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Robert Musil, [Der Verkehrsunfall]*
Die beiden Menschen, die eine breite, belebte Straße hinaufgingen,
gehörten ersichtlich einer bevorzugten Gesellschaftsschicht an, waren
vornehm in Kleidung, Haltung und in der Art, wie sie miteinander sprachen,
trugen die Anfangsbuchstaben ihrer Namen bedeutsam auf ihre Wäsche
gestickt, und ebenso, das heißt nicht nach außen gekehrt, wohl aber in der
feinen Unterwäsche ihres Bewusstseins, wussten sie, wer sie seien und dass
sie sich in einer Haupt- und Residenzstadt auf ihrem Platze befanden.
Diese beiden hielten nun plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich
einen Auflauf bemerkten. Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der
Reihe gesprungen, eine querschlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht,
war seitwärts gerutscht, ein schwerer, jäh gebremster Lastwagen war es,
wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle,
gestrandet dastand. Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu
Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte
freiließen.
Von seinem Wagen herabgekommen, stand der Lenker darin, grau wie
Packpapier, und erklärte mit großen Gebärden den Unglücksfall. Die Blicke
der Hinzukommenden richteten sich auf ihn und sanken dann vorsichtig in
die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwelle
des Gehsteigs gebettet hatte. Er war durch seine eigene Unachtsamkeit zu
Schaden gekommen, wie allgemein zugegeben wurde. Abwechselnd knieten Leute
bei ihm nieder, um etwas mit ihm anzufangen; man öffnete seinen Rock und
schloss ihn wieder, man versuchte ihn aufzurichten oder im Gegenteil, ihn
wieder hinzulegen; eigentlich wollte niemand etwas anderes damit, als die
Zeit ausfüllen, bis mit der Rettungsgesellschaft sachkundige und befugte
Hilfe käme.
Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hatten, über Köpfe
und gebeugte Rücken hinweg, den Daliegenden betrachtet. Dann traten sie
zurück und zögerten. Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der
Herz-Magen-Grube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein
unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen
zu ihr: „ Diese schweren Lastwagen, wie sie hier verwendet werden, haben
einen zu langen Bremsweg.“ Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und
dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon
manchmal gehört, aber sie wusste nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte
es auch nicht wissen; es genügte ihr, dass damit dieser grässliche Vorfall
in irgendeine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem
wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.
Man hörte auch schon die Pfeife des Rettungswagens schrillen, und die
Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung.
Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen. Man hob den
Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen.
Männer in einer Art Uniform waren bemüht, und das Innere des Fuhrwerks,
das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein Krankensaal
aus. Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, dass sich ein
gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen habe. „Nach den
amerikanischen Statistiken“, so bemerkte der Herr, „werden dort jährlich
durch Autos 190 000 Personen getötet und 450 000 verletzt.“
„Meinen Sie, dass er tot ist?“ fragte seine Begleiterin und hatte noch
immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben. „Ich
hoffe, er lebt“, sagte der Herr. „Als man ihn in den Wagen hob, sah es
ganz so aus.“
(aus: Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg:
Rowohlt-Verlag, 1952, S. 10f.)
* Der in eckige Klammern gesetzte Titel ist nachträglich
hinzugefügt; Die kurze Erzählung ist Teil des Ersten Buchs der
Romantrilogie. Darin ist sie im ersten Teil, der als "Erster Teil -
eine Art Einleitung" betitelt ist, in das 1. Kapitel "Woraus
bemerkensweiter Weise nichts hervorgeht", schon ganz zu Beginn des
Romans platziert)
Dieses Werk (Der Verkehrsunfall, von Robert Musil) das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
*Robert Musil, geb. 6.11.1880, gest. 15.4.42; Tod durch Gehirnschlag;
Studium der Philosophie, Psychologie und Mathematik; ab 1922 freier
Schriftsteller; 1938 Emigration über Italien nach Zürich; lebte zuletzt
isoliert, einsam und fast mittellos in Genf; bekannteste Werke: Der Mann
ohne Eigenschaften (Roman, 1936); Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
(Novelle, 1906)
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