihren Beziehungen zu den Göttern
lieferten
-
dass die
den Tragödien zugrunde liegenden Mythen von den
Tragödiendichtern flexibel weiter entwickelt wurden, ohne
ihren plot grundsätzlich zu verändern, um sie den jeweils
aktuellen Problemen der griechischen Polis entsprechend
behutsam zu aktualisieren.
Was die Tragödie zu Beginn des 5. Jahrhunderts, als sich das
Drama allgemein von Athen und den besonderen kultischen
Festkontexten löste (vgl.
Hose 2012,
S.185) und säkularisierte, aber ebenso zu einem Erfolgsmodell
machte, ist auch darauf zurückzuführen, dass Dramen als
Lesetexte, z. B. in der schulischen Erziehung für Lese- und
Schreibübungen verwendet wurden, und darüber hinaus in Textform
eine spätere Wiederaufführung, wenngleich mit zum Teil
erheblichen Abänderungen, möglich machten. (vgl.
ebd.,
S.184)
Zudem wirkten die Bilderwelten der Tragödie auch auf die
Bildende Kunst ein, die auf Vasen, Urnen oder als Relief auf
Sarkophagen Motive
oder einzelne Szenen aus den Dramen gestaltete.
Und schließlich ging die Tragödie um die Welt, mit anderen
Worten: Wanderbühnen sorgten für regen Kulturaustausch und
trugen die Stoffe und Muster attischer Dramen zur Zeit des »Hellenismus
mit seinen Großreichen »Alexanders
des Großen (356-323 v. Chr.) und der nachfolgenden »Diadochen
(bis 30 v. Chr.) bis an die Grenzen Indiens. (vgl.
ebd.,
S.185)
Der institutionelle kultische Kontext der griechischen Tragödie
Die
antike Tragödie hat also einen kultisch-religiösen Ursprung und
ist aus kultischen Opferspielen zu Ehren des gr. Gottes »Dionysos
entstanden, der in der ▪
griechischen Götterwelt als Gott des Weines, der
Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der
Ekstase gilt und meistens mit Efeu- bzw. Weinranken und
Weintrauben dargestellt wird. Kaum ein anderer griechischer Gott
"hat eine vergleichbar ausführlich erzählte Lebensgeschichte" in
der er auf seiner Reise durch die Welt "in Gestalt von Löwe,
Stier oder Schlange seine Gegner täuscht und unter denen, die
seine Göttlichkeit nicht anerkennen, Furcht und Schrecken
verbreitet." (Brauneck
2012, S.11)
In der Literatur wird er erstmals in 21 Versen in den »Hymnen
Homers erwähnt, die wohl irgendwann zwischen dem 5. und 7.
Jahrhundert v. Chr. entstanden sein dürften und zum Lobpreis und
zur Anrufung des Gottes genutzt wurden. Später haben auch
namhafte griechische Tragödiendichter wie »Aischylos
(525-456 c. Chr.) oder »Euripides
(480 - 406 v. Chr.), der den um seine Anerkennung als
olympischer Gott kämpfenden Dionysos wohl als einziger
Tragödendichter hinter einer Theatermaske in seiner Tragödie "»Die
Bakchen" (406 v. Chr.) auftreten ließ (ebd.,
S.12), den Dionysos-Stoff bzw. -Mythos in ihren
Werken verarbeitet.
Grundsätzlich muss man aber zweierlei unterscheiden. Es gibt
auf der einen Seite den (archaischen) »Dionysoskult,
mit seiner "kollektive(n) Grenzüberschreitung im Rausch und im
Tanz" und seiner "sukzessive(n) Freisetzung einer Triebdynamik, die das
Kontrollsystem der sozialen Ordnung außer Kraft setzt" (ebd.,
S.12). Auf der anderen Seite ist davon der von den »Peisistratiden
eingeführte Staatskult der »Großen
Dionysien zu unterscheiden, der die Integrationskraft
des Kultes bewahrte, aber kontrollierte und regulierte. Dabei
wirkt natürlich der ältere »Dionysoskult
auch in späteren Dionysos-Festen weiter.
-
Der
archaische Dionysos-Kult besteht vor allem aus
unterschiedlichen "Bessenheitsriten" (Michel Leiris 1979),
bei dem sich "die Fremdheit des Gottes (...) im Spiel auf
die Akteure des Kults als Erfahrung der eigenen Fremdheit
(überträgt), die im Wesen dessen wahrgenommen wird, dessen
Maske der Spieler trägt." (ebd.,
S.13)
-
Aus dem
ehemaligen volkstümlichen Bauerngott wurde im Zuge der
"Kultreform" (ebd.,
S.15) des
»Peisistratos (um 600–528/527 v. Chr.) "der
Dionysos der athenischen Agora, ein politischer Gott der
Stadt, Schirmherr der aristokratischen Polis" und
das Dionysos-Fest "zu einem repräsentativen Staatsfest" (ebd.). Dieses Fest sollte die wirtschaftliche und politische
Macht der Polis herausstellen und die Werte in Erinnerung
rufen und bestätigen, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sorgten.
Und genau das war dann auch die Aufgabe, welche Tragödien
und Komödien im Rahmen der Opferspiele zu Ehren von Dionysos
(»Dionysien)
hatten: "Während die Tragödie die großen mythischen
Erzählungen als Garanten eines von den Göttern verbürgten
Sinnes von Welt und Geschichte darstellte, prangerte die
Komödie die Laster und Schandtaten der politischen Klasse in
kaum überbietbarer Schärfe ab, überschüttete deren
Repräsentanten mit Spott und Hohn." (ebd.).
Kein Wunder
also, wenn annähernd 2000 Jahre später »Jakob
Michael Reinhold Lenz (1751-1792) seinen "Anmerkungen übers
Theater" (1774) über die Funktion der Tragödie kritisch
notierte:
"Die
Hauptempfindung, welche erregt werden sollte, war nicht
Hochachtung für den Helden, sondern blinde und knechtische
Angst vor den Göttern" (zit. n.
Asmuth 62004, S. 32)
Die Opferspiele zu Ehren von Dionysos (»Dionysien),
die sich meistens über mehrere Tage hingezogen, versetzten Athen
während der Festtage in einen "Ausnahmezustand" (Brauneck
2012, S.21): Jeder Bürger musste daran teilnehmen und
Verstöße gegen die verhängte Festordnung wurden mit dem Tod
bestraft. Schließlich ging, was da gefeiert wurde alle an,
sollte die Identifikation mit der Polis und ihren Institutionen
stärken, ihre Werte in Erinnerung rufen und so den
gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig fördern.
Der Begriff Tragödie und seine genealogische Bedeutung
Auf welche Bedeutungen der Begriff Tragödie ((griech.
τράγος/trágos = Bock;
ᾠδή
ōdḗ = Gesang,
Lied;,
τραγωδία, tragodía = Bocksgesang, Gesang um den
Bockspreis) wirklich
zurückgeht, ist hingegen nicht eindeutig zu klären.
Wie der Begriff allerdings erklärt wird, wirft allerdings ein unterschiedliches
Licht darauf, was zu den möglichen Vorformen der Tragödie gehört und in
welchem rituellen Kontext sie entstanden ist und sich entwickelt
hat. Er könnte "(a) den Gesang um den Preis eines Bocks, (b)
den Gesang beim Bocksopfer oder (c) den Gesang von als Böcke
verkleideten Sängern (bezeichnen)". (ebd.,
S.175)
Was auf den ersten Blick wenig bedeutsam zu schein scheint,
hat zur Erklärung der Entstehung der Tragödie indessen große
Bedeutung.
-
So würde die
erste Variante (a), die Herleitung des Begriffs aus dem
Wettgesang um einen Bock, "die agonale
Einbettung der Tragödie" (ebd.),
d. h. ihren Wettkampfcharakter im Rahmen der kultischen Rituale der
Opferspiele zu Ehren des gr. Gottes »Dionysos
(»Dionysien)
bedeuten, die u. a. mit "Umzügen und orgiastischen
Feiern und Opferhandlungen mit magisch-symbolischen
Verwandlungsspielen" (Becker/Hummel/Sander
2017, S.129) begangen wurden.
-
Bezeichnet der
Begriff hingegen den Gesang beim Bocksopfer selbst
(Variante b), wäre die Tragödie als Kunstform von einem
Ritual abgeleitet, und ihre "besondere Bedeutung (läge) darin,
dass über dieses Ritual der Mensch sowohl die Tötung eines
Lebewesens vollzieht als auch das Töten zu bewältigen
sucht."
(Hose
2012, S.175) In der Konsequenz ließe sich daraus auch
erklären, warum die Tragödie existenzielle Probleme der
Menschen thematisiert.
-
Und auch die
dritte Variante (c) hat einiges für sich. Wenn sich die
Menschen nämlich rituell verkleiden können, könnte damit
auch ausgedrückt werden, dass sie sich für eine gewisse Zeit
lang verwandeln oder in eine andere "Welt des »als ob«" (ebd.)
eintauchen können und damit auf ein "anthropologische(s)
Grundprinzip" (ebd.)
verweisen, nämlich "die Fähigkeit zur Kunst und
insbesondere zur Erschaffung imaginärer oder fiktionaler
Welten" (ebd.)
.
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
|