● Strukturen
dramatischer Texte
▪
Formtypen des Dramas
▪
Vergleich
der Formtypen
▪
Offene Form
▪
Drama der
geschlossenen Form
▪
Überblick
▪
Die Konstruktion der Fabel
▪
Spannungsverlauf im Drama der geschlossenen Form
▪
Exposition
▪
Freytag,
Gustav: Die Technik des Dramas (1863)
Parallelisierung, Kontrastierung und Symmetrierung von Szenen,
Personen, Wechselreden und Positionen
Maria Stuart (1799/1800) ist ein Drama
Schillers, das anders als z. B.
Wallenstein (1799) oder
Wilhelm Tell (1804) auf die Darbietung einer Fülle von
geschichtlichen Ereignissen mit ausführlich dargestellten Episoden
verzichtet (vgl. Guthke
1998, S.420). Es ist, unter diesem Aspekt betrachtet, "in
handlungsarmes Stück" (Vonhoff
2005, S.157), bei dem das auf drei Tage verdichtete äußere
Geschehen "außen vor" bleibt und nur in der dramatischen Rede der
Figuren erwähnt wird.
Dies betrifft z. B.
das Turnier, das zu Ehren der französischen Brautwerbungsdelegation
abgehalten wird (es kommt nur im Dialog von ▪
Kent und ▪
Davison
in Szene ▪ II,1 vor), den Anschlag
auf Königin ▪
Elisabeth,
von dem nur berichtet wird (▪ III,7-8),
die Kundgebung des erregten Volkes vor dem Palast, das die
Hinrichtung
▪ Maria Stuart
lautstark fordert (▪ IV,7) oder
natürlich auch die Hinrichtung Maria Stuarts, von dem zeitgleich nur
von ▪
Leicester (▪ V,10) berichtet
wird.
Der Verzicht auf
die Umsetzung solcher dramatischer und die Sinne fesselnder
Ereignisse auf die Bühne (Regietheater und moderne Verfilmungen des
Stoffes ließen solche Action-Szenen nicht aus), die Konzentration auf einen
"Handlungsablauf von »klassischer« Einfachheit und Prägnanz", auf
ein "Drama des »kein Wort zuviel«, »keine Szene ohne plausible
Funktion«" (Guthke
1998, S.417) lässt vermuten, dass es Schiller darum geht, dass
der Zuschauer sein "Augenmerk auf dies »Mache«, auf die schon
artistische Komposition" (ebd.)
und die "genau berechnete ästhetische Struktur" (Sauermeister
1992, S.289) richtet.
Die Tatsache, dass
sich die Handlung in Maria Stuart "stärker als je zuvor in
die intrapersonalen Vorgänge verlagert" (Guthke
1998, S.417) hat auch dazu beigetragen, dass das Stück immer
wieder als ein ▪ analytisches
Charakterdrama aufgefasst worden ist. (vgl.
Vonhoff
2005, S.156ff.)
Die Bedeutung der
Komposition des Dramas mit seiner "äußerst komprimierenden,
Euripides'
[480-406 v. Chr., d. Verf.]
analytischem Drama nacheifernde(n) Handlungsführung mit
ihrer formal-artistischen Technik der vielleicht allzu kalkulierten
Parallelisierung, Kontrastierung und Symmetrierung von Szenen,
Personen, Wechselreden und Positionen" (Guthke
1998, S.420) ist bei manchen Kritikern im 19. Jahrhundert
keineswegs gut angekommen, hat aber auch dazu geführt, dass die
Tektonik von Maria Stuart immer wieder
schematisch-schablonenartig vereinfacht worden ist und damit einem
"Schematismus" bei der formalen Sortierung des Ganzen und seiner
Deutung Vorschub geleistet hat, die ebenso viel verdeutlicht haben wie sie auf
auf der anderen Seite verunklärten (vgl.
Vonhoff
2005, S.161). Für
Guthke (ebd.) wurden die Interpreten dadurch sogar "in die Irre
geführt", weil diese auch ihre Sicht auf eine angemessene Sicht der
Grundstruktur des Dramas im Gegenüber der beiden miteinander
rivalisierenden Königinnen verstellt habe.
Zudem hätten sie
sich bei ihrer Analyse und Interpretation der thematischen Inhalte
des Stückes davon zu sehr leiten lassen. In der Folge hätten sie
nämlich "auch in der thematischen Dimension, in der
Gegenüberstellung der Königinnen, eine akkurate Antithetik, also so
etwas wie Schwarz-Weiß-Malerei " gesehen, und zwar: "hier die ethisch geläuterte
Triumphfigur, dort die erbärmliche Verbrecherin, hier die Heilige
und Märtyrerin, dort der Theaterbösewicht, hier die am Ende ihres
Lebens von »irdischen«, »physischen« Motiven nicht mehr erreichbare,
sich nach dem Diktat absoluter Werte bestimmende »Idealistin« in der
makellosen Glorie des »Gewissens«, dort die ganz in den Bezügen der
Welt aufgehende »Realistin«, die sich von 'Macht'-Gelüsten und
Rachsucht treiben lässt unter dem Vorwand unter dem Vorwand des
Volkswohls und der Staatsräson (F.
van Ingen, 1988; G. A. Wells, 1973)". (Guthke ebd.)
Koopman (1996,
S.50, zit. n.
Vonhoff
2005, S.161) hat diese Sicht wie folgt dargestellt: "Das
Ausgewogene, ja geradezu Künstliche der Komposition zeigt sich schon
in der außerordentlich straffen und klaren Gliederung der einzelnen
Akte: Akt I und V gehören der Maria, II und IV Elisabeth; begegnet
uns aber in Akt I die freudlose Maria und in Akt II die
triumphierende Elisabeth, so in Akt IV die verzweifelte Elisabeth
und in Akt V die triumphierende Maria; in Akt III begegnen beide
einander, und diese Begegnung liefert den Wendepunkt des Ganzen.
Doch die Symmetrie geht noch weiter: sie erstreckt sich auch auf die
Handlungsabläufe, Elisabeth ist unehelich geboren, zur Königin
geworden, Maria dagegen, als eigentlich legitime Königin, zur
Gefangenen: da zeigen die beiden ersten Akte. Im III. Akt bahnt sich
jedoch eine Veränderung an, die das Geschehen ins Gegenteil
verkehrt: die Richtende wird schließlich zur Verurteilten, die
Verurteilte zur Richterin: Elisabeth begibt sich ihrer Freiheit im
gleichen Maße, wie Maria sie erlangt: der Sieg Marias bedeutet die
Niederlage Elisabeths. Eine ausgewogenere Komposition lässt sich
kaum denken, zumal das Gesetz der wechselseitigen Verknüpfungen auch
für die den Hauptgestalten jeweils zugeordneten Nebenfiguren gilt:
Hat sich Leicester etwa im II. Akt in die Hand Mortimers begeben, so
begibt sich Mortimer im IV. Akt in die Hand Leicesters: schien
beider Verschwörung im II. Akt noch zu gelingen, so droht ihnen nach
den Ereignissen des IV. Aktes gleichermaßen Tod und Untergang."
Die Komposition im
Dienst der Distanzierung des Zuschauers bei der Rezeption des Stückes
Auch wenn sich die
dargestellten Prinzipien der Komposition des Dramas für eine
formalästhetische Betrachtung und eine von der These, Maria
Stuart sei vor allem ein Charakterdrama, geleitete, vor allem
psychologisierende Sichtweise geradezu anbieten, kann das Drama aber
auch in einer anderen als der weitverbreiteten "psychologisierenden
Deutungstradition" (Vonhoff
2005, S.162) gelesen werden. Statt die dramatische Rede der
Figuren stets von den psychologischen Dispositionen, Emotionen und
Überlegungen der Figuren und ihrer seelischen Prozesse zu lesen und
damit einer Lesart zu folgen, die der ohnehin fraglichen These
folge, es gehe in diesem Drama um diese, müsse man "die Figurenreden
abstrakter" lesen (ebd.,
vgl. auch
Sharpe
1991, S.259f., S.263)
Damit ist -
vereinfacht ausgedrückt - gemeint, dass der rhetorischen
Sprachverwendung, die in zahlreichen Szenen des Dramas im
Vordergrund steht, eine weitaus größere Bedeutung zu geben hat.
Diese rhetorische Sprachverwendung wird auch in der Szene deutlich, wenn man das
dargebotene Geschehen als Rollenspiel der jeweiligen Akteurinnen,
vor allem Maria und Elisabeth, versteht. Diese agieren nämlich in
einem vordergründig handlungsarmen dramatischen Geschehen, bei dem
das Stück immer wieder "mit einer anderen Deutung des gleichen
Zusammenhangs oder mit einer überraschenden Wendung, die alles zuvor
Dargestellte in Frage stellt" (Vonhoff
2005, S.160), aufwartet, in immer wieder inszenierten
Rollenspielen, bei denen sie sich entweder verstellen oder aber so
verhalten, wie es die Handlungssituation eben erfordert. Stets tun
sie dies aber im Bewusstsein, dass auch ihre privatesten
Gefühlsäußerungen eine öffentliche, mithin politische Bedeutung
besitzen. Hinzukommt, dass die Rollen, die die beiden Königinnen
spielen, ihnen auch von der Männerwelt vorgegeben werden, in deren
"Welt" sie als Frauen und Funktionsinhaberinnen königlicher Gewalt
agieren. All dies legt dieser Interpretation nach also nahe, die
Figurenreden in Schillers Drama nicht auf dem Hintergrund
psychologisierender Deutungen, sondern eben abstrakter zu lesen.
Zugleich verbindet
sich damit natürlich die Frage, wohin diese Lesart führt bzw. führen soll.
Ganz allgemein besehen, soll sie ermöglichen, dass der Zuschauer mit
den Parallelisierungen und Entgegensetzungen, die sich auf der Ebene
der formalen Struktur des Dramas zeigen, "Unterschiede im Ähnlichen"
erkennen kann und damit zu "Erkenntnissen und Einsichten in die
analysierte Gesellschaft" (ebd.,
S.162) gelangen kann. Und genau diese Funktion erfüllt die
Komposition: Der Zuschauer kann mit ihrer Hilfe, so diese Lesart,
das multiperspektivisch und in zahlreichen einander widersprechenden
Facetten dargebotene Geschehen, damit anders wahrnehmen als die
Figuren und das in deren dramatischer Rede zum Ausdruck Gebrachte.
Dadurch verstrickt er sich nicht so "bewusstlos" (Sautermeister
1979, Ausgabe
1992, S.289) in das Geschehen, wie es die agierenden Figuren des
Dramas tun. Diese nur vordergründig formalästhetischen Strukturen
halten den Zuschauer also auf Distanz und ermöglichen ihm, freie,
nicht an die Figurenperspektiven gebundene Reflexionen über "das
Verhältnis zwischen Geschichte und Individuum" (Sautermeister
1979, S.179, Ausgabe
1992, S.289) Ob man indessen so weit gehen muss, dass das Stück
"ohne diese Formung nur als Chaos wahrgenommen werden könnte", wie
Vonhoff
(2005, S.162) im Anschluss an
Sharpe
(1991 S.256f.) postuliert, dürfte indessen zu weit gehen, zumal
es jede andere Art der Rezeption und Lesart des Dramas und seiner
Komposition nicht nur als unzureichend sondern auch als
grundsätzlich chaotisch zu disqualifizieren sucht.
Für die
Literaturdidaktik und die Behandlung des Dramas im Unterricht dürfte
die davon etwas abgehoben daherkommende literaturwissenschaftliche
Betrachtung der Komposition nur geringe Bedeutung haben, zumal es
dabei im Umgang mit Literatur vor allem darum geht, auf vielfältige
Art und Weise "im Medium des Literarischen Erfahrungen zu machen" (Rosebrock
2001, S.4) und im ▪
Handlungsfeld Literatur in der Schule "anthropologische Grunderfahrungen"
(Abraham/Kepser
(42016, S.36) mitteilbar gemacht werden sollen, die Jugendliche
z. B. bei ihrer
Entwicklung und Identitätsbildung unterstützen, indem ihnen dabei
alternative Lebensentwürfe vorgestellt werden, zu denen sie sich in Beziehung
setzen können, durch Identifikation mit fiktiven Figuren
Fremdverstehen (Alteritätserfahrungen) und
Empathie
gefördert werden und einen Raum für "Probehandeln" der imaginierten Welt
ermöglicht. (vgl.
ebd., S.21).
Unter dieser
literaturdidaktischen Perspektive erklärt sich dann auch, weshalb
die von der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung so sehr in
Frage gestellte psychologisierende Deutungsperspektive des Dramas in
Literaturunterricht der Schule auch weiterhin einen vorrangigen
Platz einnimmt.
Das bedeutet aber nicht, dass die abstraktere Lesart
der dramatischen Rede in Maria Stuart nicht auch bei
▪ einzelnen Szenenanalysen (III,4, V,7-10 z. B.) interessante
Einblicke in Schillers Anspruch "Vernunft und Sinnlichkeit
zusammenstimmen zu lassen" (Vonhoff
2005, S.163) geben kann.
Die Rückbindung der
Kompositionsprinzipien an die Schillers zivilisationskritischen
Betrachtungen des "sentimentalischen Zeitalters" mit
seinem in Schillers Zeit - gerade auch nach den ▪
Erfahrungen der Französischen Revolution und ihrer Bewertung durch
Schiller - nicht lösbar erscheinendem Antagonismus "der
natürlichen Gewalt des Sinnlichen (Stoff)" und der subtilen, aber
deshalb noch gefährlicheren Gewalt des Geistes (Form)"
ebd.,
S.165) dürfte daher wohl im Literaturunterricht bei der Behandlung
des Stückes wohl nur am Rande und dann nur auf einem höheren
Kompetenzniveau zu thematisieren sein.
Dann freilich gilt es auch an
konkreten Figuren des Drama zu zeigen, dass "Schillers Trauerspiel
(...) eine zivilisationskritische Bearbeitung des Maria
Stuart-Stoffes dar(stellt), geschrieben aus der Perspektive eines an
den Notwendigkeiten des sentimentalischen Geschichtsstandes
Verzweifelnden." (ebd.)
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geschlossenen Form ▪
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Die Konstruktion der Fabel ▪
Spannungsverlauf im Drama der geschlossenen Form ▪
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Freytag,
Gustav: Die Technik des Dramas (1863)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.05.2021
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