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Aspekte der Erzähltextanalyse: Kurt Marti, Neapel sehen

Figurenkonzeption: Statisch oder dynamisch?

 
FAChbereich Deutsch
Glossar LiteraturAutorinnen und Autoren Kurt Marti Text [ Aspekte der Erzähltextanalyse ▪ Texterfassung mit Annotationen (Parallelkonspekt)Inhaltsangabe Strukturskizze Erzähltechnische und sprachliche Mittel Figurenkonzeption: Statisch oder dynamisch? Interpretation ] Bausteine Links ins Internet .. Schreibformen Operatoren im Fach Deutsch
 

In seinem »"StudioD"-Blog setzt sich Norbert Tholen in seiner »Analyse der Kurzgeschichte "Neapel sehen" von ▪ Kurt Marti mit der ▪ Konzeption der Hauptfigur der Kurzgeschichte auseinander und wirft dabei die Frage auf, ob der Mann eine Entwicklung durchmacht.

Dabei kommt er zum Schluss, dass von einer Entwicklung der Persönlichkeit des Mannes nicht gesprochen werden könne. Tholen führt dazu aus: "Zweifellos geschieht etwas: Der Mann wird krank, muss zu Hause bleiben und lässt dann stückweise die Bretterwand abreißen. Ich meine, er machte keine Entwicklung durch, sondern lebte nur den inneren Widerspruch aus, in dem er durch seine Arbeit oder das Arbeitsverhältnis (oder die Verhältnisse, unter denen er arbeiten muss) steht: 'Er haßte das Tempo der Maschine, das er selber beschleunigte.' Einerseits hasst er die Fabrik, weil sie ihn durch die Akkordarbeit kaputt macht; er schottet sich gegen die Fabrik durch eine Bretterwand ab (geht aber täglich hin), macht also die Augen zu. Anderseits will er arbeiten, weil er das verdiente Geld ganz haben und kein 'Greis', sondern ein Mann sein will; die gehasste Fabrikarbeit gibt ihm seine Identität. Als er nicht mehr in die Fabrik gehen kann, wirkt sich dieser Widerspruch dahin aus, dass er die Fabrik sehen will; andere Möglichkeiten des Lebens (die Natur erleben, mit Menschen sprechen) befriedigen ihn nicht - da bleibt er so 'kaputt', wie er seit Jahren ist. Auch in den beiden Beschreibungen seines Glücks nach den letzten Schritten des Niederreißens der Wand zeigt sich kein Unterschied, also auch kein Fortschritt im Glücklichsein. Er stirbt, subjektiv glücklich, objektiv aber blind gegenüber dem, was ihn kaputt gemacht hat; deshalb erschrickt seine Frau auch, als er darum bittet, die Bretterwand niederzureißen - sie weiß über ihn mehr als er (vgl. die Äußerung des Erzählers: 'Aber seine Hände zuckten weiter im Schlaf' - er gibt damit der Frau gegenüber ihrem Mann Recht). Die Bretterwand verschwindet also, aber nicht das Brett vor seinem Kopf.
Frage zur Probe: Was täte er, wenn er wieder gesund würde? Ich meine, er ginge wieder in die Fabrik, hasste sie und baute eine neue Wand - und ließe sich auf kein ernsthaftes Gespräch mit anderen ein, weder mit dem Vorarbeiter noch mit seiner Frau. Zweite Frage zur Probe: Warum hasst 'er' seine Frau (Z. 5 f.)? Er kann nicht hören, dass sie ihm sein Leiden an der Fabrik bewusst macht; er wehrt sich also gegen die Aufklärung des Widerspruchs, in dem er steht und den er in seiner Krankheit ausagiert, in seinem Hass auslebt." [Hervorh. d. Verf.]

Vieles spricht dafür, den Mann als eine statisch konzipierte Figur aufzufassen, wie dies Tholen tut. Mit der gleichen Unerbittlichkeit, mit der er die Bretterwand erstellt, lässt er sie niederreißen, als sie ihm im Weg zu stehen scheint. Und er bleibt auch wirklich blind gegenüber dem, was ihn kaputt gemacht hat. In marxistischer Diktion: Ausdruck der Entfremdung von Arbeit im kapitalistischen System. Insofern scheint sich sein Charakter nicht zu verändern.

 Aber: Der Schreck, den seine Frau bekommt, als "sie ahnt, dass mit der Bretterwand das Gerüst einstürzt, das seinem Leben einen so fragilen wie starren Halt" (Pulver 2004/2007, S.5) gegeben hat, zeigt, dass sich in ihrer Wahrnehmung ihres Mannes etwas Neues entwickelt. "Der Mann, der erstmals einen Blick auf die gesamte Fabrik wirft, ist, vielleicht durch die selbst auferlegte Seh-Schule, ein anderer geworden. Auch die Art seiner Wahrnehmung hat sich verändert. Solange sie sich nur auf das Gärtchen und den Frühling darin richtete, genügte dem Autor das Wort »sehen«. Erst als die Fabrik ins Gesichtsfeld des Kranken tritt, erst da mischen sich Emotionen ein. Jetzt darf der Blick zärtlich auf der Fabrik »ruhen« und ein Lächeln die Züge des Kranken entspannen." (ebd.)

Die Tatsache, dass der Mann am Ende mit sich und seinem Leben im Reinen ist, ihm ein gewisses subjektives Glücksempfinden am Ende seines Weges möglich wird, zeigt, dass er im kleinbürgerlichen Idyll mit Haus und Gärtchen, "geplant als Gegenwelt zur gehassten Arbeit" (ebd.), auch sein Glück, sein "Neapel" - "in der landläufigen Deutung der Inbegriff des Lebens, das Schönste, Wichtigste, das man vor dem Tod sehen will"  (ebd.) - nicht finden kann.
Und: Ist die Fähigkeit, Glück zu empfinden, nicht immer subjektiv?  In diesem Sinne ist eine Entwicklung erkennbar, gewinnt die Figur eine gewisse konzeptionelle Dynamik, gerade weil die Motive seines Fühlens, Denkens und Handelns letztlich ungeklärt bleiben, solange sich der auktoriale und omnipotente Erzähler mit der Ausnahme des "Hasses", den er artikuliert, nie wirklich in die Innensicht der Figur begibt und sie mit ihren Gedanken und Gefühlen zu Wort kommen lässt. So betont Elsbeth Pulver auch, dass das "Neapel" des Mannes, "die Arbeitswelt, die er aus seinem Leben ausschließen wollte" Rätsel aufgebe: "Offenbart sich in dieser erstaunlichen Wendung das trostlose Ende eines trostlosen Lebens, in dem die gehasste Arbeitswelt doch das einzige Wichtige war? Wird so der Beweis geführt, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt? Oder begreift da einer im Sterben, was er im Leben, verstrickt in den Zweikampf mit der Maschine, nicht hat sehen können: dass die Arbeitswelt auch eine Lebenswelt war, ein Kommen und Gehen der Menschen, ein Mikrokosmos, zu dem er, ohne es zu merken und zu wollen, doch auch gehörte?

Nicht dass mit der zweiten Deutung die Härte dieses Lebens geleugnet, verklärt werden soll. Sie bleibt bestehen. Dennoch sollte man das Lächeln des einfachen Mannes nicht einfach als Selbsttäuschung verstehen; es verdient, ernst genommen zu werden. Ohne dass es dem Mann bewusst zu sein braucht, gilt dieses entspannte Lächeln vielleicht nicht dem eigenen vergangenen Leben, sondern einer fernen Zukunft. Über dem Bild der Fabrik, wie es sich in den Augen des Kranken spiegelt, liegt etwas wie Verklärung, ein Hauch des Utopischen – nur ein Hauch, keine Gewissheit. So könnte es sein, in der Zukunft: die Fabrik ein Mikrokosmos, dem sich auch der Arbeiter zugehörig fühlen kann, und in dem die Arbeit nicht zur Selbstzerstörung führt – eine andere, bessere Arbeitswelt. In der Zukunft, wenn irgendwo, liegt das Neapel des Sterbenden." (ebd., S.5f.)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 10.10.2020

    
   Arbeitsanregungen:

Nehmen Sie Stellung: Was spricht für eine statische, was für eine dynamische Figurenkonzeption bei dem Mann in Kurt Martis Kurzgeschichte?

 
 
 

 
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