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Identität als
Scharnier zwischen innerer und äußerer Welt
Gert Egle (2014)
In der Kurzgeschichte "Die
Probe" von
Herbert
Malecha, in Hamburg 1956 erschienen in "Die 16 besten
Kurzgeschichten aus dem Preisausschreiben der Wochenzeitung "Die
Zeit", geht es um das Problem der menschlichen Identität und ihrer
Wirkungen. Erzählt wird von einem Mann namens Jens Redluff, der von
der Polizei gesucht wird und längere Zeit untergetaucht war. Wieder in
die Öffentlichkeit zurückgekehrt, kann er, beim Besuch einer Ausstellung
zufällig als hunderttausendster Besucher ins Rampenlicht geraten, seine
wahre Identität nicht verleugnen und wird verhaftet.
Die Geschichte ist in vier Abschnitte gegliedert, wobei jeder dieser
Abschnitte von einem bestimmten Handlungsort geprägt ist.
Das unvermittelt präsentierte Geschehen am ersten Handlungsort, der
Straße, führt mitten hinein in das Lärmen und Treiben einer
verkehrsreichen Stadt. Jens Redluff ist, als das Geschehen einsetzt,
gerade einem Verkehrsunfall entronnen und der Schrecken über das gerade
Erlebte steckt ihm noch in den Gliedern. Die "brüske Bewegung",
mit der er die besorgte Geste eines älteren Passanten zurückweist,
steht dabei in deutlichem Kontrast zu seinem eigenen Empfinden, das
"eine Welle von Schwäche", ja fast "Übelkeit" in ihm
aufkommen lässt. So gilt sein ganzes Bemühen in dieser
Situation nur "jetzt nicht schwach" zu werden und sich
"unauffällig" unter die "vielen auf der hellen
Straße" zu mischen. So und mit Hilfe eines offensichtlich
gefälschten Passes in der Brusttasche versucht Redluff "den Schritt
der vielen anzunehmen, mitzuschwimmen in dem Strom". Damit
ihm das zumindest rein äußerlich gelingt, muss er seine ganze
Konzentration aufbringen, denn seine Wahrnehmung scheint seltsam begrenzt
und von Furcht geprägt. Der Wirrwarr von Geräuschen und Bewegungen
("abgerissene Gesprächsfetzen schlugen an sein Ohr",
"Motoren summten auf", "Straßenbahn schrammte vorbei"
und nicht zuletzt die Vielzahl der Menschen auf der Straße
erzeugen in Redluff Angst, Angst vor der Entdeckung durch die Preisgabe
seiner wahren Identität. Dieser Angst versucht er dadurch Herr zu werden,
dass er sie verleugnet ("nichts wie verdammte Einbildung"), aber
seine Gestik und Mimik ("Finger kalt und schweißig") zeigen,
wie wenig kongruent diese Haltung ist. So verschafft ihm nur
das Abbiegen in eine etwas dunklere Seitenstraße, in der weniger Menschen
zu finden sind ("Menschenstrom wurde dünner", "Rinnsale
lösten sich auf, zerfielen in einzelne Gestalten, einzelne
Schritte") eine gewisse Atempause.
Als Redluff eine "kleine, als Café aufgetakelte Kneipe", in
der sich nur ein paar wenige Menschen aufhalten, betritt, wechselt der
Schauplatz des Geschehens. Die Wärme, die in dem
geschlossenen Raum mit seinem gedämpften Licht herrscht, endet das von
seiner inneren Unruhe herrührende Frösteln, das ihn noch auf der Straße
ergriffen hatte: "Gut saß es sich hier." Im körpersprachlichen Ausdruck seiner Entkrampfung kann Redluff
entspannt ""seine Füße lang" ausstrecken.
In diese entspannte Atmosphäre platzt eine Razzia der Polizei, die
Bedrohung für Redluff steigert sich um ein Vielfaches: zwei Polizisten
kontrollieren die Ausweise der Gäste. Während einer der Polizisten sich
von Tisch zu Tisch gehend die Papiere zeigen lässt, kann Redluff nur noch
mit Mühe die Fassung bewahren. Als inneres Zeichen der Erregung kommt es
ihm vor, dass der Raum "ganz leicht zu schwanken" anfängt, sinnbildliches Zeichen dafür, dass ihm der eben noch so
sicher zu scheinende Boden unter den Füßen wegzubrechen droht. Sein
krampfhaftes Klammern an der Tischkante und die Entfärbung seiner
Fingernägel sind die äußeren Zeichen dieser höchsten
Anspannung. Als der Polizist wegen der Ausweiskontrolle an seinen Tisch
tritt - Höhepunkt dieser Szene - hat Redluff plötzlich seine Balance
wiedergefunden. Die Gelassenheit, mit der er, bevor seinen gefälschten
Pass zückt, seine Zigarette ausdrückt, zeigt deutlich, wie
"ruhig" er im Moment höchster Gefahr wird. Und nicht nur
das: Als er die Passkontrolle unbeschadet überstanden hat, beginnt
er "aus seiner unnatürlichen Ruhe heraus" gar
noch ein kleines Gespräch mit dem Polizisten, indem er sich sogar,
allerdings gutgemeint, über die durchgeführte Ausweiskontrolle
beschwert. Als die Polizisten die Kneipe verlassen, hat Redluff die Probe
bestanden.
Als Redluff danach im dritten Abschnitt wieder, dieses Mal mit
raumgreifenden Schritten auf die Straße geht, hat sich seine Wahrnehmung
des öffentlichen Geschehens völlig verändert. Es zieht in wieder in
belebtere Straßen, die Menschen "lachten und schwatzten, er mitten
unter ihnen". Und hatte er zuvor noch jede körperliche Nähe
vermieden, so genießt er es jetzt geradezu, wenn ihn die Passanten
"streiften". Die Geräusche, die nun von ihm
wahrgenommen werden, haben alles Aggressive verloren
("dunkelglänzende Wagen sangen über den blanken Asphalt"). Dazu die "Kaskaden wechselnden Lichts", die sich in der
Wahrnehmung Redluffs über die Fassaden ergießen. All dies suggeriert
Sicherheit und Geborgenheit und bringt ihn geradezu in Sektlaune, inneres
Zeichen einer wachsenden Unbekümmertheit und zunehmenden Verlusts der
Konzentration: "Er gehörte wieder dazu, er hatte den Schritt der vielen,
es machte ihm keine Mühe mehr."
Im sicheren Gefühl "ewig so gehen (zu) können", lässt Redluff sich "im Sog der Menge" in die Eingangshalle einer
Ausstellung ziehen, wo das Geschehen im vierten Abschnitt der
Kurzgeschichte spielt. Im Gedränge der Menschen kann er sich sogar noch
mit einem Mädchen beschäftigen, das er zuvor schon gesehen zu haben glaubt. Und
wie benebelt riecht er ihr Parfüm, als er sich hinter ihr an der Kasse
anstellt. So trifft ihn der Ruf "Der! Der!", der aus der sonst
"flutenden" Lautsprechermusik hervorhallt, völlig unvermittelt.
Als das Blitzlichtgewitter über ihn hereinbricht, der Riesenblumenstrauß
in seine Hände gerät und zwei strahlende Mädchen sich bei ihm fürs Fotoshooting unterhaken, ist Redluff wie gelähmt. Und die
"geölte Stimme" - ohne dazugehöriges Gesicht wohlgemerkt -
gratuliert ihm als dem hunderttausendsten Besucher der Ausstellung. Die
Stimme, die zuvor schon "von innerer Freudigkeit fast zu bersten
schien", entfaltet, da Redluff "wie betäubt" ist, ihre ganze suggestive Kraft, als sie ihn auffordert, seinen
Namen zu nennen. Als er seinen richtigen Namen nennt, tut er dies
automatisch und unbewusst und gibt damit seine wahre Identität preis. Als
die anwesende Polizei auf Redluff zugeht, endet die Kurzgeschichte.
Herbert Malechas Kurzgeschichte ist gekennzeichnet von dem Verhältnis von
äußerem Raum des Geschehens und der Gefühlswelt der Figur Jens Redluff.
Die Räume, in denen sich das erzählte
Geschehen ereignet, haben dabei verschiedene Funktionen.
Als
Kontrasträume stehen
sich die offenen Räume (zweimal auf der Straße und Kneipe sowie
Ausstellung) gegenüber. Dazu kommt der Kontrast insbesondere zwischen den beiden Schauplätzen auf der Straße, die sich durch die
unterschiedliche Wahrnehmung Redluffs grundsätzlich unterscheiden. Aus
der
personalen
Erzählperspektive des Textes betrachtet sind alle dargestellten
Schauplätze aber immer
Perspektivräume,
die von Redluff bewusst oder unbewusst als bedrohlich (Straße), angenehm
(Kneipe), frei (Straße) und unbekümmert (Ausstellung) erlebt werden. Die
sprachlich-stilistische Gestaltung der dargestellten Perspektivräume
unterstreicht die Atmosphäre, die von ihnen ausgeht. Die verwendeten
Mittel sind dabei vor allem die ausgeprägte Wassermetaphorik, aber auch
eine Reihe von Vergleichen, die Wortwahl der Verben und die Gestaltung des
Satzbaus.
So wird die Bedrohung, die Redluff auf der Straße erlebt, sichtbar an den
Metaphern
"Platzregen von Gesichtern", "Strom flutender
Gesichter", "Menschenstrom",
"Rinnsale", an
Vergleichen
"wie ein Kork auf dem Wasser", der "abgestoßen und
weitergetrieben" wird oder "wie von Holz".
Anschauliche, dynamische Verben der Bewegung mit einem aggressiv wirkenden
Bedeutungsgehalt (hämmern, schrammen), (elliptische)
Aufzählungen, die den Menschenstrom syntaktisch nachbilden, indem sich
Redluff bewegen muss ("Und wieder Menschen, Menschen, ein Strom
flutender Gesichter.") Die innere Getriebenheit und Unruhe der
Hauptfigur wird durch den vermehrten Einsatz
hypotaktischer
Satzkonstruktionen unterstrichen.
Vergleicht man damit die sprachlich-stilistische Gestaltung im dritten
Abschnitt, so spiegelt der Raum die innere Befindlichkeit Redluffs wider,
der "am liebsten ... gesungen (hätte)". Entsprechend ändern sich auch die verwendeten Bilder und ihr
Gefühlswert (Autos "sangen" und "Kaskaden wechselnden
Lichts ergossen sich"), kein "schwarzer Gedanke" hat mehr
im Denken und Fühlen Redluffs Platz.
Über die Hauptfigur Jens Redluff, aus dessen Perspektive die Geschichte
erzählt wird, erfährt man im Text nicht viel. Die
Darbietungsformen
der
erlebten
Rede und des
inneren
Monologs, mit der die innere Befindlichkeit Redluffs erzählt wird,
dominieren vor allem im ersten und dritten Abschnitt, die damit den
Schwerpunkt auf den "Innenraum" der Figur selbst legen (Innensicht).
Je mehr die Geschichte ihrem Ende zustrebt, desto unwichtiger wird aber
das innere Erleben, dominiert das äußere Handeln Redluffs als Zeichen
scheinbar wieder gewonnener Orientierungssicherheit in der
Öffentlichkeit.
Der Text ist eine
Kurzgeschichte,
die unvermittelt einsetzt und einen offenen Schluss besitzt. Dem
Ausschnittcharakter des erzählten Geschehens entspricht die Tatsache,
dass man über Jens Redluff nur das Notwendigste erfährt. So wird - auch
dies in Form der erlebten Rede ("war das ja noch anders"
erzählt, dass Redluff vor drei Monaten von der Polizei mit einem
Steckbrief "an jeder Anschlagsäule" gesucht worden war. Danach taucht er in einem "Loch" unter und
wagt sich erst, nachdem er sich neue Papiere unter dem Namen Wolters
besorgt hat, wieder in die Öffentlichkeit. Als die Geschichte
einsetzt, will er ein Schiff finden um fortzukommen. Die Gründe, warum Redluff
von der Polizei gesucht wird, werden nicht erwähnt. Sie sind auch für
das dargestellte Geschehen und die Aussage der Kurzgeschichte letztlich
ohne Belang.
Mit seiner Kurzgeschichte gestaltet Malecha das Problem der Identität des
Menschen. Für diesen ist es ein aussichtloses Unterfangen, seine
unverwechselbare Eigenart (Identität), d.h. alles, was den Einzelnen zu
dem macht, was er ist und was ihn von anderen abhebt, einfach zu wechseln.
Was man ist, ist man durch Kommunikation, durch den Kontakt zu anderen
Menschen und durch die Beziehung zu ihnen und die Hoffnung auf einen
einfachen Wechsel der eigenen Identität als quasi bloße Häutung kann
sich nicht erfüllen. Identität kann sich aber auch nur in der Beziehung
mit anderen, in der Kommunikation verändern. Dies ist allerdings ein
langwieriger Prozess und die Veränderung gelingt weder durch Konsum - wie
bei Redluff durch Erwerb eines neuen Passes - noch durch Überanpassung an
das Gegebene.
"Als
selbstreflexives Scharnier zwischen der inneren und äußeren Welt“
(Keupp
u. a. 1999, S.28) eines Menschen soll die ein Leben anhaltende
Konstruktionsarbeit an der eigenen Identität individuelle
Selbstbestimmung ermöglichen und den individuellen Bedürfnissen
sozial akzeptable Formen der Befriedigung gewähren In lebenslanger
Identitätsarbeit wird dieses Scharnier vielleicht immer wieder neu
justiert, damit es seine Funktion erfüllen kann, durch ein anderes
ersetzen lässt es sich freilich so ohne weiteres nicht, auch wenn
die digitale Welt mit ihren sozialen Netzwerken zum Spiel mit der
eigenen Identität immer wieder einlädt. Die Passungsarbeit zwischen
Innerem und Äußerem, zwischen Fremd- und Selbstbild, die der
einzelne ein Leben lang leisten muss, bleibt, auch wenn sie mit den
neuen Mitteln bei der Identitätskonstruktion mehr Identitätsfacetten
erproben kann, im Kern die gleiche. Redluffs Versuch der "Ichverleugnung
misslingt in der extremen Situation, in der der einzelne
herausgerissen aus der schützenden Masse als Individuum (und sei es
auch "nur" als hunderttausendster Besucher) gefordert ist" (Schardt
1991, S.24), weil die fehlende Passung von innen und außen, von
Fremd- und Selbstbild dabei offenkundig wird.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
13.10.2020