August Wilhelm Schlegel wurde am 5. September 1767 als eines von zehn
Kindern des Pfarrers und Dichters »Johann
Adolf Schlegel (1721-1793) und seiner Frau Johanna Christiane
Erdmuthe, geb. Hübsch, in Hannover geboren. Als Kinde eines im Ort
angesehenen und gebildeten, aber auch frommen Mannes, "der seine
Studierstube zu Hause hatte und dort auch Gemeindeglieder empfing, von
dem Vorbildlichkeit in der gottgefälligen Lebensführung erwartet und der
gern um Rat gefragt wurde. Einer, der lehrend, redend, auch
repräsentierend immerfort tätig war und aus seiner beruflich
festgelegten Rolle nie so recht herauskam." (Strobel
2017, S.14) Pfarrhäuser waren in dieser Zeit Orte, wo Bildung
hochgehalten wurde. Hier wurde natürlich viel gebetet, aber auch in
täglichen Bibelstunden aus der Heiligen Schrift vorgelesen, gemeinsam
musiziert, aber auch der das Pfarrhaus umgebende Garten wurde von allen,
die das konnten, gemeinsam beackert und gepflegt. Nicht selten
entwickelte sich in diesem besonders geschützten, aber doch unter den
Augen kontrollierenden Augen der Pfarrgemeinde "Winkelgelehrsamkeit
manch eines verkannten Genies", das sich in der Regel an einem
aufgeklärten Weltbild orientierte, das in den protestantischen
Pfarrhäusern schon seit längerem Einzug gefunden hatte.
Wer unter
solchen Bedingungen als männlicher Nachkomme aufwuchs, hatte im Rahmen
der bürgerlichen Welt grundsätzlich alle Möglichkeiten, die einem Mann
dieser Zeit offenstanden, wenn er "nach oben" kommen wollte. Und das
hieß vor allem: Zugang zu schulischer und universitärer Bildung und ein
Leben in persönlicher und beruflicher Selbstbestimmung, soweit dies die
Verhältnisse der Zeit grundsätzlich zuließen.
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August Wilhelm wuchs also, so gesehen, "im Windschatten der Dorf- und
Stadtkirche" (ebd.)
in gesicherten finanziellen Verhältnissen "zwischen Hausandacht und
Glockenläuten" (ebd.)
auf, war aber, wie alle seine Geschwister noch dazu "ungemein
privilegiert, was den Zugang zur Kultur ihrer jeweiligen Zeit auch über
Bibellektüre und Theologie hinaus" (ebd.)
betraf. Dazu gehörte auch das Lesen.
Noch immer waren die ganz überwiegende Mehrheit der auf dem Land
lebenden Menschen Analphabeten. In den Städten hingegen, vor allem im
Umfeld von Residenz- und Universitätsstädten, in denen es schon
Elementar-, Latein- und Realschulen sowie Gymnasien gab, konnten Ende
des 18. Jahrhunderts aber schon nahezu alle Einwohner lesen. (vgl.
Schneider 2015,
S.750). Dass sich die Kinder im Hause Schlegel ihren Vater und andere
gelehrte Männer und Künstler im engeren Familienkreis und in der
Familiengeschichte zum Vorbild nahmen, Wissbegierde und eine
Leidenschaft für das Lesen entwickelten, ist gut nachzuvollziehen.
Der
Vater von August Wilhelm war nicht nur ein wortgewaltiger Prediger
sondern auch Verfasser von geistlichen Liedern und den seit Beginn der ▪
Aufklärung besonders
beliebten ▪
Fabeln, die nach Ansicht der zeitgenössischen Fabel-Theoretiker
"eine optimale Verbindung von Poesie und Belehrung" erlaubten (Zymner
2006, S.118). Kaum einer der "gelehrten Dichter" der Zeit, einen Typ,
den auch »Johann
Adolf Schlegel (1721-1793) geradezu idealtypisch verkörperte, ließ
sich nehmen, diese kleinen epischen Texte zu verfassen, mit denen dem
vernünftig-moralisch eingestellten Bürgertum, aber auch anderen weniger
gebildeten Volksschichten, bürgerliche Lebensklugheit und moralische
Belehrung unterhaltsam und belehrend zugleich nahegebracht werden
konnten. Das Vorbild des Vaters vor Augen kamen die Kinder im Hause
Schlegel so sicher schon im frühen Kindesalter mit dem Gedankengut der
Aufklärung in Berührung.
Welche der im 18. Jahrhundert aufkommenden ▪
neuen Lesestoffe im Schlegelschen Pfarrhaus neben der üblichen
Kalenderliteratur, dem Katechismus, religiöser Erbauungsliteratur und
der Bibel (vgl.
Schneider 2015,
S.751) verfügbar waren und gelesen wurden, ist schwer zu sagen.
Allerdings ist davon auszugehen, dass auch literarische,
literaturkritische, unterhaltende und allgemeinwissenschaftliche
Zeitschriften und Periodika, vielleicht auch der eine oder andere Roman
und die sehr beliebten Reisebeschreibungen dazu gehörten und damit den
Horizont ihrer Leserinnen und Leser geweitet haben.
Wie dem auch sei: Das Schlegelsche Pfarrhaus lebte am Puls der Zeit:
"Man war dort über die aktuellen kunsttheoretischen Debatten informiert
und beteiligte sich daran. Die künftigen literarischen Theoretiker
August Wilhelm und Friedrich (der 1772 zur Welt kam) sogen dies alles
gleichsam mit der Muttermilch auf." (Strobel
2017, S.22)
August Wilhelm ging bis 1786 auf das traditionsreiche Lyceum in
Hannover, dessen Bildungsschwerpunkte auf den klassischen Sprachen, auf
Geschichte, Theologie und Mathematik lagen. Die Geschichte der später »Ratsgymnasium
genannten Schule reicht bis ins 14. Jahrhunderts zurück. Zu ihren besten
Zeiten Ende des 16. Jahrhunderts zählte sie 800 (männliche) Schüler,
verzeichnete aber, als später im Zuge der Aufklärung das Deutsche das
Latein verdrängt und Adelige und Bürger begannen, für ihre Privatlehrer
zu engagieren, eine großen Aderlass. 1759 sollen es nur noch 65 Schüler
gewesen sein, die das Lyceum besuchten. Wahrscheinlich wurden dort die
Grundsteine für seine späteres Interesse an Sprachen, an Verslehre und
Metrik sowie Rhetorik gelegt, dem er während seines ab 1786
aufgenommenen Studiums in Göttingen weiter nachgegangen ist.
Der Besuch des Gymnasiums blieb seinem jüngeren Bruder »Friedrich
Schlegel (1772-1829), der wie er später einer der wichtigsten
Persönlichkeiten der Frühromantik werden sollte, versagt, weil ihn die
Eltern offenbar für nicht so begabt halten wie August Wilhelm.
Von seinen anderen Brüdern schlug eigentlich nur sein fünf Jahre älterer
Bruder »Carl
August (1762-1789) einen Weg ein, der nicht zu einer erfolgreichen
bürgerlichen Karriere führt. Dieser ließ sich, als August Wilhelm 15
Jahre alt, einem
»kurhannoverschen Freiwilligen-Infanterieregiment
anwerben lassen, das 1782 vom englischen König George
III.
(1738-1820),
dem dritten britischen Monarch aus dem
»
Haus Hannover,
nach Madras, einem Stützpunkt der
»Britischen
Ostindien
Kompanie an der Ostküste Indiens beordert
worden, wo er 1789 verstarb. Von seinen anderen
Brüdern wurde der älteste Sohn
»Karl
August Moritz Schlegel (1756-1826)nach seinem Theologiestudium erst
Pastor, später Generalsuperintendent
der »Generaldiözese
Harburg. »Johann
Carl Fürchtegott Schlegel (1758-1831), 9 Jahre älter als August
Wilhelm und der zweitälteste Sohn brachte es nach seinem Studium der
Philosophie, Geschichte und Rechtswissenschaften in Göttingen zum
Konsistorialrat des »Provinzialkonsistoriums in
Hannover und zum Mitglied der
»Ständeversammlung
des Königreichs Hannover. Die Schwester Henriette heiratete einen
Pfarrer und seiner jüngsten Schwester Charlotte "gelang mit ihrer Heirat
die Annäherung an höchste Kreise. Ihr Mann war der Dresdner
Hofwirtschaftssekretär und spätere zweite kursächsische Hofmarschall
Ludwig Emanuel Ernst". (Strobel
2017, S.18)
Fast alle Kinder, so scheint es haben, das "soziale Kapital" (Bourdieu
(1983) und damit die Chancen für das Erlangen einer gesicherten und
anerkannten bürgerlichen Existenz, die ihnen das aufgeklärte Pfarrhaus
ihres Vaters bot, genutzt, das in dieser Zeit zu einem der wesentlichen
Eckpfeiler eines als geglückt angesehenen Lebens wurde, ohne dabei das
Glück an den seelischen Zustand der Menschen zu binden.
Dass sich August
Wilhelm 1786 an der hannoverschen Landesuniversität, der erst kurz
zuvor gegründeten Universität in Göttingen, als Theologiestudent
einschrieb, war fast logische Konsequenz seiner Erziehung und
Sozialisation "im Windschatten der Dorf- und Stadtkirche" (Strobel
2017, S.14) in einem "Übergangs- und Konkurrenzbereich
verschiedener aufklärerischer Strömungen" (ebd.
S.17)