In der wissenschaftlichen Literatur gibt es
zahlreiche Interpretationsansätze und - hypothesen zu
Friedrich Schillers Ballade "Das
Lied von der Glocke". Hier für stehen die hier ausgewählten
Beispiele.
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Hans-Magnus Enzensberger (1996) betont den
allegorischen
Charakter von Schillers eigenem Kommentar zum Gedicht. Dieses
Verfahren ermögliche, dass "das »Werk«, Glocke und »Glocke« [...]
Taufe, Hochzeit und Beerdigung, natürliche und politische
Katastrophen" ebenso "einläuten" könne oder dafür sorge, dass "das
Motiv des Feuers, das zur Produktion notwendig ist, auf elementare
wie auf gesellschaftliche Vorgänge" übertragen werden könne.
Diesem Anspruch sei das Glockengießerlied allerdings nicht
gewachsen, weil das Werk eben keinen klar abgegrenzten Prozess
darstelle, "sondern gleichsam ein Gedicht über alles sein: über
Leben und Tod, Leidenschaft und Liebe, Gewinn und Verlust, Glück und
Unglück, Feuer und Wasser, Ackerbau und Viehzucht, Handel und
Wandel, Gut und Böse, Ordnung und Anarchie, Krieg und Frieden,
Gleichheit und Freiheit, Laster und Tugend und so immer weiter und
so immer fort. Schon diese Aufzählung zeigt die schlechte
Universalität des Anspruchs, den der Kommentar an das
Glockengießerlied stellt." So blieben die typisierten Figuren
abstrakt, leer und seien quasi "Niemandsfiguren", was sich auch in
den gewählten Adjektiven niederschlage, die möglichst keine nähere
Bestimmung zulassen und benötigen: "Das Kind ist "geliebt", der
Knabe "stolz", die Jungfrau "züchtig", die Hausfrau dito, die Gattin
"teuer", die Mutter "treu", der Bürger "ruhig". Alle weiteren
Bestimmungen scheinen geradezu darauf angelegt, jeder Bestimmung aus
dem Wege zu gehen." Für Enzensberger ist dieses sprachliche Versagen
des Dichters ein Debakel, das sich auf der kompositionellen wie auf
der philosophischen Ebene wiederholt: "Die Zuordnung der
kommentierenden zu den beschreibenden Strophen des Liedes führt zu
Ungereimtheiten und Kollisionen, weil der Fortgang der beiden
»Handlungen«, hie des Glockengusses, dort des menschlichen Lebens in
seiner leersten Allgemeinheit, ein und derselben Logik nicht
parieren will. Auch kommt es zu Unstimmigkeiten innerhalb des
Kommentars: Die Glocken- und die Feuer-Allegorie gehen nicht ohne
Bruch ineinander über. Mehr als einmal. greift Schillers
synthetischer Jedermann zum Wanderstabe, natürlich, »fröhlich«, wenn
sich eine sinnvollere Überleitung nicht blicken lässt. "
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Michael
Hofmann (2003, S.144f.) betont, Schiller nutze die Tendenz der
Ballade zur exemplarischen Darstellung, um der erzählten Geschichte
allgemeine Ideen zu unterlegen, auf deren Verwirklichung oder
Verfehlung die jeweilige Handlung hinauszulaufen scheine. "Wenn
somit der Terminus Ideenballade Schillers Texte durchaus angemessen
charakterisiert, so muss doch die Frage gestellt werden, ob
tatsächlich die anschaulichen Elemente der Dichtung auf die Funktion
zu reduzieren sind, abstrakte Konzepte zu illustrieren."
An anderer Stelle spitzt Hofmann
(2005a, S.288f.) die Frage nach der Plausibilität des
Balladenkonzepts von Schiller auf die Frage zu, "ob die Beziehung
zwischen Anschauung und Idee einleuchtend und produktiv erscheint,
ob [...] die Bilder auch eine kritische Erweiterung der zugrunde
liegenden Ideen bewirken können." Dies sei hm jedenfalls im
"Lied von der Glocke" überhaupt nicht gelungen, weil darin
"Humanität in krasser Weise mit beschränkten Haltungen und
Denkweisen" verbunden sei. Die Art und Weise wie darin die Kritik an
der Französischen Revolution im Lobpreis "einer politischen
Friedhofsruhe" gipfle oder eine geradezu "primitive
Geschlechterphilosophie" propagiere, zeigt seiner Ansicht nach
"die Problematik von Schillers Lyrikkonzept, das zur Idealisierung
des im negativen Sinne Beschränkten führen kann." Aus diesem Grund
ist dieses Gedicht auch für Hofmann "das eindrucksvolle Dokument
eines dichterischen Scheiterns, einer Kapitulation des Genies vor
provinziellen Verhältnissen, die es mit diesem Text nicht zu
überwinden vermochte."
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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