▪
Die Lehre von den drei Einheiten
▪ Die antike
griechische Tragödie
Affekte und Tugenden bei der Verwirklichung menschlichen
Strebens nach Glück
»Aristoteles
(384-322 v. Chr.)
hat seine Auffassungen über die Kunst bzw. Dichtung im Allgemeinen, die
Tragödie und das Epos nach seiner Rückkehr aus »Makedonien
(336 v. Chr.), wo er 343 v. Chr. von »König
Philipp II. (382-336 v. Chr.) zum Erzieher seines Sohnes Alexander,
dem späteren »Alexander
dem Großen (356-323 v. Chr.), berufen worden war, niedergeschrieben.
In seinem, nur in Teilen erhalten gebliebenen Werk »Poetik
schriftlich niedergelegt, einem, wie ihr Übersetzer Manfred
Fuhrmann
(1992, S.145) betont, vergleichsweise "spröde(n) Werk (...), das
sich wie kaum ein zweites einer knappen und sprunghaften
Darstellungsweise befleißigt", weil es wohl eher als eine Art
Vorlesungsskript oder als Gedächtnisstütze für weitere Forschungen in
seiner eigenen Schule (Lykeion bzw. Peripatos) gedacht war als für eine
wissenschaftlich-philosophische Veröffentlichung. (vgl.
ebd.)
Das Werk, das einem deskriptiven Ansatz folgend, Normen für die Kunst
und Dichtung setzen sollte, erweckt zwar, weil in ihm nirgendwo auf
andere Autoren oder deren Lehren verwiesen wird, "den Anschein größter
Voraussetzungslosigkeit" (ebd.,
S.155), hat aber dennoch "einen geschichtlichen Horizont" (ebd.),
zu dem es in verschiedenen Bezügen steht.
Geistesgeschichtlich ist es wohl vor allem eine Auseinandersetzung mit
der philosophischen »Ideenlehre
seines Lehrers »Platon
(428/427-348/347 v. Chr.) auf dem Gebiet der Poetik, zugleich nimmt
er aber auch
wirkungsästhetische Überlegungen des Sophisten »Gorgias
(483-375/374 v. Chr.) zur Tragödie auf.
Insbesondere ging es ihm dabei wohl auch darum, "die platonische
Verurteilung der Kunst zu widerlegen" (ebd.,
S.152) und die von diesem vorgenommene "gänzlich negative Bewertung
der Affekte" (ebd.,
S.153) aus Sicht seiner eigenen Ontologie und Ethik zu revidieren.
Für Aristoteles gehörten ▪ Affekte
zur menschlichen Existenz. Sie stehen dem Streben des Menschen nach
Glück (»eudaimonia)
unter den gesellschaftlichen Bedingungen der antiken Gesellschaft und
des antiken Staates nicht grundsätzlich entgegen, müssen aber
kontrolliert, gesteuert und "gezügelt" werden, da der Mensch ansonsten
von seinen Leidenschaften bestimmt wird. Dies gilt insbesondere dann,
wenn diese ohnehin zweifelhaft oder schädlich sind, wie z. B. der Gier
nach Macht, Reichtum oder was auch immer. Erst wenn die naturgegebenen
Affekte auf das rechte Maß (»Mesotes-Lehre)
gebracht werden, entfalten auch Affekte erst ihre für den Menschen
wichtigen existentiellen und sozialen Funktionen und können somit sein
Streben nach nach Glück (»eudaimonia)
unterstützen.
Tugenden
(Verstandes- und Charaktertugenden) sind das Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei ist
für Aristoteles das Tugend, was in der Regel die Mitte zwischen
zwei verschiedenen, mehr oder minder polaren Handlungsalternativen
darstellt. (▪ Prinzip der Mitte; z.B. Tapferkeit als Tugend zwischen
den Handlungsalternativen Tollkühnheit und Feigheit).
Von diesen Grundgedanken ist die
Dramen-, besser gesagt die Tragödientheorie (die Teile zur Komödie in
seiner Poetik sind verloren gegangen,) von Aristoteles zu begreifen.
Wenn von der Dramentheorie von Aristoteles die Rede ist, dann geht es
meist um
die wirkungsästhetische Funktion der ▪
Tragödie,
die sich, in knappe Worte gefasst, so formulieren lässt: Die Wirkung der Tragödie besteht in der Erregung
und Reinigung der Affektzustände Furcht und Mitleid, denen in der
Gesamtheit der Affekte eine Schlüsselstellung zugewiesen wird.
Was die Tragödie bewirkt, ist die lustvolle
Reinigung der von der tragischen Handlung erregten Affekte Furcht
und Mitleid. Ein Vorgang, der dadurch zur sittlichen Vervollkommnung
des zoon politikon beiträgt, dass er die beiden Affekte wieder in ihre
Normallage zurückversetzt (also keine Herstellung von etwas Neuem).
Dieser Vorgang wird als Katharsis bezeichnet, ein Begriff der
ursprünglich aus der Medizin stammt. Hinter dem Gedanken von einer
kathartischen Wirkung der Tragödie steht die Vorstellung eines
komplexen, intrapsychisch verlaufenden, kognitiven und emotionalen
Verarbeitungsmechanismus bestimmter Informationen.
Kern der ▪ aristotelischen
Katharsis-Lehre ist dabei die Auffassung, dass es sich dabei um "ein(en)
ganzheitlich verstandene(n) Reinigungsprozess" (Brauneck
2012, S.35) handelt, der sich kognitiv und psychisch
abspielt. Dabei stellt es für den Zuschauer "eine elementare Erfahrung"
dar, " ein komplexes (...), traumatisches, aber eben auch lustvoll
wahrgenommenes Ereignis", bei dem der Zuschauer zwar "die Leiden anderer
mit(erlebt) und (...) dadurch in (...) Affektlagen von Schrecken und
Schaudern (gerät)", aber "durch die Kunstform der Tragödie (...) werden
dies Affekte (jedoch) in ein lustvolles Erlebnis transformiert." (ebd.)
»Aristoteles
(384-322 v. Chr.)
sah im Gegensatz zu seinem Lehrer »Platon
(428/427-348/347 v. Chr.) in Affekten nichts Negatives.
-
In Platons Denken
hingegen, in seiner »Ideenlehre
ebenso wie in seiner »Staatsphilosophie,
hatten Affekte keinen Platz. Seine Zwei-Welten-Theorie,
die davon ausging, dass eine Welt unveränderlicher Ideen, die nur
mit reiner Vernunft erkennbar ist, und eine Welt des Vergänglichen,
des gemeinhin Sichtbaren und Wahrnehmbaren einander gegenüberstehen,
wies der Vernunft die Schlüsselrolle zu, um die Idee des Guten zu
verwirklichen. Affekte konnten dar nur im Wege stehen. Und da
Dichtung ohnehin nur Trugbilder erzeuge und daher auch nicht
ohne Wenn und Aber Wahrheit vermitteln und zur sittlichen
Vervollkommnung beitrage, sei sie auch als Ganzes verwerflich. Er
unterstellte der Dichtung, dass sie sich "einzig an die niederen
Kräfte der Seele, an die Triebe und Leidenschaften (wende), (...)
unvernünftig handelnde, von Leidenschaften erfüllte Menschen
dar(stelle)" und "den Leser oder Zuschauer (veranlasse), mit diesen
Menschen zu klagen und zu jammern und hierbei sogar Vergnügen zu
empfinden." (Fuhrmann
1994, S.157) Was Dichtung also am Ende bewirke sei nichts
anderes als die Zerstörung der Vernunft, ihr Geschäft Lug und Trug.
So ist die Liste seiner Argumente gegen Dichtung lang. Es könne
nicht angehen, dass man die Götter einander bekriegen lasse und die
Götter für menschliches Leid verantwortlich machen oder sie ganz
offensichtliche Täuschungen begehen lasse. Und ihre Heroen, die
nichts anderes zu tun hätten, als über den Tod Nahestehender zu
jammern und damit Verweichlichung förderten, seien selbst von
Affekten getrieben, "unbeherrscht, bestechlich, habgierig, aufsässig
und grausam" (ebd.,
S.158) Und wenn, wie in der Dichtung häufig dargestellt, sogar
"Ungerechte oft glücklich, Gerechte hingegen glücklich seien" (ebd.)
dann stand für Platon nicht nur die Welt kopf, sondern dadurch wurde
die sittliche Ordnung der Gesellschaft zerstört. "Zugespitzt", so
betonen
Allkemper/Eke (22006, S. 114), "wird dies zu der
Vorstellung, dass die Dichter lügen."
Und auch seine
Vorstellung von einem Idealstaat, oft einfach als Philosophenrepublik bezeichnet, passte überhaupt nicht zu
triebhaften Affekten. Denn das ganze Gemeinwesen, von seiner
Einteilung in die drei Stände (Lehrstand an der Spitze, gefolgt vom
Wehrstand und dem Nährstand der "einfachen" Bürger, Handwerker und
Gewerbetreibenden) und die herausragende Stellung der »"Philosophenkönige"
und deren 50-jährige Ausbildung war ein Modell, das allein über
seine vernunftgemäße Einrichtung den bestmöglichen Staat
verwirklichen sollte.
Und das verlangte gerade auch von dem
sogenannten Nährstand, der am ehesten Begehrlichkeiten folgte,
Mäßigung. Kein Wunder also, dass Platon für Massenveranstaltungen,
die wie die in den antiken Theatern mit ihren schauspielerischen und
musikalischen Darbietungen fragwürdige und schlechte Affekte
bedienten und dazu noch charakterlich fragwürdige oder schlechte
Personen auftreten ließen, wenig übrig hatte und das Drama, aber
auch das Epos, rundherum
ablehnte. Wenn Dichtung, so seine Forderung, dann nur als
"gereinigte Zweckpoesie in der einfachen Form des Hymnus" (ebd.)
Zu den Lebzeiten von
Aristoteles hatten sich die Dramen und die Theateraufführungen im
Gegensatz zur klassischen Zeit schon deutlich gewandelt. Mehr und
mehr waren die Stoffe und die ihnen zugrundeliegenden Mythen in der
»hellenistischen
Zeit "zu einem frei verfügbaren Stoff- und Motivfundus geworden"
(Brauneck
2012, S.36), hatte sich das Interesse des Publikums von den
Leiden der tragischen Heroen, die das Thema der klassischen
Zeit gewesen waren (vgl.
ebd.,
S.47), ab- und den "Schicksale(n) von Alltagsmenschen" (vgl.
ebd.,
S.46) zugewendet.
Zugleich hatte es längst begonnen, die ehemals
mythischen Helden unter dieser neuen Perspektive wahrzunehmen. Die
neue Rezeptionsform der Tragödie ging einher mit der allgemeinen
Aufwertung der Schauspielkunst und der Bedeutung der Protagonisten,
deren Seelenleben und individuellen Konflikte sich in einem ebenso
individuellen Theatererleben des Zuschauers niederschlug. (vgl.
ebd.,
S.36)
Die klassische Funktionsbestimmung der
Tragödienvorführungen, deren kollektive Rezeption zur
Identitätsstiftung und zur Sicherung des gesellschaftlichen
Zusammenhalts in einer durch viele Kriege nach außen und interne
Konflikte fast immer bedroht war, beitragen sollte, war in der Theaterrealität, wie sie
Aristoteles erlebte, längst in den Hintergrund getreten.
Was »Euripides
(480-406 v. Chr.), dessen Tragödien von einem "radikale(n)
Verzicht auf Idealisierung des Menschen" (Hose 2012,
S.181) gekennzeichnet waren, auf die Bühne brachte, folgte schon
einem modernen Menschenbild: Seine Protagonisten scheitern an
Widersprüchen, die sich aus ihrem gelebten Leben und seinen
Bedingungen ergeben und erleiden "nicht mehr ein durch
Determination und Götterfluch vorherbestimmtes Schicksal." (Brauneck
2012,
S.36) Die Konflikte, in die seine Protagonisten geraten,
resultieren aus Schwächen und einem Versagen, nicht aber aus Hybris
oder einem prinzipiell vermeidbaren menschlichen Fehler (hamartía).
Und die Götter? Sie haben "prinzipiell dieselben Schwächen wie die
Menschen", die wie bei Sophokles nicht auf einen anthropologisch
konstanten und "festen Wesenskern" (Hose 2012,
S.181) festgelegt sind, sondern von den Umständen, aber auch dem
Zufall, bestimmt werden.
All dies und
andere Aspekte führen dazu, dass für Aristoteles die Tragödie
und ihr Spiel mit den Affekten, ohnehin, keinen,
jedenfalls nicht unmittelbaren
politisch-pädagogischen Zweck mehr besaß (vgl.
Brauneck
2012, S.36) und auch den Heroen "überhaupt keine religiöse
Bedeutung mehr zu(kam)" (Fuhrmann
1994, S.160).
Für Aristoteles
wie für viele Zeitgenossen waren die "poetischen Götter und
Heroen zu bloßen Namen" (ebd.) geschrumpft und "zu Symbolen
umgedeutet." (ebd.)
Und aus diesem Grunde nahm er die in der Tragödie aufgebotenen,
poetischen Götter, anders als sein Lehrer Platon, auch
theologisch "nicht mehr ernst" (ebd.).
Deutlicher konnte er sich wohl kaum, auch auf dem Gebiet der
Poetik von der "ontologisch begründeten Deklassierung der
Dichtung" (ebd.,
S.159) seines Lehrers Platon distanzieren.
Vielzitiert, weil grundlegend für die Tragödientheorie von
Aristoteles, ist seine Definition in seinem Werk »Poetik,
wo es heißt"
"Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich
geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend
geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen
Abschnitte je verschieden angewandt werden - die Nachahmung von
Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammern und Schaudern
hervorruft und hierdurch eine Reinigung [griech. κάθαρσις
kátharsis] von derartigen Erregungszuständen bewirkt."
(Aristoteles,
Poetik, 6. Kap., S.19)
In einer ▪
Tragödie kann und soll dargestellt werden, was Furcht und
Mitleid erregen und im Prozess der Katharsis "reinigen" kann.
Hierzu sind nicht alle ästhetischen Gegenstände geeignet.
Um zu verstehen, weshalb Aristoteles bestimmte Regeln und
Strukturen der Tragödie für unerlässlich hält, muss man wissen,
wie seiner Vorstellung nach die angestrebte Katharsis beim
Zuschauer in Gang kommt. Dabei ist wichtig zu sehen, dass
Aristoteles sich nicht damit befasst, was der Zuschauer als
Rezipient des Stückes leistet, d.h. welche konkreten psychischen
Vorgänge die Rezeption steuern. Sein Interesse richtet sich
hauptsächlich darauf, wie das Kunstwerk Tragödie beschaffen sein
muss, damit es die behauptete Wirkung haben kann. Die
aristotelische Katharsis soll sich also ohne Einwirkung auf den
psychischen Prozess des Zuschauers vollziehen.
Der Tragödienautor stellt als Produkt einen ästhetischen Gegenstand
(Drama) her, der auf den genannten Voraussetzungen beruht und die
genannten Ziele anstrebt. Gegenstände, die diese Bedingungen erfüllen,
müssen nach bestimmten Regeln konstruiert werden (Regelpoetik).
-
Die wichtigste Regel ist die der
Naturnachahmung (mimetisches
Prinzip). Gegenstände der Dichtung müssen so gestaltet sein, dass sie
natürlichen Dingen und Personen nachgebildet sind (Prinzip der
Naturnachahmung, mimetisches Prinzip, Plausibilitätsprinzip:
nichts
Unwahrscheinliches zur Darstellung bringen) Dichtung im allgemeinen und das Drama bzw. die Tragödie im besonderen
bauen auf dem quasi "natürlichen" Nachahmungslernen des
heranwachsenden Menschen und dessen Freude daran auf.
Die Tragödienform ist auf der Basis des mimetischen Prinzips an
die sogenannten drei Einheiten gebunden (▪ Lehre von den drei Einheiten):
Weitere Strukturmerkmale der Tragödienform sind :
-
Ständeklausel (Nachahmung "edler" Handlungen der
politisch-sozialen Elite, deren Mitglieder bedeutende und
existentielle Probleme übersehen und in grundlegenden Wertekonflikten
stehen können)
-
Fallhöhe ("Sturz" des tragischen Helden aus sozial
hochrangiger Stellung als Voraussetzung der tragischen Wirkung)
-
Unverdientheitsklausel (nur unerwartete und unverdiente
Schicksalsschläge eignen sich für die tragische Wirkung)
▪
Die Lehre von den drei Einheiten
▪ Die antike
griechische Tragödie
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
19.12.2023
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