Idealtypen für die Dramenkomposition
Seit der Arbeit von
Volker Klotz (1960) unterscheidet man im Allgemeinen zwei
verschiedene ▪
Formtypen
des Dramas, bei denen die "unterschiedliche Ausgestaltung
der dramaturgischen Formparameter von Handlung, Personal, Raum,
Zeit, Sprache und Komposition" (Boehnisch
2012, S. 138) einander gegenübergestellt werden.
Grundsätzlich darf diese Konstruktion von Idealtypen freilich
nicht so verstanden werden, als ob sich damit die tatsächliche
Vielfalt von Dramenformen erfassen ließe. Trotzdem können die in
dem dichotomischen Ansatz zugrundeliegenden Kategorien für die
Analyse von Dramen sehr hilfreich sein.
Unter literaturdidaktischer Perspektive gilt
dies um so mehr. Noch wichtiger erscheint in diesem
Zusammenhang, dass den Schüler*innen bei der Beschäftigung z. B.
mit dem Formtyp des geschlossenen Dramas ersichtlich wird, wie
die im geschlossenen Drama szenisch präsentierte Ideenwelt mit
ihrer "idealistischen Ideologie von Harmonie, Mäßigung und
Ausgewogenheit" (Boehnisch
2012, S. 139) sich in den streng stilisierten
Kompositionsprinzipien des Dramentyps bis hin zur sprachlichen
Gestalt mit ihrer "austarierten und zu Sentenzen neigenden
Figurenrede" (ebd.,
S.140) niederschlägt.
Tabellarischer Vergleich: Geschlossene und offene
Form des Dramas
Grundsätzlich darf die Konstruktion von Idealtypen freilich
nicht so verstanden werden, als ob sich damit die tatsächliche
Vielfalt von Dramenformen erfassen ließe. Solche Bedenken
veranlassen
Asmuth (62004, S.49) daher auch zu, die geschlossene und
die offene Form des Dramas "als summarische Bezeichnungen formaler
Komponentenbündel" anzusehen, die "einen brauchbaren
Orientierungsrahmen" abgeben können.
Trotzdem können die in
dem dichotomischen Ansatz zugrundeliegenden Kategorien für die
Analyse von Dramen sehr hilfreich sein.
|
Geschlossene Form |
Offene Form |
Handlung |
|
-
Szenen besitzen relative Autonomie und damit ein
Eigengewicht
-
Zusammenhang der Szenen (Kohärenz) wird
mit
unterschiedlichen kompositorischen Elementen
hergestellt
-
mehrsträngige Fabel (multiple Plotstrukturen,
Polymethie)
-
ohne finale Ausrichtung der Handlung und ohne
Fokussierung auf eine dramatische Gesamtidee
|
Zeit |
|
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Raum |
|
-
Vielheit der Orte, Schauplätze und Räume
-
keine räumlichen Begrenzungen
-
Ortswechsel häufig
-
Ort nimmt als dynamische Größe Einfluss auf des
Verhalten der Figuren (Katalysatorfunktion)
|
Personal / Figuren |
-
geringe Figurenanzahl
-
ohne Massenszenen
-
Protagonist und Antagonist als zentrale Figuren
umgeben von einem symmetrisch, aber
antagonistisch konzipierten Kreis von Begleitern
und Vertrauten
-
Ständeklausel
-
autonome, rational
orientiert und zur Selbstreflexion fähige Charaktere mit einer komplexen
Innenwelt, die sich entwickeln können
|
-
unbegrenzte Figurenzahl
-
zahlreiche Neben- und Randfiguren
-
Standeszugehörigkeit bedeutungslos
-
Figuren sind von ihrer Herkunft, Milieu und dem
sie sonst wie prägenden gesellschaftlichen
Kontext sowie der Fülle, der auf sie
einwirkenden Elemente in ihrer Wahrnehmung,
ihrem Horizont und ihrer Gefühlswelt beschränkt
-
Welt als anonymer Antagonist, Figuren als Opfer
der Umstände
|
Sprache |
-
einheitlicher, in der Regel erlesener,
regelhafter gehobener Sprachstil
-
Versform bevorzugt
-
rhetorische Sprachgestaltung mit sprachlich
austarierter und zu
Sentenzen neigender Figurenrede
-
häufig hypotaktische Satzstrukturen, die den
Reflexionsgrad der Figuren und die Komplexität
der das Drama tragenden Idee ausdrücken
-
Dialog als Rededuell (Stichomythie)
-
geringe Bedeutung von Mimik und Gestik und
andere nonverbale Ausdruckselemente
-
Welt ist sprachlich rational erfassbar (daher
auch keine szenischen von Gewaltdarstellungen)
-
stilisierte Kunst-Sprache kann Gegensätze der
Realität aufheben und Harmonie herstellen
|
-
kein einheitlicher Sprachstil (Stilpluralismus)
-
Prosaform
-
Umgangssprache mit Tendenz zu kurzen Hauptsätzen
(Parataxen)
oder
Ellipsen
-
große Bedeutung der Körperlichkeit der Figuren
und ihres mimisch-gestischen Verhaltens
-
Welt ist mit Sprache allein nicht zu fassen
-
Sprache angefüllt mit leeren Floskeln,
zerbrochenem Satzbau, die die fragmentierte und
in sich widersprüchliche Weltsicht nahezu
eigendynamisch ausstellt
|
Komposition |
-
von der Gesamtheit der allgemeinen vorgestellten
Idee bestimmt
-
Ausschnitt als Totalität von Welt:
Ausschnitt als Ganzes
-
Teile können nicht weggelassen oder ausgetauscht
werden
-
Vorgeschichte in der
▪
Exposition
-
Einteilung in Akte, ▪
konventionell 5 Akte, aber auch als
Dreiakter
-
hierarchische Ordnung von Akten und Szenen
-
Proportionalität z. B. beim Figurenarsenal
-
fein abgestimmte Analogien
-
Symmetrien: symmetrische Architektur,
symmetrisches Gleichgewicht o. ä.
|
- aspekthafte Darstellung einer
fragmentierten, von Widersprüchen geprägten,
zusammenhanglosen Welt
- unvermittelter Anfang und offenes,
unvermitteltes Ende
- Verknüpfung der Szenen durch
rekurrente dramaturgische Prinzipien, z. B.
durch
- Komplementäre, um ein Thema kreisende
Handlungsstränge
- Variation und Opposition der Szenen
- zyklische Muster der Szenenfolge oder
Wiederholungen bestimmter Elemente
- Leitmotive, metaphorische Bildketten
- Isotopien: kleinste als Ganzes Bedeutung
tragende dramatische Einheiten, die aus
einer Struktur sprachlicher und
nichtsprachlicher (theatralischer) Zeichen
bestehen
- aber auch: bewusste Betonung des
Ausschnitthaften bzw. Fragmentarischen einer
Szene (Aposiopese)
|
(vgl. u. a.
Klotz 1960;
Pfister 1977;
Müller 1988;
Asmuth 62004; Boehnisch
2012,
Fricke/Zymner 1993;
Schößler 2017,
Becker/Hummel/Sander 22018)
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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