Die Szene V,10
mit Leicesters Monolog, in dem er in
Teichoskopie dem Zuschauer von der zeitgleich stattfindenden
Hinrichtung ▪ Maria Stuarts
berichtet, ist die letzte Szene des Dramas, die der Titelgestalt
des Stücks gewidmet ist, auch wenn sie selbst auf der Bühne
nicht mehr zu sehen ist.
Ihre
Bedeutung erschließt sich einem aber erst, wenn man sie in ihrer
Beziehung zur Abendmahlszene (▪
V,7) betrachtet.
Gemeinhin gilt nämlich diese Szene als Schlüsselszene für das
Verständnis des Dramas. In ihr gesteht Maria während ihrer
Beichte vor dem Abendmahl gegenüber ▪
Melvil
ihre Schuld an der Ermordung ihres Ehegatten
»Henry Stuart, Lord Darnley (1546-1567) und ihre
erotischen Abenteuer mit dem «James
Hepburn, dem 4. Earl von Bothwell (1534-1578) ein und
scheint dadurch so geläutert, dass sie im Endeffekt in einen
psychischen Zustand einer über die physische Existenz
hinausgehenden erhabenen Freiheit angesichts ihres
bevorstehenden Todes versetzt wird, in der sie sich mit ihrem
Schicksal versöhnt.
Diese Läuterung
oder Wandlung Marias ist vielfach betont worden. Zwei Beispiele
für Interpretationen aus der Mitte der fünfziger Jahre des
vorigen Jahrhunderts sollen dies verdeutlichen:
-
"Der ganze Sinn des Stückes
ist das Sichdurchringen eines sinnlichen Geschöpfes zur Freiheit der
Todesbejahung, in der alles Irdische absinkt und eine Verklärung
erreicht wird, die fast unpersönlich ist. [...] auf der einen Seite der
Tod, der immer näher dringt, auf der anderen die stolze königliche Frau,
die ihn, der äußerlich nicht mehr zu überwinden ist, innerlich
überwindet. Ihre königliche Seele wird lebensüberlegene Fassung einer
geläuterten Seele, und der gefürchtete Tod bringt nur Adel und Stolz". (Nohl
1954, zit. n.
Ibel, 9. Aufl, 1982,
S.55f
-
"Marias Läuterung besteht am
Ende nicht nur darin, dass sie ihren inneren Frieden, sondern dass sie
zugleich auch jene Überlegenheit über alles irdische Schicksal gewinnt,
die für Schiller selbst der große innere Besitz seiner Reifezeit war.
Nicht nur rein, sondern auch als Heldin steht Maria schließlich vor uns
da. Nach der Wiederherstellung ihrer Unschuld erlebt sie eine Erhebung
über alles Irdische.
Und zwar ist es ihr tragisches Schicksal, das diese Erhöhung ihres
Wesens vollbringt, und kraft dieser ihrer Läuterung vermag sie das
letzte Schicksal gelassen zu tragen ...
Schiller hat hier, was er wohl als vollendete Menschlichkeit meinte, mit
den Bildern der katholischen Frömmigkeit ausgedrückt. (Buchwald 1957
zit. n. Ibel, 9. Aufl, 1982,
S.57f)
Beispielhaft
für die Läuterungshypothese ist auch die Interpretation
von Edgar
Neis
1981/1999), der die Wandlung Marias zur Erhabenheit auf ihre
Läuterung in der Buße zurückführt. Die schottische Königin
"besitzt", so Neis, "die ruhige Würde und Erhabenheit einer
Königin und die Ergebenheit einer Büßerin", ihre "freiwillige Ergebung in ihr unverdientes und doch selbst geschaffenes Leiden
löst (...) allen Zwang des Schicksals in persönliche
Freiheit auf und macht sie, ihrem besseren Selbst bis zum
letzten Augenblick getreu, die letzte, schwere
Leidensnotwendigkeit, das Sterben, zu einem Akt ihres Willens."
(Neis
(1981) 1999, S.61)
In einem Zustand der Erhabenheit lässt sie quasi ihr
"Sinnenwesen" (Neis
1993a, S.95) hinter sich und erliegt damit als tragische
Figur, ganz so wie Schiller es in seinen ▪
Vorstellungen über
das Erhabene entwickelt hat, als physisches, aber freies
Wesen seinem Schicksal. Dementsprechend wird auch der Tod nur
scheinbar ein Zustand, an dem die existenzielle Freiheit des
Menschen letzten Endes ihre Grenzen findet, denn dadurch, dass
Maria "das Recht des Todes anerkennt" (ebd.)
und ihn "als Sühnung und Erlösung" (ebd.)
auf sich nimmt, hat sie psychisch Zugang zu einer anderen Ebene
höherer Freiheit: "Maria, die sich im Anfang noch von dem
lockenden Leben verleiten ließ, geht am Ende freudig in den Tod,
weil er die Sühne ihrer Schuld bedeutet. So nur war es möglich,
aus Maria eine tragische Heldin zu machen. Die gefangene Maria,
die dem Tod nicht entgehen kann, muss sein Recht mit Freiheit
anerkennen." (ebd.)
Gegen diese Deutung haben sich inzwischen zahlreiche
Interpreten zur Wort gemeldet, die zu der Frage, "ob Marias
Wandlung die Folge einer Entwicklung oder einer plötzlichen
durch die Aussichtslosigkeit ihrer Lage verursachten Umschwungs
bildet" (Alt
2004, Bd. II, S. 506), Position bezogen haben.
Inzwischen
gilt wohl allgemein, dass Friedrich Schiller "(....) Marias
Entsagung nicht durch einen vorhergehenden Prozess" gestaltet,
sondern eben nur "dessen Ergebnis - des Gestus des Verzichts um
Horizont der Märtyrertradition, deren Requisiten den
Inszenierungsrahmen des Schlussakts füllen." (ebd.)
So abgeklärt, wie Maria nach der Abendmahlszene in den Tod zu
gehen scheint, steht nicht nur in einem klaren Kontrast zur
ansonsten sinnlich orientierten Maria, wie sie sich angesichts
der ereifernden Rom-Erzählung Mortimers in
▪ Szene I,4 zeigt oder als
die "Femme fatale der Vergangenheit", sondern "zwischen
beiden Motivbereichen herrscht keine Verbindung" (ebd.).
Der Grund dafür liege, so Alt weiter, darin, dass es hier nicht
darum geht, die "fiktive psychische Einheit des dramatischen
Individuums" (ebd.)
zum Ausdruck zu bringen. Stattdessen erfülle dieser
Motivgegensatz lediglich eine (dramaturgische) Funktion
innerhalb der tragischen Wirkungsökonomie des Stückes. (vgl. ebd.)
Die Wandlung Maria Stuarts kann aber auch unter dem Blickwinkel einer
anderen Lesart betrachtet werden. So betont z. B.
Foi (2006, S.236f.), dass Maria nach der Abendmahlszene
"nicht als 'schon verklärter Geist' von der Bühne ab(tritt)".
Denn, so argumentiert sie weiter, sei die Abendmahlszene
schließlich auch nicht die letzte Szene, die Maria Stuart
gewidmet sei, zumal die "symbolische, religiöse Zelebrierung
ihrer inneren und äußeren Schönheit, die mit dem königlichen
Diadem auch die Zeichen der weltlichen Macht zurückgewinnt,
(...) nicht das Ende des irdischen Daseins dar(stellt)." Schiller inszeniere
damit "nicht die Apotheose einer fast
schon romantischen Märtyrergestalt [...|. Vielmehr bringt er den Vorsatz
zur Geltung, seine Figur immer als 'physisches Wesen' beizubehalten, und
führt ihn bis zum Äußersten aus. Nach und trotz ihrer Wandlung beim
Abendmahl, spricht Maria noch in der darauffolgenden Szene: Leicester
hört ihre Stimme. Und es ist die Szene der Hinrichtung, in der Marias
physisches Wesen vernichtet wird. Dies ist tatsächlich ihre letzte
Wandlung.[...|
In der zehnten Szene des fünften Aufzuges hat Maria, auf ein physisches
Wesen, auf ihr nacktes Leben reduziert, selbst diese rührende Gestalt
verloren. Sie ist zum dumpfen Schlag eines fallenden Kopfes geworden.
[...|
Die brutale Reduktion Marias auf ein physisches Wesen in der
Hinrichtungsszene verweist auf die brutale Reduktion des juristischen
Diskurses im Dienst der Macht. [...| Maria Stuart stirbt nicht nur zur
schönen Seele gewandelt, und mit der Krone auf dem Kopf, sie stirbt auch
weiß gekleidet, wie jeder Beliebige zum Tode Verurteilte." (Foi
2006, S.234-241)
Das
es Schiller nicht darum gehe, die "Apotheose einer
fast schon romantischen Märtyrergestalt" zu inszenieren, sondern
Maria als ein 'physisches Wesen'
dazustellen, wird auch an anderen Stellen des Dramas
deutlich.
So kann man auch in Szene
• I,3 im Zusammenhang mit
der •
Romerzählung Mortimers erkennen, dass Schiller Marias
"physisches Wesen ohne Hang zum dünnblütigen Märtyrertum anlegt"
(Alt
2004, Bd. II, S. 505), als sie Mortimer auffordert, damit
aufzuhören, vor ihr diesen "Lebensteppich" auszubreiten, das sie
"elend und gefangen sei".
Erst die konfrontativ endende
Begegnung der Königinnen "und dem durch Leicesters Intrige gegen
Mortimer herbeigeführten großen Umschwung" (ebd.),
könne Maria ihre Affekte wieder kontrollieren, was "sie im
Schlussakt zur gefassten Heldin von, wie man gerne betont hat,
erhabener Würde zu bestimmen scheint." (ebd.)
Noch in der
Auseinandersetzung mit
▪
Mortimer, aber vor allem in der Art der
Auseinandersetzung, die sie mit
▪
Elisabeth bei ihrer Begegnung führt
(▪
III,4), zeigt sie sich ganz von ihrer leidenschaftlichen Seite. Am Ende
allerdings gewinnt sie, nach dem Umschwung, den
▪
Leicesters Intrige gegen
Mortimer (▪
IV,4) bewirkt, "jedoch jene Kontrolle über ihre Leidenschaft,
die sie im Schlussakt zur gefassten Heldin von, wie man gern betont hat,
erhabenen Würde zu bestimmen scheint.“ (ebd.)
Diese Wandlung Maria
Stuarts vollzieht sich nach Auffassung von Peter-André
Alt
(2000, Bd. 2, S.506) als "Gestus des Verzichts im Horizont der
Märtyrertradition, deren Requisiten den Inszenierungsrahmen des
Schlussaktes füllen. Erinnert die sinnlich empfindende Maria, die sich
von Mortimers Italienbericht stimulieren lässt, an die Femme fatale
der Vergangenheit, so zeigt die gelassen ihren Tod erwartende Königin
des Schlussaktes eine überraschend abgeklärte Haltung. Zwischen beiden
Motivbereichen herrscht keine Verbindung, weil hier nicht die fiktive
psychische Einheit des dramatischen Individuums, sondern dessen Funktion
innerhalb der tragischen Wirkungsökonomie von Bedeutung zu sein scheint.
Auch deshalb verzichtet Schiller auf die Ausarbeitung eines Monologs,
der Marias Wandlung näher aus den Umständen und der Reflexion der Figur
hätte begründen können".
Dabei biete Maria keinen Modellfall für erhabenen Widerstand gegen ihre
äußere Zwangslage, sondern gewinne "ihre Würde erst unter den
Bedingungen des Leidens. Der Erprobungsfall des ethischen Prinzips ist
die individuelle Krisensituation, in der sich Maria jedoch nicht als
erhabener Charakter im Kampf mit den Widrigkeiten des Lebens, sondern
als schöne Seele profiliert." (ebd.
S. 507)
Außerdem weise die
große Geste, mit der sich Maria am Ende des Dramas in ihr Schicksal vor
und nach der Abendmahlszene (▪ V,7) füge
"auf die Qualität der Anmut, wie sie Schillers Essay von 1793 mit recht
konventioneller Argumentationslogik (und ohne Sinn für die Bedeutung
sozialer Rollenklischees) als Merkmal des weiblichen Charakters
hervorgehoben hat. Zu seinen Attributen gehört gerade nicht die Würde
des erhabenen Widerstandsgeistes, sondern die in der individuellen
Lebensäußerung wirksame Intuition [...]. (ebd.)
Dass Marias Wandlung am Ende darin besteht, dass sie "die Differenz
zwischen äußerer Vollkommenheit und menschlicher Unvollkommenheit in
ihrer Todesstunde auf(hebt)" und zur "schönen Seele" wird, hat
Sautermeister
(1979, S.194f.) betont: In ihrer Todesstunde wetteiferten
seiner Auffassung nach "die
königliche Schönheit ihrer Gestalt und der Adel ihrer Menschlichkeit
harmonisch miteinander." Der tiefgreifende Wandel zwischen der
Königinnen-Szene und der Todesstunde lasse sich "im Horizont der
ästhetischen Theorie Schillers adäquat erfassen - freilich nicht in der
üblicherweise zitierten Theorie des Dualismus, sondern in der
versöhnenden Synthesis-Konzeption. Eine ihrer zentralen Kategorien ist
die »schöne Seele« - Symbol der harmonischen Verfassung des Individuums,
das seine sinnlich-natürlichen und sittlich-geistigen Kräfte zwanglos
versöhnt." (Sautermeister
1979, S.194f.)
Gegen alle
Einwände, die gegen die Hypothese vom Läuterungsdrama erhoben
werden, positioniert sich
Scholz
(1981,1993, S.36-39):
"Zu der Frage, ob Maria Stuart bis zum Schluss als 'physisches Wesen'
erhalten bleibt und damit der Aspekt des Läuterungsdramas - wie Beck,
aber vor allem Sautermeister behaupten, aufgehoben wird - muss der V.
Akt des Dramas betrachtet werden. Hier [...] realisiert sich Schillers
Auffassung des Todes als Inbegriff äußerster Vergänglichkeit des
Menschen, in dem er zugleich den äußersten Grad der Transzendierung
alles Endlichen darstellt. »Sie geht dahin, ein schon verklärter Geist«,
- das lässt Schiller im Drama sagen und meint es auch so. Angesichts
dieser eindeutigen dichterischen Aussage - und wir haben kein Recht, sie
nicht wörtlich zu nehmen - wirkt die Ableugnung der Maria Stuart als
'Läuterungsdrama' als psychologisierende Haarspalterei und gesuchte
»neue Interpretation« um jeden Preis. [...] Erst im Tode gewinnt diese
alles andere als ideale Gestalt ihre tragische Erhöhung und Verklärung."
(Scholz
(1981)1993, S.36-39, gekürzt)
An Leicester,
der ja nur durch eine "Persönlichkeitsspaltung" (Alt
2004, Bd. II, S. 504) seinen eigenen Kopf retten konnte,
zeigt Schiller "die Deformation des Charakters durch die
Politik" (ebd.,
S. 505). Der Lord, "der die politischen Ereignisse überlegt zu
steuern suchte, ist am Schluss zur Passivität verdammt" (ebd.)
und wird ohnmächtig. So "(steht) nicht das Bild der Hinrichtung
[...], sondern der Zusammenbruch des moralisch versagenden
Höflings (...) am effektvollen Schluss der Szene. Der leblos
wirkende Körper Leicesters aber erinnert an den Leichnam der
Königin, deren Tod er durch seine politische Ohnmacht, die der
physischen vorangeht, zu verantworten hat." (ebd.)
▪
Methodenrepertoire zur
szenischen Erarbeitung von Dramentexten
▪
Analyse einer dramatischen Szene
▪
Strukturen dramatischer Texte
▪
Dramaturgie und Inszenierung
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.10.2023