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Strukturen
dramatischer Texte

Zunächst ist man geneigt, das Stück als ein Geschichtsdrama über die
Auseinandersetzung der beiden Rivalinnen um den englischen Thron zu
lesen, weil die Vielzahl der von Schiller verarbeiten historischen
Bezüge diesen ▪ historischen Hintergrund
immer wieder aufscheinen lassen. Doch mit dieser Lesart betritt man
"dünnes Eis", denn in der literaturwissenschaftlichen Forschung ist die
Frage, welche Bedeutung das Geschichtliche für das Verständnis dieses
Dramas besitzt sehr umstritten.
So ist Herbert
Kraft
(1978, S.246-251, zit. n.
Grawe 2011, S.212ff.) nicht einmal damit zufrieden "von einer
Enthistorisierung des Konflikts" durch Schiller zu sprechen, sondern
wirft ihm vor, die Geschichte bewusst dadurch verfälscht zu haben, dass
"den politischen Auseinandersetzungen der Grund in den charakterlichen
Mängeln der Repräsentanten eines Staates zugeschrieben wird" und "das
Charakterdrama aus der Historie gelöst, ihm durch die Verselbständigung
die geschichtliche Grundlage entzogen und die Perspektive genommen"
werde.
Krafts Urteil schließt dabei bewusst an die Rezension einer
Maria-Stuart-Aufführung aus dem Jahr 1832 in Düsseldorf durch den
Dramatiker des ▪ Vormärz
»Christian
Dietrich Grabbe (1801-1836) an, der betonte: "Zwei Königinnen
vergessen vor Neid und Leidenschaft Rang und Krone und werden einander
scheltende Weiber, jede Rücksicht aus den Augen setzend, außer den
bitteren Anzüglichkeiten." So habe es Schiller offenbar nicht darauf
abgesehen, "die großen Notwendigkeits- und Weltverhältnisse, welche ▪
Elisabeth
leiteten zum Hebel einer Tragödie zu machen, sondern er hat die Handlung
in einen engen Kreis von kleinlicher Intrige und Eifersucht gebannt."
(zit. n.
Grawe 2011, S.163f.)
Kraft stellt sich auch der Auffassung entgegen, dass die Veränderung der
historischen Fakten durch Schiller dadurch legitimiert werden könne,
dass in dem Charakterdrama die Geschichte durch ihre Reduktion auf die
Perspektiven darin agierender Figuren so gar stärker verdeutlicht und
kommentiert werden könne, denn dies führe letzten Ende "zu einem
Geschichtsbild, in welchem die geschichtlichen Dimensionen zur
Vergangenheit ohne Fakten und zu einer Zukunft ohne Perspektive
verfälscht sind." (Kraft
(1978, zit. n.
Grawe 2011, S.214)
Gegen eine enthistorisierend-strukturanalytische Betrachtung des Dramas
(z. B.
Storz 1963, S.331), die dem Stück zuschreibt, dass es "alles
Geschichtliche des Sujets zur Bedeutungslosigkeit" (Guthke
1998, S.416) verblassen lasse, hat Gert
Sautermeister (1979, S.180) in seiner 1979 veröffentlichen Fassung
erläutert (in der überarbeiteten Fassung von
1992/2005, S.290f.) fehlt die entsprechende Passage!), betont:
"Schiller hat noch keine Vorstellung von einer rational planbaren
Geschichte: die Möglichkeiten ihrer bewussten, zielstrebigen Formung
mittels Politik und massenhafter Aktion schätzt er nach den Erfahrungen
der Französischen Revolution gering ein. Geschichte bleibt für ihn
wesentlich das Tätigkeitsfeld des heroischen Individuums, das entweder,
wie im Schauspiel, sein Einzelinteresse in zufälliger Harmonie mit einem
gemeinschaftlichen zur Deckung bringt, oder, wie in der Tragödie, es
aufgrund konkurrierender Interessen preisgeben muss. So gesehen setzt
sich in divergierenden ästhetischen Formgesetzen eine identische
Zeiterfahrung durch: die des Geschichtsprozesses als eines politisch
unbeherrschbaren Schicksals. Im durchgängigen Scheitern sämtlicher
individueller Absichten und Zwecke in der Maria Stuart wird diese
Erfahrung beredt."
Das Geschichtliche, wie es Schiller versteht, ergibt aus den Fragen, die
sein Stück aufwirft: "Es fragt nach den Möglichkeiten und Aporien
geschichtlichen Handelns, nach dem Verhältnis zwischen Selbstbehauptung
und Ideal, nach der Möglichkeit, im Rahmen eines nach unabänderlichen
Gesetzen ablaufenden Geschichtsprozesses die Würde und die Identität als
Subjekt zu bewahren." (Hofmann
2003, S.160) Zugleich kann es aber einen "skeptischen Blick auf die
Geschichte mit einem utopischen Anspruch verbinden, der das Bedürfnis
der Menschen nach dem Ideal und der Versöhnung der Widersprüche
artikuliert, ohne in unkritischer Weise eine affirmative Sicht auf den
historischen Prozess zu bieten." (ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.05.2021