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Arthur Schnitzler

Leutnant Gustl (1901)


[In der im Jahre 1900 entstandenen Erzählung »Leutnant Gustl« von Arthur Schnitzler (1862‑1931) wird von einem jungen Leutnant berichtet, der nach einem Konzert von einem Handwerker beleidigt worden ist. Da der Leutnant erkennen muss, dass sein Beleidiger nicht satisfaktionsfähig ist, glaubt er keine andere Wahl mehr zu haben, als sich zu erschießen. Von diesem Schicksal bleibt er jedoch dadurch bewahrt, dass der Bäckermeister noch in der gleichen Nacht, vom Schlag getroffen, eines natürlichen Todes stirbt. Der Leutnant erfährt dies, nachdem er die ganze Nacht durch Wien gezogen ist und über seine Lage nachgesonnen hat.]
 

Wie lang' wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen... schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht's denn? Wenn's einer sieht, so passt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch' ich mich nicht zu genieren... Erst viertel auf zehn?... Mir kommt vor, ich sitz' schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin's halt nicht gewohnt... Was ist es denn eigentlich? Ich muss das Programm anschauen... Ja, richtig: Oratorium! Ich hab' gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, dass man jeden Augenblick fortgehen kann. – Wenn ich wenigstens einen Ecksitz hätt'! – Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End'! Vielleicht ist es sehr schön, und ich bin nur nicht in der Laune. Woher sollt' mir auch die Laune kommen? Wenn ich denke, dass ich hergekommen bin, um mich zu zerstreuen... Hätt' ich die Karte lieber dem Benedek geschenkt, dem machen solche Sachen Spaß; er spielt ja selber Violine. Aber da wär' der Kopetzky beleidigt gewesen. Es war ja sehr lieb von ihm, wenigstens gut gemeint. Ein braver Kerl, der Kopetzky! Der einzige, auf den man sich verlassen kann... Seine Schwester singt ja mit unter denen da oben. Mindestens hundert Jungfrauen, alle schwarz gekleidet; wie soll ich sie da herausfinden? Weil sie mitsingt, hat er auch das Billett gehabt, der Kopetzky... Warum ist er denn nicht selber gegangen? – Sie singen übrigens sehr schön. Es ist sehr erhebend – sicher! Bravo! Bravo!... Ja, applaudieren wir mit. Der neben mir klatscht wie verrückt. Ob's ihm wirklich so gut gefällt? – Das Mädel drüben in der Loge ist sehr hübsch. Sieht sie mich an oder den Herrn dort mit dem blonden Vollbart?... Ah, ein Solo! Wer ist das? Alt: Fräulein Walker, Sopran: Fräulein Michalek... das ist wahrscheinlich Sopran... Lang' war ich schon nicht in der Oper. In der Oper unterhalt' ich mich immer, auch wenn's langweilig ist. Übermorgen könnt' ich eigentlich wieder hineingeh'n, zur ›Traviata‹. Ja, übermorgen bin ich vielleicht schon eine tote Leiche! Ah, Unsinn, das glaub' ich selber nicht! Warten S' nur, Herr Doktor, Ihnen wird's vergeh'n, solche Bemerkungen zu machen! Das Nasenspitzel hau' ich Ihnen herunter...

Wenn ich die in der Loge nur genau sehen könnt'! Ich möcht' mir den Operngucker von dem Herrn neben mir ausleih'n, aber der frisst mich ja auf, wenig ich ihn in seiner Andacht stör'... In welcher Gegend die Schwester vom Kopetzky steht? Ob ich sie erkennen möcht'? Ich hab' sie ja nur zwei- oder dreimal gesehen, das letzte Mal im Offizierskasino... Ob das lauter anständige Mädeln sind, alle hundert? O jeh!... »Unter Mitwirkung des Singvereins«! – Singverein... komisch! Ich hab' mir darunter eigentlich immer so was Ähnliches vorgestellt, wie die Wiener Tanzsängerinnen, das heißt, ich hab' schon gewusst, dass es was anderes ist!.. Schöne Erinnerungen! Damals beim ›Grünen Tor‹... Wie hat sie nur geheißen? Und dann hat sie mir einmal eine Ansichtskarte aus Belgrad geschickt... Auch eine schöne Gegend! – Der Kopetzky hat's gut, der sitzt jetzt längst im Wirtshaus und raucht seine Virginia!...

Was guckt mich denn der Kerl dort immer an? Mir scheint, der merkt, dass ich mich langweil' und nicht herg'hör'... Ich möcht' Ihnen raten, ein etwas weniger freches Gesicht zu machen, sonst stell' ich Sie mir nachher im Foyer! – Schaut schon weg!... dass sie alle vor meinem Blick so eine Angst hab'n... »Du hast die schönsten Augen, die mir je vorgekommen sind!« hat neulich die Steffi gesagt... O Steffi, Steffi, Steffi! – Die Steffi ist eigentlich schuld, dass ich dasitz' und mir stundenlang vorlamentieren lassen muss. – Ah, diese ewige Abschreiberei von der Steffi geht mir wirklich schon auf die Nerven! Wie schön hätt' der heutige Abend sein können. Ich hätt' große Lust, das Brieferl von der Steffi zu lesen. Da hab' ich's ja. Aber wenn ich die Brieftasche herausnehm', frisst mich der Kerl daneben auf! – Ich weiß ja, was drinsteht... sie kann nicht kommen, weil sie mit »ihm« nachtmahlen gehen muss... Ah, das war komisch vor acht Tagen, wie sie mit ihm in der Gartenbaugesellschaft gewesen ist, und ich vis-à-vis mit'm Kopetzky; und sie hat mir immer die Zeichen gemacht mit den Augerln, die verabredeten. Er hat nichts gemerkt – unglaublich! muss übrigens ein Jud' sein! Freilich, in einer Bank ist er, und der schwarze Schnurrbart... Reserveleutnant soll er auch sein! Na, in mein Regiment sollt' er nicht zur Waffenübung kommen! Überhaupt, dass sie noch immer so viel Juden zu Offizieren machen – da pfeif ich auf'n ganzen Antisemitismus! Neulich in der Gesellschaft, wo die G'schicht' mit dem Doktor passiert ist bei den Mannheimers... die Mannheimer selber sollen ja auch Juden sein, getauft natürlich... denen merkt man's aber gar nicht an – besonders die Frau so blond, bildhübsch die Figur... War sehr amüsant im ganzen. Famoses Essen, großartige Zigarren... Naja, wer hat's Geld?...

Bravo, bravo! Jetzt wird's doch bald aus sein? – Ja, jetzt steht die ganze G'sellschaft da droben auf... sieht sehr gut aus – imposant! – Orgel auch?... Orgel hab' ich sehr gern... So, das las' ich mir g'fall'n – sehr schön! Es ist wirklich wahr, man sollt' öfter in Konzerte gehen... Wunderschön ist's g'wesen, werd' ich dem Kopetzky sagen... Werd' ich ihn heut' im Kaffeehaus treffen? – Ah, ich hab' gar keine Lust, ins Kaffeehaus zu geh'n; hab' mich gestern so gegiftet! Hundertsechzig Gulden auf einem Sitz verspielt – zu dumm! Und wer hat alles gewonnen? Der Ballert, grad' der, der's nicht notwendig hat... Der Ballert ist eigentlich schuld, dass ich in das blöde Konzert hab' geh'n müssen... Na ja, sonst hätt' ich heut' wieder spielen können, vielleicht doch was zurückgewonnen. Aber es ist ganz gut, dass ich mir selber das Ehrenwort gegeben hab', einen Monat lang keine Karte anzurühren... Die Mama wird wieder ein G'sicht machen, wenn sie meinen Brief bekommt! –

Ah, sie soll zum Onkel geh'n, der hat Geld wie Mist; auf die paar hundert Gulden kommt's ihm nicht an. Wenn ich's nur durchsetzen könnt', dass er mir eine regelmäßige Sustentation gibt... aber nein, um jeden Kreuzer muss man extra betteln. Dann heißt's wieder: Im vorigen Jahr war die Ernte schlecht!... Ob ich heuer im Sommer wieder zum Onkel fahren soll auf vierzehn Tag'? Eigentlich langweilt man sich dort zum Sterben... Wenn ich die... wie hat sie nur geheißen?... Es ist merkwürdig, ich kann mir keinen Namen merken!... Ah, ja: Etelka!... Kein Wort deutsch hat sie verstanden, aber das war auch nicht notwendig... hab' gar nichts zu reden brauchen!... Ja, es wird ganz gut sein, vierzehn Tage Landluft und vierzehn Nächt' Etelka oder sonst wer... Aber acht Tag' sollt' ich doch auch wieder beim Papa und bei der Mama sein... Schlecht hat sie ausg'seh'n heuer zu Weihnachten... Na, jetzt wird die Kränkung schon überwunden sein. Ich an ihrer Stelle wär' froh, dass der Papa in Pension gegangen ist. – Und die Klara wird schon noch einen Mann kriegen... Der Onkel kann schon was hergeben... Achtundzwanzig Jahr', das ist doch nicht so alt... Die Steffi ist sicher nicht jünger... Aber es ist merkwürdig: die Frauenzimmer erhalten sich länger jung. Wenn man so bedenkt: die Maretti neulich in der ›Madame Sans-Gêne‹ – siebenunddreißig Jahr' ist sie sicher, und sieht aus... Na, ich hätt' nicht Nein g'sagt! – Schad', dass sie mich nicht g'fragt hat...

Heiß wird's! Noch immer nicht aus? Ah, ich freu' mich so auf die frische Luft! Werd' ein bissl spazieren geh'n, übern Ring... Heut' heißt's: früh ins Bett, morgen Nachmittag frisch sein! Komisch, wie wenig ich daran denk', so egal ist mir das! Das erste Mal hat's mich doch ein bissl aufgeregt. Nicht, dass ich Angst g'habt hätt'; aber nervos bin ich gewesen in der Nacht vorher... Freilich, der Oberleutnant Bisanz war ein ernster Gegner. – Und doch, nichts ist mir g'scheh'n!... Auch schon anderthalb Jahr' her. Wie die Zeit vergeht! Und wenn mir der Bisanz nichts getan hat, der Doktor wird mir schon gewiss nichts tun! Obzwar, gerade diese umgeschulten Fechter sind manchmal die gefährlichsten. Der Doschintzky hat mir erzählt, dass ihn ein Kerl, der das erste Mal einen Säbel in der Hand gehabt hat, auf ein Haar abgestochen hätt'; und der Doschintzky ist heut' Fechtlehrer bei der Landwehr. Freilich – ob er damals schon so viel können hat... Das Wichtigste ist: kaltes Blut. Nicht einmal einen rechten Zorn hab' ich mehr in mir, und es war doch eine Frechheit – unglaublich! Sicher hätt' er sich's nicht getraut, wenn er nicht Champagner getrunken hätt' vorher... So eine Frechheit! gewiss ein Sozialist! Die Rechtsverdreher sind doch heutzutag' alle Sozialisten! Eine Bande... am liebsten möchten sie gleich 's ganze Militär abschaffen; aber wer ihnen dann Helfen möcht', wenn die Chinesen über sie kommen, daran denken sie nicht. Blödisten! – Man muss gelegentlich ein Exempel statuieren. Ganz recht hab' ich g'habt. Ich bin froh, dass ich ihn nimmer auslassen hab' nach der Bemerkung. Wenn ich dran denk', werd' ich ganz wild! Aber ich hab' mich famos benommen; der Oberst sagt auch, es war absolut korrekt. Wird mir überhaupt nützen, die Sache. Ich kenn' manche, die den Burschen hätten durchschlüpfen lassen. Der Müller sicher, der wär' wieder objektiv gewesen oder so was. Mit dem Objektivsein hat sich noch jeder blamiert... »Herr Leutnant!«... schon die Art, wie er »Herr Leutnant« gesagt hat, war unverschämt!... »Sie werden mir doch zugeben müssen«... – Wie sind wir denn nur d'rauf gekommen? Wieso hab' ich mich mit dem Sozialisten in ein Gespräch eingelassen? Wie hat's denn nur angefangen?... Mir scheint, die schwarze Frau, die ich zum Büfett geführt hab', ist auch dabei gewesen... und dann dieser junge Mensch, der die Jagdbilder malt – wie heißt er denn nur?... Meiner Seel', der ist an der ganzen Geschichte schuld gewesen! Der hat von den Manövern geredet; und dann erst ist dieser Doktor dazugekommen und hat irgendwas g'sagt, was mir nicht gepasst hat, von Kriegsspielerei oder so was – aber wo ich noch nichts hab' reden können... Ja, und dann ist von den Kadettenschulen gesprochen worden... Ja, so war's... und ich hab' von einem patriotischen Fest erzählt... und dann hat der Doktor gesagt – nicht gleich, aber aus dem Fest hat es sich entwickelt – »Herr Leutnant, Sie werden mir doch zugeben, dass nicht alle Ihre Kameraden zum Militär gegangen sind, ausschließlich um das Vaterland zu verteidigen!« So eine Frechheit! Das wagt so ein Mensch einem Offizier ins Gesicht zu sagen! Wenn ich mich nur erinnern könnt', was ich d'rauf geantwortet hab'?... Ah ja, etwas von Leuten, die sich in Dinge dreinmengen, von denen sie nichts versteh'n... Ja, richtig... und dann war einer da, der hat die Sache gütlich beilegen wollen, ein älterer Herr mit einem Stockschnupfen... Aber ich war zu wütend! Der Doktor hat das absolut in dem Ton gesagt, als wenn er direkt mich gemeint hätt'. Er hätt' nur noch sagen müssen, dass sie mich aus dem Gymnasium hinausg'schmissen haben und dass ich deswegen in die Kadettenschul' gesteckt worden bin... Die Leut' können eben unserein'n nicht versteh'n, sie sind zu dumm dazu... Wenn ich mich so erinner', wie ich das erste Mal den Rock angehabt hab', so was erlebt eben nicht ein jeder... Im vorigen Jahr' bei den Manövern – ich hätt' was drum gegeben, wenn's plötzlich Ernst gewesen wär'... Und der Mirovic hat mir g'sagt, es ist ihm ebenso gegangen. Und dann, wie Seine Hoheit die Front abgeritten sind, und die Ansprache vom Obersten – da muss einer schon ein ordentlicher Lump sein, wenn ihm das Herz nicht höher schlägt... Und da kommt so ein Tintenfisch daher, der sein Lebtag nichts getan hat, als hinter den Büchern gesessen, und erlaubt sich eine freche Bemerkung!... Ah, wart' nur, mein Lieber – bis zur Kampfunfähigkeit... Jawohl, du sollst so kampfunfähig werden...

Ja, was ist denn? Jetzt muss es doch bald aus sein?... »Ihr, seine Engel, lobet den Herrn«... – Freilich, das ist der Schlusschor... Wunderschön, da kann man gar nichts sagen. Wunderschön! – Jetzt hab' ich ganz die aus der Loge vergessen, die früher zu kokettieren angefangen hat. Wo ist sie denn?... Schon fortgegangen... Die dort scheint auch sehr nett zu sein... Zu dumm, dass ich keinen Operngucker bei mir hab'! Der Brunnthaler ist ganz gescheit, der hat sein Glas immer im Kaffeehaus bei der Kassa liegen, da kann einem nichts g'scheh'n... Wenn sich die Kleine da vor mir nur einmal umdreh'n möcht'! So brav sitzt s' alleweil da. Das neben ihr ist sicher die Mama. – Ob ich nicht doch einmal ernstlich ans Heiraten denken soll? Der Willy war nicht älter als ich, wie er hineingesprungen ist. Hat schon was für sich, so immer gleich ein hübsches Weiberl zu Haus vorrätig zu haben... Zu dumm, dass die Steffi grad' heut' keine Zeit hat! Wenn ich wenigstens wüsste, wo sie ist, möcht' ich mich wieder vis-à-vis von ihr hinsetzen. Das wär' eine schöne G'schicht', wenn ihr der draufkommen möcht', da hätt' ich sie am Hals... Wenn ich so denk', was dem Fließ sein Verhältnis mit der Winterfeld kostet! Und dabei betrügt sie ihn hinten und vorn. Das nimmt noch einmal ein Ende mit Schrecken... Bravo, bravo! Ah, aus!... So, das tut wohl, aufsteh'n können, sich rühren... Na, vielleicht! Wie lang' wird der da noch brauchen, um sein Glas ins Futteral zu stecken?

»Pardon, pardon, wollen mich nicht hinauslassen?«...

Ist das ein Gedränge! Lassen wir die Leut' lieber vorbeipassieren... Elegante Person... ob das echte Brillanten sind?... Die da ist nett... Wie sie mich anschaut!... O ja, mein Fräulein, ich möcht' schon!... O, die Nase! – Jüdin... Noch eine... Es ist doch fabelhaft, da sind auch die Hälfte Juden... nicht einmal ein Oratorium kann man mehr in Ruhe genießen... So, jetzt schließen wir uns an... Warum drängt denn der Idiot hinter mir? Das werd' ich ihm abgewöhnen... Ah, ein älterer Herr!... Wer grüßt mich denn dort von drüben?... Habe die Ehre, habe die Ehre! Keine Ahnung hab' ich, wer das ist... Das Einfachste wär', ich ging gleich zum Leidinger hinüber nachtmahlen... oder soll ich in die Gartenbaugesellschaft? Am End' ist die Steffi auch dort? Warum hat sie mir eigentlich nicht geschrieben, wohin sie mit ihm geht? Sie wird's selber noch nicht gewusst haben. Eigentlich schrecklich, so eine abhängige Existenz... Armes Ding! – So, da ist der Ausgang... Ah, die ist aber bildschön! Ganz allein? Wie sie mich anlacht. Das wär' eine Idee, der geh' ich nach!... So, jetzt die Treppen hinunter: Oh, ein Major von Fünfundneunzig... Sehr liebenswürdig hat er gedankt... Bin doch nicht der einzige Offizier herin gewesen... Wo ist denn das hübsche Mädel? Ah, dort... am Geländer steht sie... So, jetzt heißt's noch zur Garderobe.. dass mir die Kleine nicht auskommt... Hat ihm schon! So ein elender Fratz! Lasst sich da von einem Herrn abholen, und jetzt lacht sie noch auf mich herüber! – Es ist doch keine was wert... Herrgott, ist das ein Gedränge bei der Garderobe!... Warten wir lieber noch ein bisserl... So! Ob der Blödist meine Nummer nehmen möcht'?...

»Sie, zweihundertvierundzwanzig! Da hängt er! Na, hab'n Sie keine Augen? Da hängt er! Na, Gott sei Dank!... Also bitte!«...

Der Dicke da verstellt einem schier die ganze Garderobe... »Bitte sehr!«...

»Geduld, Geduld!«

Was sagt der Kerl?

»Nur ein bisserl Geduld!«

Dem muss ich doch antworten... »Machen Sie doch Platz!«

»Na, Sie werden's auch nicht versäumen!«

Was sagt er da? Sagt er das zu mir? Das ist doch stark! Das kann ich mir nicht gefallen lassen! »Ruhig!«

»Was meinen Sie?«

Ah, so ein Ton! Da hört sich doch alles auf!

»Stoßen Sie nicht!«

»Sie, halten Sie das Maul!« Das hätt' ich nicht sagen sollen, ich war zu grob... Na, jetzt ist's schon g'scheh'n!

»Wie meinen?«

Jetzt dreht er sich um... Den kenn' ich ja! – Donnerwetter, das ist ja der Bäckermeister, der immer ins Kaffeehaus kommt... Was macht denn der da? Hat sicher auch eine Tochter oder so was bei der Singakademie... Ja, was ist denn das? Ja, was macht er denn? Mir scheint gar... Ja, meiner Seel', er hat den Griff von meinem Säbel in der Hand... Ja, ist der Kerl verrückt?... »Sie, Herr...«

»Sie, Herr Leutnant, sein S' jetzt ganz stad.«

Was sagt er da? Um Gottes willen, es hat's doch keiner gehört? Nein, er red't ganz leise... Ja, warum lasst er denn meinen Säbel net aus?... Herrgott noch einmal... Ah, da heißt's rabiat sein... ich bring' seine Hand vom Griff nicht weg... nur keinen Skandal jetzt!... Ist nicht am End' der Major hinter mir?... Bemerkt's nur niemand, dass er den Griff von meinem Säbel hält? Er red't ja zu mir! Was red't er denn?

»Herr Leutnant, wenn Sie das geringste Aufsehen machen, so zieh' ich den Säbel aus der Scheide, zerbrech' ihn und schick' die Stück' an Ihr Regimentskommando. Versteh'n Sie mich, Sie dummer Bub?«

Was hat er g'sagt? Mir scheint, ich träum'! Red't er wirklich zu mir? Ich sollt' was antworten... Aber der Kerl macht ja Ernst – der zieht wirklich den Säbel heraus. Herrgott – er tut's!... Ich spür's, er reißt schon d'ran! Was red't er denn?... Um Gottes willen, nur kein' Skandal – – Was red't er denn noch immer?

»Aber ich will Ihnen die Karriere nicht verderben... Also, schön brav sein!... So, hab'n S' keine Angst, 's hat niemand was gehört... es ist schon alles gut... so! Und damit keiner glaubt, dass wir uns gestritten haben, werd' ich jetzt sehr freundlich mit Ihnen sein! – Habe die Ehre, Herr Leutnant, hat mich sehr gefreut – habe die Ehre!«

Um Gottes willen, hab' ich geträumt? Hat er das wirklich gesagt?... Wo ist er denn?... Da geht er... Ich müsst' ja den Säbel ziehen und ihn zusammenhauen – – Um Gottes willen, es hat's doch niemand gehört?... Nein, er hat ja nur ganz leise geredet, mir ins Ohr... Warum geh' ich denn nicht hin und hau' ihm den Schädel auseinander?... Nein, es geht ja nicht, es geht ja nicht... gleich hätt' ich's tun müssen... Warum hab' ich's denn nicht gleich getan?... Ich hab's ja nicht können... er hat ja den Griff nicht auslassen, und er ist zehnmal stärker als ich... Wenn ich noch ein Wort gesagt hätt', hätt' er mir wirklich den Säbel zerbrochen... Ich muss ja noch froh sein, dass er nicht laut geredet hat! Wenn's ein Mensch gehört hätt', so müsst' ich mich ja stante pede erschießen... Vielleicht ist es doch ein Traum gewesen... Warum schaut mich denn der Herr dort an der Säule so an? – Hat der am End' was gehört?... Ich werd' ihn fragen... Fragen? – Ich bin ja verrückt! – Wie schau' ich denn aus? – Merkt man mir was an? – Ich muss ganz blass sein. – Wo ist der Hund?... Ich muss ihn umbringen!... Fort ist er... Überhaupt schon ganz leer... Wo ist denn mein Mantel?... Ich hab' ihn ja schon angezogen... Ich hab's gar nicht gemerkt... Wer hat mir denn geholfen? Ah, der da... dem muss ich ein Sechserl geben... So!... Aber was ist denn das? Ist es denn wirklich gescheh'n? Hat wirklich einer so zu mir geredet? Hat mir wirklich einer »dummer Bub« gesagt? Und ich hab' ihn nicht auf der Stelle zusammengehauen?... Aber ich hab' ja nicht können... er hat ja eine Faust gehabt wie Eisen... ich bin ja dagestanden wie angenagelt... Nein, ich muss den Verstand verloren gehabt haben, sonst hätt' ich mit der anderen Hand... Aber da hätt' er ja meinen Säbel herausgezogen und zerbrochen, und aus wär's gewesen – Alles wär' aus gewesen! Und nachher, wie er fortgegangen ist, war's zu spät... ich hab' ihm doch nicht den Säbel von hinten in den Leib rennen können...

Was, ich bin schon auf der Straße? Wie bin ich denn da herausgekommen? – So kühl ist es... ah, der Wind, der ist gut... Wer ist denn das da drüben? Warum schau'n denn die zu mir herüber? Am End' haben die was gehört... Nein, es kann niemand was gehört haben... ich weiß ja, ich hab' mich gleich nachher umgeschaut! Keiner hat sich um mich gekümmert, niemand hat was gehört... Aber gesagt hat er's, wenn's auch niemand gehört hat; gesagt hat er's doch. Und ich bin dagestanden und hab' mir's gefallen lassen, wie wenn mich einer vor den Kopf geschlagen hätt'!... Aber ich hab' ja nichts sagen können, nichts tun können; es war ja noch das einzige, was mir übrig geblieben ist: stad sein, stad sein!... 's ist fürchterlich, es ist nicht zum Aushalten; ich muss ihn totschlagen, wo ich ihn treff!... Mir sagt das einer! Mir sagt das so ein Kerl, so ein Hund! Und er kennt mich Herrgott noch einmal, er kennt mich, er weiß, wer ich bin! Er kann jedem Menschen erzählen, dass er mir das g'sagt hat!... Nein, nein, das wird er ja nicht tun, sonst hätt' er auch nicht so leise geredet... er hat auch nur wollen, dass ich es allein hör',.... Aber wer garantiert mir, dass er's nicht doch erzählt, heut' oder morgen, seiner Frau, seiner Tochter, seinen Bekannten im Kaffeehaus. – – Um Gottes willen, morgen seh' ich ihn ja wieder! Wenn ich morgen ins Kaffeehaus komm', sitzt er wieder dort wie alle Tag' und spielt seinen Tapper mit dem Herrn Schlesinger und mit dem Kunstblumenhändler... Nein, nein, das geht ja nicht, das geht ja nicht... Wenn ich ihn seh', so hau' ich ihn zusammen... Nein, das darf ich ja nicht... gleich hätt' ich's tun müssen, gleich!... Wenn's nur gegangen wär'! Ich werd' zum Obersten geh'n und ihm die Sache melden... ja, zum Obersten... Der Oberst ist immer sehr freundlich – und ich werd' ihm sagen: Herr Oberst, ich melde gehorsamst, er hat den Griff gehalten, er hat ihn nicht auslassen es war genau so, als wenn ich ohne Waffe gewesen wäre... – Was wird der Oberst sagen? – Was er sagen wird? – Aber da gibt's ja nur eins: quittieren mit Schimpf und Schand' – quittieren!... Sind das Freiwillige da drüben?... Ekelhaft, bei der Nacht schau'n sie aus, wie Offiziere... sie salutieren! – Wenn die wüssten – wenn die wüssten!... – – Da ist das Café Hochleitner... Sind jetzt gewiss ein paar Kameraden drin... vielleicht auch einer oder der andere, den ich kenn'... Wenn ich's dem ersten Besten erzählen möcht', aber so, als wär's einem andern passiert?... – Ich bin ja schon ganz irrsinnig... Wo lauf' ich denn da herum? Was tu' ich denn auf der Straße? – Ja, aber wo soll ich denn hin? Hab' ich nicht zum Leidinger wollen? Haha, unter Menschen mich niedersetzen... ich glaub', ein jeder müsst' mir's anseh'n... Ja, aber irgendwas muss doch gescheh'n... Was soll denn gescheh'n?... Nichts, nichts – es hat ja niemand was gehört... es weiß ja niemand was... in dem Moment weiß niemand was... Wenn ich jetzt zu ihm in die Wohnung ginge und ihn beschwören möchte, dass er's niemandem erzählt?... – Ah, lieber gleich eine Kugel vor den Kopf, als so was!... Wär' so das Gescheiteste!... Das Gescheiteste? Das Gescheiteste? – Gibt ja überhaupt nichts anderes... gibt nichts anderes... Wenn ich den Oberst fragen möcht', oder den Kopetzky – oder den Blany – oder den Friedmaier: – jeder möcht' sagen: Es bleibt dir nichts anderes übrig!... Wie wär's, wenn ich mit dem Kopetzky spräch'? Ja, es wär' doch das Vernünftigste... schon wegen morgen ja, natürlich – wegen morgen... um vier in der Reiterkasern'... ich soll mich ja morgen um vier Uhr schlagen... und ich darfs ja nimmer, ich bin satisfaktionsunfähig... Unsinn! Unsinn! Kein Mensch weiß was, kein Mensch weiß was! – Es laufen viele herum, denen ärgere Sachen passiert sind, als mir... Was hat man nicht alles von dem Deckener erzählt, wie er sich mit dem Rederow geschossen hat und der Ehrenrat hat entschieden, das Duell darf stattfinden Aber wie möcht' der Ehrenrat bei mir entscheiden? – Dummer Bub – dummer Bub... und ich bin dagestanden –! Heiliger Himmel, es ist doch ganz egal, ob ein anderer was weiß!... ich weiß es doch, und das ist die Hauptsache! Ich spür', dass ich jetzt wer anderer bin, als vor einer Stunde – Ich weiß, dass ich satisfaktionsunfähig hin, und darum muss ich mich totschießen... Keine ruhige Minute hätt' ich mehr im Leben... immer hätt' ich die Angst, dass es doch einer erfahren könnt', so oder so... und dass mir's einer einmal ins Gesicht sagt, was heut' abend gescheh'n ist! – Was für ein glücklicher Mensch bin ich vor einer Stund' gewesen... muss mir der Kopetzky die Karte schenken – und die Steffi muss mir absagen, das Mensch! – Von so was hängt man ab... Nachmittag war noch alles gut und schön, und jetzt bin ich ein verlorener Mensch und muss mich totschießen... Warum renn' ich denn so? Es lauft mir ja nichts davon... Wie viel schlagt's denn?... 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11... elf, elf... ich sollt' doch nachtmahlen geh'n! Irgendwo muss ich doch schließlich hingeh'n... ich könnt' mich ja in irgendein Beisl setzen, wo mich kein Mensch kennt – schließlich, essen muss der Mensch, auch wenn er sich nachher gleich totschießt... Haha, der Tod ist ja kein Kinderspiel... wer hat das nur neulich gesagt?... Aber das ist ja ganz egal

Ich möcht' wissen, wer sich am meisten kränken möcht'?... Die Mama, oder die Steffi?... Die Steffi... Gott, die Steffi... die dürft' sich ja nicht einmal was anmerken lassen, sonst gibt »er« ihr den Abschied... Arme Person! – Beim Regiment – kein Mensch hätt' eine Ahnung, warum ich's getan hab'... sie täten sich alle den Kopf zerbrechen... warum hat sich denn der Gustl umgebracht? – Darauf möcht' keiner kommen, dass ich mich hab' totschießen müssen, weil ein elender Bäckermeister, so ein niederträchtiger, der zufällig stärkere Fäust' hat... es ist ja zu dumm, zu dumm! – Deswegen soll ein Kerl wie ich, so ein junger, fescher Mensch... Ja, nachher möchten's gewiss alle sagen: das hätt' er doch nicht tun müssen, wegen so einer Dummheit; ist doch schad'!... Aber wenn ich jetzt wen immer fragen tät', jeder möcht' mir die gleiche Antwort geben... und ich selber, wenn ich mich frag'... das ist doch zum Teufelholen... ganz wehrlos sind wir gegen die Zivilisten... Da meinen die Leut', wir sind besser dran, weil wir einen Säbel haben... und wenn schon einmal einer von der Waffe Gebrauch macht, geht's über uns her, als wenn wir alle die geborenen Mörder wären... In der Zeitung möcht's auch steh'n... »Selbstmord eines jungen Offiziers«... Wie schreiben sie nur immer?... »Die Motive sind in Dunkel gehüllt«... Haha!... »An seinem Sarge trauern...« – Aber es ist ja wahr... mir ist immer, als wenn ich mir eine Geschichte erzählen möcht'... aber es ist wahr... ich muss mich umbringen, es bleibt mir ja nichts anderes übrig – ich kann's ja nicht d'rauf ankommen lassen, dass morgen früh der Kopetzky und der Blany mir ihr Mandat zurückgeben und mir sagen: wir können dir nicht sekundieren!... Ich wär' ja ein Schuft, wenn ich's ihnen zumuten möcht'... So ein Kerl wie ich, der dasteht und sich einen dummen Buben heißen lässt... morgen wissen's ja alle Leut'... das ist zu dumm, dass ich mir einen Moment einbilde, so ein Mensch erzählt's nicht weiter... überall wird er's erzählen... seine Frau weiß's jetzt schon... morgen weiß es das ganze Kaffeehaus... die Kellner werd'n's wissen... der Herr Schlesinger – die Kassierin – – Und selbst, wenn er sich vorgenommen hat, er red't nicht davon, so sagt er's übermorgen... und wenn er's übermorgen nicht sagt, in einer Woche... Und wenn ihn heut' Nacht der Schlag trifft, so weiß ich's... ich weiß es... und ich bin nicht der Mensch, der weiter den Rock trägt und den Säbel, wenn ein solcher Schimpf auf ihm sitzt!... So, ich muss es tun, und Schluss! – Was ist weiter dabei? – Morgen Nachmittag könnt' mich der Doktor mit 'm Säbel erschlagen... so was ist schon einmal dagewesen... und der Bauer, der arme Kerl, der hat eine Gehirnentzündung 'kriegt und war in drei Tagen hin... und der Brenitsch ist vom Pferd gestürzt und hat sich 's Genick gebrochen... und schließlich und endlich: es gibt nichts anderes – für mich nicht, für mich nicht! – Es gibt ja Leut', die's leichter nähmen... Gott, was gibt's für Menschen!... Dem Ringeimer hat ein Fleischselcher, wie er ihn mit seiner Frau erwischt hat, eine Ohrfeige gegeben, und er hat quittiert und sitzt irgendwo auf'm Land und hat geheiratet... dass es Weiber gibt, die so einen Menschen heiraten!... – Meiner Seel', ich gäb' ihm nicht die Hand, wenn er wieder nach Wien käm'... Also, hast's gehört, Gustl: – aus, aus, abgeschlossen mit dem Leben! Punktum und Streusand d'rauf!... So, jetzt weiß ich's, die Geschichte ist ganz einfach... So! Ich bin eigentlich ganz ruhig... Das hab' ich übrigens immer gewusst: wenn's einmal dazu kommt, werd' ich ruhig sein, ganz ruhig... aber dass es so dazu kommt, das hab' ich doch nicht gedacht... dass ich mich umbringen muss, weil so ein... Vielleicht hab' ich ihn doch nicht recht verstanden... am End' hat er ganz was anderes gesagt... Ich war ja ganz blöd von der Singerei und der Hitz'... vielleicht bin ich verrückt gewesen, und es ist alles gar nicht wahr?... Nicht wahr, haha, nicht wahr! – Ich hör's ja noch... es klingt mir noch immer im Ohr... und ich spür's in den Fingern, wie ich seine Hand vom Säbelgriff hab' wegbringen wollen... Ein Kraftmensch ist er, ein Jagendorfer... Ich bin doch auch kein Schwächling... der Franziski ist der einzige im Regiment, der stärker ist als ich...

Die Aspernbrücke... Wie weit renn' ich denn noch? – Wenn ich so weiterrenn', bin ich um Mitternacht in Kagran... Haha! – Herrgott, froh sind wir gewesen, wie wir im vorigen September dort eingerückt sind. Noch zwei Stunden, und Wien... todmüd' war ich, wie wir angekommen sind... den ganzen Nachmittag hab' ich geschlafen wie ein Stock, und am Abend waren wir schon beim Ronacher... der Kopetzky, der Ladinser und... wer war denn nur noch mit uns? – Ja, richtig, der Freiwillige, der uns auf dem Marsch die jüdischen Anekdoten erzählt hat... Manchmal sind's ganz nette Burschen, die Einjährigen... aber sie sollten alle nur Stellvertreter werden – denn was hat das für einen Sinn? Wir müssen uns jahrelang plagen, und so ein Kerl dient ein Jahr und hat genau dieselbe Distinktion wie wir... es ist eine Ungerechtigkeit! – Aber was geht mich denn das alles an? – Was scher' ich mich denn um solche Sachen? – Ein Gemeiner von der Verpflegsbranche ist ja jetzt mehr als ich: ich bin ja überhaupt nicht mehr auf der Welt... es ist ja aus mit mir... Ehre verloren, alles verloren!... Ich hab' ja nichts anderes zu tun, als meinen Revolver zu laden und... Gustl, Gustl, mir scheint, du glaubst noch immer nicht recht d'ran? Komm' nur zur Besinnung... es gibt nichts anderes... wenn du auch dein Gehirn zermarterst, es gibt nichts anderes! – Jetzt heißt's nur mehr, im letzten Moment sich anständig benehmen, ein Mann sein, ein Offizier sein, so dass der Oberst sagt: Er ist ein braver Kerl gewesen, wir werden ihm ein treues Angedenken bewahren!... Wie viel Kompagnien rücken denn aus beim Leichenbegängnis von einem Leutnant?... Das müsst' ich eigentlich wissen... Haha! Wenn das ganze Bataillon ausrückt, oder die ganze Garnison, und sie feuern zwanzig Salven ab, davon wach' ich doch nimmer auf! – Vor dem Kaffeehaus, da bin ich im vorigen Sommer einmal mit dem Herrn von Engel gesessen, nach der Armee-Steeple-Chase... Komisch, den Menschen hab' ich seitdem nie wieder geseh'n... Warum hat er denn das linke Aug' verbunden gehabt? Ich hab' ihn immer d'rum fragen wollen, aber es hätt' sich nicht gehört... Da geh'n zwei Artilleristen... die denken gewiss, ich steig' der Person nach... muss sie mir übrigens anseh'n... O schrecklich! – Ich möcht' nur wissen, wie sich so eine ihr Brot verdient... da möcht' ich doch eher... Obzwar, in der Not frisst der Teufel Fliegen... in Przemysl – mir hat's nachher so gegraust, dass ich gemeint hab', nie wieder rühr' ich ein Frauenzimmer an... Das war eine grässliche Zeit da oben in Galizien... eigentlich ein Mordsglück, dass wir nach Wien gekommen sind. Der Bokorny sitzt noch immer in Sambor und kann noch zehn Jahr' dort sitzen und alt und grau werden... Aber wenn ich dort geblieben wär', wär' mir das nicht passiert, was mir heut' passiert ist... und ich möcht' lieber in Galizien alt und grau werden, als dass... als was? Als was? – Ja, was ist denn? Was ist denn? – Bin ich denn wahnsinnig, dass ich das immer vergeß'? – Ja, meiner Seel', vergessen tu' ich's jeden Moment... ist das schon je erhört worden, dass sich einer in ein paar Stunden eine Kugel durch'n Kopf jagen muss, und er denkt an alle möglichen Sachen, die ihn gar nichts mehr angeh'n? Meiner Seel', mir ist geradeso, als wenn ich einen Rausch hätt'! Haha! Ein schöner Rausch! Ein Mordsrausch! Ein Selbstmordsrausch! – Ha! Witze mach' ich, das ist sehr gut! – Ja, ganz gut aufgelegt bin ich – so was muss doch angeboren sein... Wahrhaftig, wenn ich's einem erzählen möcht', er würd' es nicht glauben. – Mir scheint, wenn ich das Ding bei mir hätt'... Jetzt würd' ich abdrücken – in einer Sekunde ist alles vorbei... Nicht jeder hat's so gut – andere müssen sich monatelang plagen... meine arme Cousin', zwei Jahr' ist sie gelegen, hat sich nicht rühren können, hat die grässlichsten Schmerzen g'habt – so ein Jammer!... Ist es nicht besser, wenn man das selber besorgt? Nur Obacht geben heißt's, gut zielen, dass einem nicht am End' das Malheur passiert, wie dem Kadett-Stellvertreter im vorigen Jahr... Der arme Teufel, gestorben ist er nicht, aber blind ist er geworden... Was mit dem nur geschehen ist? Wo er jetzt lebt? – Schrecklich, so herumlaufen, wie der – das heißt: herumlaufen kann er nicht, g'führt muss er werden – so ein junger Mensch, kann heut' noch keine Zwanzig sein... seine Geliebte hat er besser getroffen... gleich war sie tot... Unglaublich, weswegen sich die Leut' totschießen! Wie kann man überhaupt nur eifersüchtig sein?... Mein Lebtag hab' ich so was nicht gekannt... Die Steffi ist jetzt gemütlich in der Gartenbaugesellschaft; dann geht sie mit »ihm« nach Haus... Nichts liegt mir d'ran, gar nichts! Hübsche Einrichtung hat sie – das kleine Badezimmer mit der roten Latern'. – Wie sie neulich in dem grünseidenen Schlafrock hereingekommen ist... den grünen Schlafrock werd' ich auch nimmer seh'n – und die ganze Steffi auch nicht... und die schöne, breite Treppe in der Gußhausstraße werd' ich auch nimmer hinaufgeh'n... Das Fräulein Steffi wird sich weiter amüsieren, als wenn gar nichts gescheh'n wär'... nicht einmal erzählen darf sie's wem, dass ihr lieber Gustl sich umgebracht hat... Aber weinen wirds' schon – ah ja, weinen wirds'... Überhaupt, weinen werden gar viele Leut'... Um Gottes willen, die Mama! – Nein, nein, daran darf ich nicht denken. – Ah, nein, daran darf absolut nicht gedacht werden... An Zuhaus wird nicht gedacht, Gustl, verstanden? – Nicht mit dem allerleisesten Gedanken...

Das ist nicht schlecht, jetzt bin ich gar im Prater... mitten in der Nacht... das hätt' ich mir auch nicht gedacht in der Früh', dass ich heut' Nacht im Prater spazieren geh'n werd'... Was sich der Sicherheitswachmann dort denkt?... Na, geh'n wir nur weiter... es ist ganz schön... Mit'm Nachtmahlen ist's eh' nichts, mit dem Kaffeehaus auch nichts; die Luft ist angenehm, und ruhig ist es.. sehr... Zwar, ruhig werd' ich's jetzt bald haben, so ruhig, als ich's mir nur wünschen kann. Haha! – Aber ich bin ja ganz außer Atem... ich bin ja gerannt wie nicht g'scheit... langsamer, langsamer, Gustl, versäumst nichts, hast gar nichts mehr zu tun – gar nichts, aber absolut nichts mehr! – Mir scheint gar, ich fröstel'? – Es wird halt doch die Aufregung sein... dann hab' ich ja nichts gegessen... Was riecht denn da so eigentümlich?... Es kann doch noch nichts blühen?... Was haben wir denn heut'? – Den vierten April... freilich, es hat viel geregnet in den letzten Tagen... aber die Bäume sind beinah' noch ganz kahl und dunkel ist es, hu! Man könnt' schier Angst kriegen Das ist eigentlich das einzige Mal in meinem Leben, dass ich Furcht gehabt hab', als kleiner Bub, damals im Wald... aber ich war ja gar nicht so klein... vierzehn oder fünfzehn... Wie lang' ist das jetzt her? – Neun Jahr'... freilich – mit achtzehn war ich Stellvertreter, mit zwanzig Leutnant... und im nächsten Jahr werd' ich... Was werd' ich im nächsten Jahr? Was heißt das überhaupt: nächstes Jahr? Was heißt das: in der nächsten Woche? Was heißt das: übermorgen?... Wie? Zähneklappern? Oho! – Na, lassen wir's nur ein biss'l klappern... Herr Leutnant, Sie sind jetzt allein, brauchen niemandem einen Pflanz vorzumachen... es ist bitter, es ist bitter...

Autorinformation:
Arthur Schnitzler, 1862 1931; lebt als Arzt in Wien; seine medizinische Beobachtungsgabe bestimmt sein literarisches Schaffen, das häufig psychologisch dokumentarischen Charakter hat; Vertreter einer neuromantischen Gegenströmung gegen den Naturalismus = Wiener Impressionismus; beeinflusst von Sigmund Freud; Werke u. a.: Liebelei (Drama), Reigen (Drama) Sterben (Novelle), Leutnant Gustl (Novelle, 1901);

  

   Arbeitsanregungen
  1. Fassen Sie den Inhalt des Textes in knapper Form schriftlich zusammen, indem Sie

  • die Stationen/Situationen der äußeren Handlung erfassen

  • den Gedankengang des Leutnants nach seiner "Begegnung" mit dem Bäckermeister beschreiben.

  1. Zeigen Sie auf, von welchen Motiven sich der Leutnant bei seinem Verhalten leiten lässt.

  2. Zeigen Sie, welche Darbietungsformen der Autor für seine Erzählung wählt, und erläutern Sie Funktion und Wirkung derselben.

  3. Informieren Sie sich dazu auch über Struktur und Funktion der so genannten Monologerzählung.

  4. Wie beurteilen Sie das Verhalten des Leutnants? 
    Diskutieren Sie in diesem Zusammenhang den Begriff »Ehre«.

  • Welche Bedeutung hat der Begriff für den Leutnant?

  • Was können Sie mit dem Begriff für sich selbst anfangen?

  1. Überlegen Sie anhand der verschiedenen Möglichkeiten zur zivilen Konfliktbearbeitung, wie der Konflikt zwischen dem Leutnant und dem Bäcker hätte vermieden bzw. nach seiner Entstehung hätte deeskaliert werden können.

 →Operatorenkatalog des Landes Baden-Württemberg)

 
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