Geier
Theo SchmichGeier waren wir.
Unser Opfer war Harold. Manchmal kommt mir alles im Traume wieder.
Wir hocken auf dem Rand unserer Büroschränke. Mit kahlen, hässlichen,
lauernden Geierköpfen. Unter uns, an seinem Schreibtisch, Harold.
Mit seiner Beförderung zum Prokuristen hatte Harolds Ende begonnen. Er
strahlte an diesem Tage, schritt energiegeladen durch die Flure.
Siegessicher. Er hatte es geschafft, er würde es weiterhin schaffen.
Wir, seine Kollegen, waren jenseits allen Neides. Längst schon hatte er
uns überrundet, hatte seine Beförderung sich abgezeichnet. Unseren Neid
hatten wir hinter uns gebracht, zu einem früheren Zeitpunkt. Und
resigniert angesichts Harolds Energie. Jetzt standen wir auf. Nicht gegen
Harold, sondern um aus sicherem Abstande seinen Kampf zu beobachten.
"Ob er es schafft?"
"Kaum. Zuviel Arbeit. Und es wird noch mehr, verlasst euch
darauf!"
"Abwarten. Harold ist zäh."
Die Geier bezogen ihre Posten.
Schon bald nach seiner Beförderung erschien Harold verändert. Betont
freundlich war er bisher gewesen, frei von Launen. Nun wurde er gereizt,
fuhr seine Untergebenen an. Meist zwar fand er hinterher eine
Entschuldigung. Doch war dies nur ein Beweis dafür, wie schwer ihm bereits die
Kontrolle über sich selbst fiel.
"Was habe ich gesagt? Es wird zuviel für ihn." Vielsagend
zwinkerten wir uns zu.
Harolds rechtes Augenlid begann zu zucken. Bemerkte Harold es nicht?
Jedenfalls sah er uns beim Gespräch unbefangen an, während wir Mühe
hatten, ihm nicht ins Gesicht zu lachen. Es war zu komisch, dies zuckende
Augenlid!
Dann wurde Harold wieder stiller. Nicht eigentlich, dass er seine
Gereiztheit überwand. Nur ihre "Wogen" schlugen weniger hoch.
Harold verlor an Energie.
"Er schafft es nicht", urteilten wir einmütig und wiegten dabei
unsere Köpfe. Keine schadenfrohe Feststellung! Ein leidenschaftsloses
Urteil.
Harold hetzte von einer Aufgabe zur anderen, konnte aber nie etwas
vollständig erledigen, da sich hinter jeder dringenden Arbeit eine noch
dringendere versteckte. Seine Gesichtszüge wurden schlaffer. Die
Mundpartie bekam etwas Raubtierhaftes. Der Glanz seiner Augen wurde
matter. Doch gleichzeitig verengten sie sich zu lauernden Spalten.
"Urlaub!" sagte einer von uns.
Mit geringschätzigem Stauen sahen wir ihn an. Erkannte er die Situation
nicht? Einen Urlaub konnte Harold sich nicht leisten. Zwar, seinen Posten
erobern, hätte keiner von uns vermocht. Aber wir hätten seine Stellung
erschüttert während seiner Abwesenheit, ihm Befugnisse entrissen, uns
Entscheidungen angemaßt. Geier, die auf eine Schwäche ihres Opfers
warteten.
"Mein Arm schmerzt, meine Schulter", klagte Harold. Für einen
Augenblick empfanden wir Mitleid. Ein klagender Harold, das war neu, das
war ungewohnt. Alarmierend! Schmerzen im Arm, in der Schulter. Herz.
"Zum Arzt" sagten wir.
Harold sah uns an, durch uns hindurch. Nickte schließlich langsam als
hätte er begriffen und ging müde zurück an seinen Schreibtisch. Und er
hatte begriffen!
"Ruhe!" würde der Arzt anordnen. Teure Medikamente, jedes
Medikament hätte Harold sich leisten können. Aber keine Ruhe. Eines nur
gab es: durchhalten, die Stellung festigen, ausbauen. Dann vielleicht:
Ruhe. Andere drängten nach, auch wir. Eine Schwäche von ihm hätte uns
gestärkt. Harold wusste das.
An einem Freitag sahen wir ihn zum letzten Male. Samstags war er
zusammengebrochen. Er hatte noch gelebt, als man ihn ins Krankenhaus
schaffte. So jedenfalls hörten wir, als wir montags darauf zur gewohnten
Arbeit erschienen.
(aus: Texte aus der Arbeitswelt seit 1961, hg. v. Theodor Karst, Stuttgart:
reclam 1974, S. 81ff.) - Wir bedanken uns für das Recht, diesen Text
im Rahmen unseres Website-Angebots zu nutzen, bei Theo Schmich. – Alle
Rechte verbleiben bei dem Autor.)
→Der
Text befindet sich auch als "Leseprobe" auf der Homepage von Theo
Schmich:
www.theo-schmich.de/Lesproben/Geier.html
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.10.2020