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Strukturen
dramatischer Texte
▪
Analytisches Drama
▪ Überblick
▪
Aufbauschema des analytischen
Dramas
▪
Drama der geschlossenen Form
Die Begegnung von ▪
Maria Stuart und
▪
Elisabeth (Szene ▪ III,4) ist, formalästhetisch betrachtet, in der Mitte des Dramas
platziert und die ▪
Einordnung
Szene in die Dramenhandlung muss daher zahlreiche
Entwicklungen im Blick behalten.
Das einzige, historisch ohnehin
nie erfolgte Treffen der beiden königlichen Rivalinnen
im Stück wird gemeinhin als der Höhepunkt der ▪
Handlung angesehen und spielt dementsprechend im ▪ Pyramidenmodell
der Komposition Freytags oder allgemein im ▪
Spannungsverlauf des Dramas eine
herausragende Rolle. Die Interpretation der Szene bleibt aber ▪
in der literaturwissenschaftlichen Forschung weiterhin umstritten.
In
der Aufführungsgeschichte des Dramas wurde die Begegnung zu
verschiedenen Zeiten auf der Grundlage ihres jeweiligen, auch
zeitbedingten Verständnisses, ▪
von unzähligen unterschiedlichen Regiekonzepten in Szene gesetzt,
die alle auf ihre Weise nur erdenklichen Akzente gesetzt haben.
Bei den
Interpretationen des Stücks ist dabei die psychologische Deutungsperspektive
am weitesten verbreitet. Sie lässt sich sich mehr oder weniger von der Auffassung
leiten, dass es sich bei ▪Friedrich
Schillers Drama ▪ Maria Stuart um ein
▪ analytisches Charakterdrama handelt, "bei dem die wesentlichen Momente
der Handlung einschließlich der Gerichtsverhandlung gegen die
des Hochverrats angeklagte Maria bereits zu Beginn des Stücks
abgeschlossen sind, so dass das Trauerspiel ganz und gar auf die
unterschiedliche Rezeption und Interpretation dieser Handlungen
konzentriert bleibt" (Vonhoff
2005, S.157). Geht man von einem Charakterdrama aus, dann
wird damit unterstellt, dass "dieses Trauerspiel die innere Entwicklung zum Gegenstand
haben soll" (ebd.,
S.158). Dem ist in neueren Forschungen vor allem mit dem
Hinweis widersprochen worden, dass in dem Stück keine
Entwicklung der Charaktere zur Anschauung gebracht werde,
"sondern ganz im Gegenteil das fortwährende, unter den
dargestellten Umständen nicht zu überwindende Eingeschränktsein
der Charaktere (Figuren) im dramatischen Stück vorgeführt" werde
(ebd.,
S.160)
Insbesondere
die These von einer "Wandlung" oder "Läuterung" Marias (z. B.
Buchwald 1957,
Neis
(1981) 1999 u. a. m.) im Verlauf des dramatischen Geschehens, auch Kern
der These von der "Märtyrertragödie", ist dabei mit akribischer
Textarbeit entgegengearbeitet worden (Guthke
1998/2005, S.439. Dabei wird betont, dass es für
Entwicklung oder Läuterung Marias in ihrem gewöhnlich
verwendeten Sinne im "Text keine eindeutigen Anhaltspunkte
(gibt); zuviel seelisches Auf und Ab bestimmt die Vorgänge.
[...] Tatsächlich nimmt Maria dem Wortlaut nach ja mehrmals, an
verschiedenen Stationen ihres Weges, Abschied von der Welt. Und
wie die unterschiedlichen Deutungen erkennen lassen, legt sich
an mehreren Stellen dieses Weges (nicht immer plausibel) der
Gedanke nahe, dass eine Gewandelte vor uns stehe, ohne dass
zweifelsfrei eindeutig würde, in welchem Moment die
entscheidende Wandlung vollzieht." (ebd.)
Auf der
Grundlage dieser Kritik am vermeintlichen "Läuterungsdrama"
Maria Stuart hat sich eine dem Mainstream der
"psychologisierenden Deutungstradition" (Vonhoff
2005, S.162) abgewandte Position entwickelt, die die
Grundstruktur des Dramas mitsamt der Funktion ihrer
kompositorischen Prinzipien wie ▪
Parallelisierung, Kontrastierung und Symmetrierung von Szenen,
Personen, Wechselreden und Positionen anders versteht und sich als
Alternative zu einer ▪
schematischen und schablonenartigen Betrachtung der Tektonik des
Dramas präsentiert.
Diese "in die
Irre" (Guthke
1998, S.420) führende psychologisierende Betrachtung hat, ihren Kritikern zufolge,
auch dazu geführt, dass bestimmte Themen des Dramas auf der
Grundlage ihrer spezifischen Sicht auf die formalästhetischen
Kompositionsprinzipien auch in einer Art "Schwarz-Weiß-Malerei"
einander gegenübergestellt worden seien.
Dafür habe die
Begegnung der Königinnen mit ihrer formalästhetisch "akkurate(n) Antithetik"
in besonderem Maße herhalten müssen: "hier die ethisch geläuterte
Triumphfigur, dort die erbärmliche Verbrecherin, hier die Heilige
und Märtyrerin, dort der Theaterbösewicht, hier die am Ende ihres
Lebens von »irdischen«, »physischen« Motiven nicht mehr erreichbare,
sich nach dem Diktat absoluter Werte bestimmende »Idealistin« in der
makellosen Glorie des »Gewissens«, dort die ganz in den Bezügen der
Welt aufgehende »Realistin«, die sich von 'Macht'-Gelüsten und
Rachsucht treiben lässt unter dem Vorwand unter dem Vorwand des
Volkswohls und der Staatsräson (F.
van Ingen, 1988; G. A. Wells, 1973)". (Guthke ebd.)
Statt die dramatische Rede der
Figuren stets von den psychologischen Dispositionen, Emotionen und
Überlegungen der Figuren und ihrer seelischen Prozesse zu lesen und
damit einer Lesart zu folgen, die der ohnehin fraglichen These
folge, es gehe in diesem Drama " (überhaupt) um die Darstellung von
seelischen Prozessen" (Vonhoff
2005, S.162), müsse man "die Figurenreden
abstrakter" lesen (ebd.,
vgl. auch
Sharpe
1991, S.259f., S.263) Damit ist -
vereinfacht ausgedrückt - gemeint, dass der rhetorischen
Sprachverwendung und ihrer Analyse, die in zahlreichen Szenen des Dramas im
Vordergrund steht, eine weitaus größere Bedeutung zu geben ist.
Dies lässt sich auch in Szene III,4 zeigen.
Diese rhetorische Sprachverwendung wird
auch deutlich, als die beiden Königinnen persönlich
aufeinandertreffen. Voraussetzung für ihr Verständnis ist, dass
man das
dargebotene Geschehen als Rollenspiel der beiden Akteurinnen versteht.
Für Maria gilt dies ohnehin, denn "wo immer Maria sich und ihr
Handeln auslegt, geschieht dies im Rollenmodell der Herrscherin"
(Alt
2004, Bd. II, S. 501), bleibt Maria wie ihre Rivalin "an
machttechnische Muster" gefesselt" (ebd.,
S.500), auch wenn "hinter dem Konflikt um die Rechte des Throns
(...) die Linien einer erotischen Konkurrenzsituation
auf(scheinen)".(ebd.,
S.499).
Diese
abstraktere Lesart, die den psychologisierenden Deutungsrahmen
bewusst verlässt, soll dazu beitragen, das Stück, welches immer
wieder "mit einer anderen Deutung des gleichen Zusammenhangs
oder mit einer überraschenden Wendung, die alles zuvor
Dargestellte in Frage stellt" (Vonhoff
2005, S.160), aufwartet, so zu rezipieren, dass die von Schiller
intendierte "Zivilisationskritik" (ebd.,
S.166) an den gesellschaftlichen Widersprüchen seiner Zeit
erfahrbar wird. Die "zivilisationspessimistische Denkfigur" (ebd.,
S.166), die seinem Drama zugrunde liegt, beruhen letztlich auf
in seinen prinzipiell pessimistischen Auffassungen über die
gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungspotentiale seiner Zeit,
die er das sentimentalische Zeitalter, nennt. Mit seinen ▪
Erfahrungen der Französischen Revolution und ihrer Bewertung -
kann sie nach Auffassung Schillers den Antagonismus "der
natürlichen Gewalt des Sinnlichen (Stoff)" und der subtilen, aber
deshalb noch gefährlicheren Gewalt des Geistes (Form)" (ebd.,
S.165) nicht überwinden.
Wenn es
Schiller dennoch darum zu tun ist, dass der Zuschauer
"Unterschiede im Ähnlichen" erkennen kann und damit zu
"Erkenntnissen und Einsichten in die analysierte Gesellschaft" (ebd.,
S.162) gelangen kann, muss das Drama auch anhand seiner Figuren
vermitteln können, dass es "(...) eine zivilisationskritische
Bearbeitung des Maria Stuart-Stoffes dar(stellt), geschrieben aus der Perspektive eines an
den Notwendigkeiten des sentimentalischen Geschichtsstandes
Verzweifelnden." (ebd.)
Geht es in
diesem allgemeinen Deutungsrahmen bei der Begegnung der
Königinnen als weniger um eine "wirkliche Darbietung" (ebd.,
S.163)
als um eine "rhetorische Debatte samt Rollenspiel" (ebd.)
dann richtet sich der Fokus der Analyse nicht so sehr auf
eine "psychologisch geführte Auseinandersetzung" (ebd.)
der beiden Königinnen, sondern nimmt die rhetorische
Sprachverwendung und die Grundstruktur des szenischen Spiels als
Rollenspiel in den Blick.
So kann die in
der Szene stattfindende rhetorische Debatte in einem auf
Verstellung beruhenden Rollenspiel an bestimmten
Bühnenanweisungen (Regiebemerkungen) im
Nebentext
und sprachlich an verschiedenen "Brechungen in der
Regelmäßigkeit des verwendeten
Blankverses"
(ebd.)
aufgezeigt werden.
Auf der Ebene
des Nebentexts wird dies z. B. daran deutlich, dass das
höhnische
Lachen (▪ V. 2419), mit dem Elisabeth ihre schon kurz vor
eingenommene Pose ▪ "stolzer
Verachtung" (▪
V. 2413) noch steigert, eigentlich signalisieren soll, dass
sie die Situation im Griff hat. In Wahrheit aber zeigt die
Tatsache, dass sie "gleich darauf, vom regelmäßig vollendeten
Blankvers abweichenden Versen nur noch einen vierhebigen Vers (V,
2420) hervorbringt: »Jetzt
zeigt Ihr Euer wahres / Gesicht, bis jetzt war's nur die Larve«,
dass sie ihr emotionales Involvement kaum kontrollieren kann.
Statt also die Botschaft einer "gebändigten Rationalität" (ebd.,
S.163)
zu senden, wird damit verdeutlicht, "wie auf das (Herrschafts-)Technische
verkürzte Rationalität ihrerseits in Irrationalität umschlägt."
(ebd.,
S.163)
Im Gegensatz zu
den dies ausdrückenden Abweichungen von der Regelmäßigkeit des
Blankverses
bei Elisabeth ist die Antwort Marias darauf zunächst in ihrer
vernünftigen Argumentation (V, 2421-2432), dann aber auch in
einer zunehmend von Emotionen geprägten rhetorischen
Grundhaltung der nachfolgenden Verse (V, 2436-2443) "samt ihrem
dann schließlich herausgeschleuderten ▪
Bastardvorwurf (V. 2447-2541) ganz regelmäßig in Blankversen
abgefasst". (ebd.)
In dem
"rhetorisch-metrischen Spiel" (ebd.),
das dargeboten wird, spielt die Bühnenanweisung zu V. 2421, die
der unmittelbaren Replik Marias auf das höhnische Lachen ihrer
Widersacherin zugeordnet ist, eine zentrale Rolle.
Maria soll
danach "von
Zorn glühend, doch mit einer edlen Würde" sprechen und
auftreten, um die verächtliche Pose und Anmaßung Elisabeths zu
parieren. Dabei bringt diese oft überlesene oder unterschätzte
Regieanweisung zusammen, was sonst im Stück sorgsam getrennt
bleibt: Stofftrieb und Formtrieb, deutet so an, wie das Folgende
zu verstehen ist, als Ausdruck von »Schönheit«, die Marias Reden
und ihrem Spiel auf der Bühne im Voraus zugeschrieben wird." (ebd.).
Stoff und Form,
die "natürliche Gewalt des Sinnlichen (Stoff)" (ebd.,
S.165)
einerseits und die "subtile, aber darum als eher noch
gefährlicher eingeschätzte Gewalt des Geistes (Form)" (ebd.,)
lassen sich eben im "sentimentalischen Zeitalter" auch in einer
auf der Bühne präsentierten Figur nicht überwinden, wenngleich
Schiller und das ästhetische Programm der Klassik den Anspruch
auf eine prinzipiell mögliche Versöhnung und Harmonisierung der
beiden Pole nicht aufgeben und der Autor diesen Anspruch in
seiner rhetorischen Sprachverwendung und dem vom Rollenspiel
dominierten Drama Maria Stuart (vgl.
Sharpe 1991, S.259f.) nicht preisgibt.
In der
Begegnung der Königinnen zeigt sich jedenfalls "das Scheitern
einer versöhnlichen, »naiv« Schönheit versprechenden Konzeption
[...]; darum auch die Notwendigkeit, mit der das Trauerspiel von
da an auf die Katastrophe im Kontext des Erhabenen zusteuert,
das seinerseits Ausdruck des sentimentalischen Zeitalters mit
seiner Unversöhnlichkeit der Gegensätze ist." (Vonhoff
2005, S.166)