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Tragödie
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Überblick
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▪ Antike griechische Tragödie »
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Die
Lehre von den drei Einheiten
Tragödie und Komödie
»Aristoteles
(384-322 v. Chr.) hat sich
in den von seiner »Poetik
erhaltenen Teilen bei den ▪ dramatischen
Formen vorwiegend mit der ▪
Tragödie beschäftigt. Was er von der (alten) Komödie dachte,
die beim in der griechischen Antike sehr beliebt war, weil sie,
zumindest nach der Demokratisierung der Polisverfassung im 5.
Jh. v. Chr., "die Laster und Schadtaten der politischen Klasse
in kaum überbietbarer Schärfe an(prangerte)" und "deren
Repräsentanten mit Spott und Hohn (überschüttete)" (Brauneck
2012, S.15) ist verlorengegangen. Daher entwickelt
Aristoteles seine Vorstellungen von den Merkmalen und Strukturen
der Tragödie nicht, oder nur in geringem Maße in Abgrenzung von
der Komödie.
Gesellschaftlich und beim Publikum hatte aber auch die
Komödie eine wichtige Bedeutung. So wurden beispielweise während
der ▪
Großen Dionysien, dem Fest zu Ehren des Gottes »Dionysos,
das
»Peisistratos (um 600–528/527 v. Chr.)
zu einem Staatskult gemacht hatte, an den fünf Tagen, die das
Fest gewöhnlich dauerte, ab 486 v. Chr. am zweiten Festtag fünf
Komödien aufgeführt, die wie die Aufführungen der
▪ Tragödientetralogien an den nachfolgenden drei Tagen in einem
Wettbewerb gegeneinander antraten.
Was Aristoteles zur Abgrenzung der beiden dramatischen
Gattungen heranzieht, bezieht sich vor allem auf die
Verschiedenheit der Figuren bzw. Charaktere, die in ihnen
auftreten:
"Die Komödie", so heißt es bei ihm, "sucht schlechtere, die Tragödie
bessere Menschen
nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen."
(Aristoteles,
Poetik, 2. Kap., S.9), wobei sich das Schlechte bei Komödie "nicht
im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit" (ebd.,
Kap.5, S.17) bezieht, "sondern nur insoweit, als das Lächerliche
am Hässlichen teilhat." (ebd.)
Das Lächerliche war für ihn "ein mit Hässlichkeit verbundener
Fehler. der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht".
(ebd.)
Wahrscheinlich ist mit "schlechteren" und "besseren" Menschen
eine moralische Wertung verbunden, die Begriffe können aber
(darüber hinaus) auch mit einer ständischen Bedeutung konnotiert
worden sein und den den Gegensatz zwischen gewöhnlichen und
edlen bzw. bedeutenden Menschen ausdrücken. (vgl.
Asmuth 62004, S.27)
Merkmale und Strukturen der Tragödie
Aristoteles folgt bei seiner Darstellung der Tragödie einem
normativ-deskriptiven Ansatz, d. h. er beschreibt, welche
Merkmale und Strukturen eine Tragödie haben sollte, wenn sie
eine tragische Wirkung auf den Zuschauer bzw. Leser haben soll.
Seine Wirkungstheorie (▪
Katharsis-Lehre)
fußt dabei auf der Gestaltung und Kombination von bestimmten
Elementen der Kunstform: Die Katharsis in der ▪
Tragödie,
die Evokation und Reinigung von ▪ Schrecken und Jammer (Schrecken
und Mitleid, Furcht und Mitleid) funktioniert eben nicht mit
allen möglichen ästhetischen Gegenständen, so seine Überzeugung.
Sein Interesse richtet sich hauptsächlich darauf, wie das
Kunstwerk Tragödie beschaffen sein muss, damit es die behauptete
Wirkung haben kann.
Jede Tragödie besteht danach auch sechs Teilen: "Mythos,
Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und
Melodik."
(ebd.,
Kap. 6, S.21)
-
Der Mythos
ist dabei "Fundament und gewissermaßen Seele der Tragödie" (Aristoteles,
Poetik,
S.23). Dabei steht der Begriff des Mythos für "die Nachahmung
von Handlung" und "die Zusammensetzung der Geschehnisse" (ebd.,
S.19) und das Ziel der Tragödie ist es, diesen Mythos zur
Darstellung zu bringen. (vgl.
ebd.,
S.21) Der aristotelische Begriff des Mythos "meint den
Ereigniszusammenhang eines Dramas, seine Fabel, hebt also
nicht im Sinne des heute üblichen auf die Bestimmung eines
vorhistorischen, religiös-archaischen Weltbildes ab." (Allkemper/Eke
22006,S. 113) Zugleich schließt der dem
Mythos zugrundeliegende Handlungsbegriff äußere "Taten"
ebenso ein wie Affekte, Emotionen und Leidenschaften.
-
Die Charaktere,
die letztlich nur dazu da sind, bestimmte Handlungen
nachahmen zu können, stehen bei Aristoteles "an zweiter
Stelle" (ebd.,
S.23) Dabei müssen sie in der Tragödie vier Merkmale
aufweisen, nämlich Ähnlichkeit, Gleichmäßigkeit,
Angemessenheit und Tüchtigkeit (vgl.
ebd.,
S.47).
Die drei ersten Merkmale sind
"formalästhetischer Art" und "können auch außerhalb der
Tragödie Geltung beanspruchen" (Asmuth
62004, S.93), besagen sie doch, "dass der
Charakter einer Dramenperson mit deren sozialer Rolle, mit
der geschichtlichen Überlieferung und mit sich selbst
übereinstimmen soll."
(ebd., S.93f.) Mit anderen Worten, und sicher dadurch verkürzt:
Tragische Charaktere dürfen keine bloßen Schufte sein, was
sie tun und wie sie handeln, muss zu ihrem tragischen
Charakter passen, die Beweggründe ihres Handelns müssen den
sittlichen Vorstellungen der Zuschauer bzw. der
dargestellten Heroen wirklich ähneln und ihr Handeln muss
über die ganze Handlung hinweg stimmig bleiben.
Die Forderung nach Tüchtigkeit zielt
indessen auf die "Eigenart des Charakters selbst".
(ebd., S.94) Der Begriff zielt dabei im Kern auf eine
Tugend, die in Verbindung mit der ▪
tugendethischen
»Arete
(altgriechisch
ἀρετή
aretḗ), der ▪
Vortrefflichkeit, gebracht werden kann und zugleich auch
die moralische Bewertung der "besseren
Menschen" in der Tragödie aufnimmt.
Das Erreichen des Glücks ist auch von der Vortrefflichkeit, abhängig, die in der griechischen Philosophie im
Allgemeinen als Voraussetzung gelungenen Lebens angesehen wurde. Für
Aristoteles ist darüber hinaus nur das Leben gelungen bzw. ist derjenige
ein guter Mensch, der ein vernunftgeleitetes Leben führt.
Der Tragödienautor stellt also als Produkt einen ästhetischen Gegenstand (Drama)
her, der auf den genannten Voraussetzungen beruht und die genannten Ziele anstrebt.
Gegenstände, die diese Bedingungen erfüllen, müssen nach bestimmten Regeln konstruiert
werden (Regelpoetik).
Die wichtigste Regel ist die der
Naturnachahmung
(mimetisches Prinzip). Gegenstände der Dichtung müssen so gestaltet sein, dass
sie natürlichen Dingen und Personen nachgebildet sind (Prinzip der Naturnachahmung,
mimetisches Prinzip,
Plausibilitätsprinzip: nichts Unwahrscheinliches
zur Darstellung bringen)
Aristoteles, der in der
Dramenhandlung
eine Anreihung zahlreicher Episoden aus dem Leben eines Helden sieht,
stellt dabei die Forderung auf, dass die Handlung "wahrscheinlich" bzw.
"notwendig" wirken muss. Seine Forderung zielt dabei jedoch nicht auf "Wirklichkeitsgemäßheit
oder Möglichkeit, sondern auf innere Schlüssigkeit" (Asmuth
62004, S.149)
Dichtung im allgemeinen und das Drama bzw. die Tragödie im besonderen bauen
dabei auf dem quasi "natürlichen" Nachahmungslernen des heranwachsenden Menschen und
dessen Freude daran auf (vgl.
ebd., S.11). Was den Zuschauern auf der Bühne geboten wird, sollte
daher auch "wahrscheinlich" erscheinen.
Das mimetische Prinzip bestimmt dabei auch andere Strukturen
der Tragödie. Dazu zählt auch die Vorstellung von den
sogenannten drei Einheiten, die im
»Renaissance-Humanismusund
im deutschen Sprachraum vor allem durch »Martin
Opitz (1597-1639) und »Johann
Christoph Gottsched (1700-1766) später zur unverzichtbaren normativen ▪
Lehre von drei Einheiten gemacht
wurde.
Aristoteles selbst hat der normativen Setzung
einer Regel von den drei Einheiten offensichtlich auch deshalb
kein solches Gewicht gegeben, weil die Inszenierungen auf den
Freilichtbühnen seiner Zeit kaum etwas anderes zuließ und z. B.
der ▪ Chor ohnehin während
der gesamten Aufführung eines antiken Dramas bzw. einer ▪
antiken griechischen Tragödie
auf der Bühne war.
Die drei Einheiten bei Aristoteles
Aristoteles unterscheidet drei so genannte
Einheiten, Strukturen also die auf einer einzigen Struktur
basieren, an die die Tragödie als logische Konsequenz des
mimetischen Prinzips gebunden ist.
-
Einheit der Zeit (=
Begrenzung auf einen Tag von Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang)
-
Einheit des Ortes
(= Schauplatz darf
im Rahmen einer dramatischen Handlung nicht gewechselt werden)
-
Einheit der Handlung (= Ganzheit,
keine Episoden oder Nebenhandlungen)
Die ▪
Lehre von den drei Einheiten verwechselt aber, und darin
liegt ihre grundsätzliche Problematik, dass der Raum und die
Zeit der dramatischen Handlung fiktiv sind, während die Zeit, in
der sich die Zuschauer befinden, real ist. Zudem lässt sich die
von den Vertretern des französischen Klassizismus unter Berufung
auf Aristoteles eingeführte Lehre mit dem, was Aristoteles in
seiner Poetik ausgeführt hat, nicht so ohne Weiteres zur Deckung
bringen. »Friedrich
Hebbel (1813-1868), Magdalena (1843) oder verschiedene Dramen
Henrik Ibsens (1828-1906)
Weitere Strukturmerkmale der Tragödienform sind
nach Aristoteles :
-
Ständeklausel (Nachahmung "edler"
Handlungen der politisch-sozialen Elite, deren Mitglieder bedeutende und existentielle
Probleme übersehen und in grundlegenden Wertekonflikten stehen können)
-
Fallhöhe ("Sturz" des tragischen Helden
aus sozial hochrangiger Stellung als Voraussetzung der tragischen Wirkung)
-
Unverdientheitsklausel (nur
unerwartete und unverdiente Schicksalsschläge eignen sich für die tragische
Wirkung)
Die Bedeutung des
tragischen Helden
Dem tragischen Helden kommt in dem "hochartifiziellen Form-
und Kommunikationsgefüge" (Brauneck
2012, S.43) der Tragödie eine herausragende Rolle zu.
-
Er verstrickt
sich in den klar konturierten Konfliktsituationen der
Handlung heillos. Dabei darf die Handlung, um die für den
kathartischen Prozess nötige Affekterregung von Jammer und
Schaudern zu bewirken, nach Aristoteles keinen "makellosen Männer"
zeigen, bei denen Glück ins Unglück umschlägt, auch nicht zeigen,
"wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben"
(Aristoteles,
Poetik, S.39), es darf aber auch nicht gezeigt werden, "wie
der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück ins Unglück
erlebt" (ebd.),
weil solche Darstellungen nur andere Affekte, aber nicht die
für die Katharsis nötigen Affekte Jammer und Schrecken
evozierten.
-
Sein
Schicksal verdeutlicht den Widerstreit zwischen göttlicher
und menschlicher Ordnung, von schicksalhafter Fügung und
individueller Tat" (Brauneck
2012, S.43) Wenn der Held am Ende tragisch zu Fall komme, so
Aristoteles, geschehe dies nicht "trotz seiner sittlichen
Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens",
aber auch nicht weil er "wegen seiner Schlechtigkeit und
Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen
eines Fehlers"
(Aristoteles,
Poetik S.39) Dieser Fehler (hamartía)
ist dabei nicht als "ein moralisches, sondern ein
intellektuelles Versagen gemeint, nicht Schuld im Sinne
eines bewussten sittlichen Fehlverhaltens, sondern Irrtum."
(Asmuth
62004, S.33) Dass der Held sich irrt, soll ihn
aber "nicht von der Verantwortung für die schlimmen Folgen
entbinden." (ebd.)
-
Dadurch dass
er aber letzten Endes nur einen "existenziellen Entwurf" (ebd.,
S.44) für die Lage des Menschen "zwischen Göttlichkeit und
Menschlichkeit" (Brauneck
2012,
S.45) darstellt, bleibt er den zeitgenössischen Rezipienten
der Tragödie auch "im Grunde fremd" (ebd.,
S.44) und trägt damit dazu bei, dass der Zuschauer in die
nötige Distanz versetzt wird, um sich dem
"Reflexionspotential [der Tragödie, d. Verf.] zu stellen und
vom Schrecken und Schaudern darüber nicht überwältigt zu
werden." (ebd.,
S.43)
Heroen haben gewöhnlich eine Herkunftsgeschichte, was ihnen
selbst eine gewisse Historizität gibt, auch wenn die Zeit, aus
der sie stammen sehr, sehr weit zurückliegt. Immer aber lässt
sich ihre Biografie irgendwie auf göttliche Abstammung
zurückführen und ihr Leben ist gekennzeichnet von "vielfach
ausgeübter und erlittener Gewalt", von "Tabubrüchen jedweder
Art, die den Heros in eine Sphäre außerhalb kultureller, gar
moralischer Konventionen versetzen". (ebd.,
S.44)
Auch wenn der tragische Heros dem Zuschauer fremd war, weil
er ein Menschenbild verkörperte, das mit dem Denken seiner Zeit,
das die Allmacht der Götter schon zu entzaubern begonnen hatte,
kaum mehr in Einklang zu bringen waren, gehört der tragische
Held aber weiterhin zum kulturellen Gedächtnis der Bürger der
athenischen Polis und dient ihnen als "Projektionsfläche, die
das politische und moralische Selbstverständnis der Polis
überprüfen lässt." (ebd.,
S.46)
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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