Das von dem Mann, der den Antrag stellt, verkörperte Modell einer
ehelichen Lebensform muss nach heutigen Verhältnissen und Vorstellungen
als äußerst antiquiert bezeichnet werden.
Es entspricht aber in seinen
Grundzügen den Vorstellungen der ▪
bürgerlichen Ehe wie sie
vom 19. Jahrhundert angefangen bis Mitte des 20. Jahrhunderts durchaus
verbreitet gewesen sind. Für die Vorstellungen einer reinen
Liebesbeziehung, für das Ideal einer romantischen Liebe oder gar für Lust
und Leidenschaft war in solchen Konzepten kein Platz.
In diese Richtung zielt auch die Kritik an der bundesrepublikanischen
Wirklichkeit der späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre des letzten
Jahrhunderts, die sich dem Text entnehmen lässt.
1960, das Jahr, in dem
die Geschichte von Gabriele Wohmann erschienen ist, ist allgemein
gekennzeichnet durch den wirtschaftlichen Aufschwung in der Bundesrepublik
Deutschland, der auch die Beziehungen der Geschlechter zueinander
beeinflusste.
1958 trat das ein Jahr zuvor beschlossene Gesetz in Kraft,
das die Gleichberechtigung der Frauen und Männer endlich auch auf dem
Gebiet des bürgerlichen Rechts garantierte, nachdem zuvor schon
entsprechende Grundgesetzänderungen vorgenommen worden waren. Doch
zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Gleichberechtigung klaffte
weiterhin eine große Lücke.
Nach dem Krieg waren die Frauen, die mit ihrer unersetzlichen Arbeit in
den Trümmern des Bombenkrieges auch eine gewisse Emanzipation erlangten,
von den aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden Männern zunächst
wieder auf ihre Hausfrauenrolle zurückgedrängt worden. Und selbst wenn es
hin und wieder Tendenzen zu einer partnerschaftlichen Ehebeziehung gab,
dominierten weiterhin ausgeprägte patriarchalische Entscheidungsstrukturen
das eheliche Zusammenleben.
Hinter der Losung "Trautes Heim - Glück
allein", einem der bekanntesten Wahlsprüche dieser Zeit, verbarg sich denn
nicht nur der Rückzug ins Private, sondern zugleich auch die hinter den
Wänden solcher Privatheit fest zementierten traditionellen Rollenmuster.
"Die Hausfrau, die liebende, pflegende, heilende Hüterin des Hauses sollte
unentgeltlich die Hauswirtschaft führen, Nachwuchs gebären, die Kinder im
Sinne der herrschenden Moral erziehen und den Mann 'entlasten'. Dem Mann
als Haushaltsvorstand oblag es, im Erwerbsleben für die notwendigen
Ressourcen zu sorgen." (Glaser
o. J., Die 50er Jahre, S.81) So war es für Männer und Frauen
eine Selbstverständlichkeit ihrer persönlichen Lebensplanung, irgendwann
zu heiraten, für Frauen wurde eine Verehelichung sogar als wichtigstes
Lebensziel ausgegeben.
Wichtigste Voraussetzungen für die Ehe war auf Seiten der Frauen die
Unterordnung in der patriarchalisch dominierten Ehe und ihre
Gebärfähigkeit, auf Seiten des Mannes die Schaffung einer materiellen
Grundlage für die Versorgungsehe. Zwar konnten Frauen, sofern sie einen
selbstständigen Beruf ergreifen konnten oder durften, auch ehelos leben,
doch als "Fräulein" seine Tage zu fristen, galt noch immer als Schicksal
der "alten Jungfern", die keinen Ehemann abbekommen hatten.
Die
Vorstellung, man könne als Single ohne diese gesellschaftliche
Stigmatisierung ein erfülltes Leben führen, war zu dieser Zeit noch in
weite Ferne gerückt.
Familie und mit Einschränkungen auch die "schuldlos" kinderlose Ehe waren
die Lebensformen, die allgemein in hohem Ansehen standen. Eine "wilde
Ehe", also eine sexuelle Beziehung zwischen Männern und Frauen ohne
staatliche und kirchliche Legitimation, war verpönt.
Solche Beziehungen
führten vor allem "Ehefrauen, die dies jahrelangen Wartens auf ihre
vermissten oder kriegsgefangenen Männer überdrüssig waren." Sie führten
zum Entsetzen ihrer heimkehrenden Männer "ein ungebundeneres Sexualleben
und gingen so genannte 'wilde Ehen' ein", darunter viele mit den
Besatzungssoldaten der Siegermächte in Deutschland. (vgl.
ebd., S.91)
Im Zuge der weiteren Konsolidierung der Gesellschaft, "die mit der
fortschreitenden Existenzsicherung einherging, konnten sich die
althergebrachten Vorstellungen wieder durchsetzen, wie sie vor allem von
den Kirchen verkündet wurden. Diese versuchten auch, den Gebrauch
empfängnisverhütender Mittel zu unterbinden und negierten die
Notwendigkeit sexueller Aufklärung, etwa in Schulen." (ebd.)
Auch wenn bestimmte Vorboten die in den Sechzigerjahren stattfindende
sexuelle Revolution ankündigten (»Kinsey-Report 1948/1953), blieb die
Bundesrepublik lange ein "Land der Saubermänner und Unschuldslämmer"
(ebd., S.96), zumindest nach außen hin.
Zieht man diesen, in aller Kürze skizzierten Kontext zur Interpretation
der Kurzgeschichte von Gabriele Wohmann heran, so lassen sich daraus
wichtige Interpretationsaussagen gewinnen. Es erklärt sich auf diesem
Hintergrund, weshalb die Frau von dem unbekümmerten Treiben des
Liebespaares in der Öffentlichkeit (!) so in den Bann gezogen wird. Ein
solches Verhalten ist in einer Zeit, in der Sexualität nach außen hin noch
vielfach verpönt und Kommunikation über sexuelle Bedürfnisse meist noch
unmöglich waren, nur in sehr eingeschränktem Maße möglich.
Ein Leben gar
ohne Trauschein, der ja, wie die Frau meint, schnell Lust, Leidenschaft
und Unbekümmertheit verkümmern lasse, ist nicht einmal als alternative
Lebensform denkbar. Ferner erklärt der Kontext auch, was die Frau - trotz
ihres zum Teil kaum überwindbaren scheinenden inneren Widerstands, am Ende
- im Gespräch - ohne jedes Wenn und Aber zu einem klaren Ja zum
Heiratsantrag bewegt. Noch bleibt ihr, so scheint es, keine Alternative,
ja sie zieht nicht einmal in Betracht, dass eines Tages ein anderer Mann
ihr den gleichen Antrag machen könnte.