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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
DRITTER AUFZUG
ZWEITER AUFTRITT
Recha. Daja und der Tempelherr, dem jemand von außen die Türe
öffnet, mit den Worten.
Nur hier herein!1
RECHA (fährt zusammen, faßt sich, und will ihm zu Füßen fallen.)
Er ists! – Mein Retter, ah!
TEMPELHERR. Dies zu vermeiden
Erschien ich bloß so spät: und doch –
RECHA.
Ich will
Ja zu den Füßen dieses stolzen Mannes
Nur Gott noch einmal danken; nicht dem Manne.
Der Mann will keinen Dank; will ihn so wenig
Als ihn der Wassereimer will, der bei
Dem Löschen so geschäftig sich erwiesen.
Der ließ sich füllen, ließ sich leeren, mir
1610
Nichts, dir nichts: also auch der Mann. Auch der
Ward nun so in die Glut hineingestoßen;
Da fiel ich ungefähr2
ihm in den Arm;
Da blieb ich ungefähr, so wie ein Funken
Auf seinem Mantel, ihm in seinen Armen;
Bis wiederum, ich weiß nicht was, uns beide
Herausschmiß aus der Glut. – Was gibt es da
Zu danken? – In Europa treibt der
Wein
Zu noch weit andern Taten3
. –
Tempelherren,
Die müssen einmal nun so handeln; müssen
1620
Wie etwas besser
zugelernte Hunde4 ,
Sowohl aus Feuer, als aus Wasser holen.
TEMPELHERR (der
sie mit Erstaunen und Unruhe die Zeit über betrachtet.5
)
O Daja, Daja! Wenn in Augenblicken
Des Kummers und der Galle6
, meine Laune
Dich übel anließ7
, warum jede Torheit,
Die meiner Zung' entfuhr, ihr hinterbringen?7
Das hieß sich zu empfindlich rächen, Daja!
Doch wenn du nur von nun an, besser mich
Bei ihr vertreten willst.
DAJA.
Ich denke, Ritter,
Ich denke nicht, daß diese kleinen Stacheln,
1630
Ihr an das Herz geworfen, Euch da sehr
Geschadet haben.
RECHA.
Wie? Ihr hattet Kummer?
Und wart mit Euerm Kummer geiziger
Als Euerm Leben?
TEMPELHERR. Gutes, holdes Kind! –
Wie ist doch meine Seele zwischen Auge
Und Ohr geteilt!8 – Das war das Mädchen nicht,
Nein, nein, das war es nicht, das aus dem Feuer
Ich holte. – Denn wer hätte die gekannt,
Und aus dem Feuer nicht geholt? Wer hätte
Auf mich gewartet? – Zwar – verstellt9 – der Schreck
1640
(Pause,
unter der er, in Anschauung ihrer, sich wie verliert.10
)
RECHA. Ich aber find Euch noch den nämlichen. –
(Dergleichen;
bis sie fortfährt, um ihn in seinem Anstaunen zu unterbrechen.)
Nun, Ritter, sagt uns doch, wo Ihr so lange
Gewesen? – Fast dürft' ich auch fragen: wo
Ihr itzo seid?
TEMPELHERR.
Ich bin, – wo ich vielleicht
Nicht sollte sein.11
–
RECHA.
Wo ihr gewesen? – Auch
Wo Ihr vielleicht nicht solltet sein gewesen?
Das ist nicht gut.
TEMPELHERR. Auf – auf – wie heißt der Berg?
Auf Sinai.12
RECHA. Auf Sinai? – Ah schön!
Nun kann ich zuverlässig doch einmal
Erfahren, ob es wahr ...
TEMPELHERR.
Was? was? Obs wahr, 1650
Daß noch daselbst der Ort zu sehn, wo Moses13
Vor Gott gestanden14
, als ...
RECHA.
Nun das wohl nicht.
Denn wo er stand, stand er vor Gott. Und davon
Ist mir zur Gnüge schon bekannt. – Obs wahr,
Möcht' ich nur gern von Euch erfahren, daß –
Daß es bei weitem nicht so mühsam sei,
Auf diesen Berg hinauf zu steigen, als
Herab? – Denn seht; so viel ich Berge noch
Gestiegen bin, wars just das Gegenteil. –
Nun, Ritter? – Was? – Ihr kehrt
Euch von mir ab?15 1660
Wollt mich nicht sehn?
TEMPELHERR.
Weil ich Euch hören will.16
RECHA.
Weil Ihr mich nicht wollt merken lassen, daß
Ihr meiner Einfalt lächelt; daß Ihr lächelt,
Wie ich Euch doch so gar nichts Wichtigers
Von diesem heiligen Berg' aller Berge
Zu fragen weiß? Nicht wahr?
TEMPELHERR.
So muß
Ich doch Euch wieder in die Augen sehn. –
Was? Nun schlagt Ihr sie nieder17
? nun verbeißt
Das Lächeln Ihr? wie ich noch erst in Mienen,
In zweifelhaften Mienen lesen will, 1670
Was ich so deutlich hör', Ihr so vernehmlich
Mir sagt – verschweigt? – Ah Recha! Recha! Wie
Hat er so
wahr gesagt: »Kennt sie nur erst!«18
RECHA. Wer hat? – von wem? – Euch das gesagt?
TEMPELHERR.
»Kennt sie
Nur erst!« hat Euer Vater mir
gesagt;
Von Euch gesagt.
DAJA.
Und ich nicht etwa auch?
Ich denn nicht auch?
TEMPELHERR. Allein
wo ist er denn?
Wo ist denn Euer Vater? Ist er noch
Beim Sultan?
RECHA. Ohne
Zweifel.
TEMPELHERR.
Noch, noch da? –
O mich Vergeßlichen! Nein, nein; da ist
1680
Er schwerlich mehr. – Er wird dort unten bei
Dem Kloster meiner warten; ganz gewiß.
So redten19
, mein ich, wir es ab.20
Erlaubt!
Ich geh, ich hol' ihn ...
DAJA.
Das ist meine Sache.
Bleibt, Ritter, bleibt. Ich bring ihn unverzüglich.
TEMPELHERR. Nicht so, nicht so! Er sieht mir selbst entgegen;
Nicht Euch. Dazu, er könnte leicht ... wer weiß? ...
Er könnte bei dem Sultan leicht, ... Ihr kennt
Den Sultan nicht! ... leicht in Verlegenheit
Gekommen sein. –
Glaubt mir;
es hat Gefahr,
Wenn ich nicht geh.
RECHA.
Gefahr? was für Gefahr?
1690
TEMPELHERR. Gefahr für mich, für Euch, für ihn: wenn ich
Nicht schleunig, schleunig geh.
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1
wie in der Bühnenanweisung zuvor formuliert, eine nicht zuzuordnende
Stimme im Haus Nathans der Person, die den Tempelherrn in das Haus
Nathans hereinlässt. 2
zufällig 3 nach der
Abwehrhaltung, die der Tempelherr einnimmt, stellt Recha die Rettungstat
des Tempelherrn ironisch als eine Tat unter Alkoholeinfluss dar
4
abgerichtete Hunde; Hunde, welche die ihnen beigebrachten Kommandos
verinnerlicht haben
5
erstes Anzeichen dafür, dass der Tempelherr sich in eine emotionale
Beziehung zu Recha gestellt sieht, nimmt erotische Ausstrahlung Rechas
wahr )→Motiv der Liebe im "Nathan")
6
Aufregung, innere Unruhe 7
Anspielung darauf, dass Daja Recha offenbar über seine schroffe Haltung,
mit der er Dank und Einladung in Nathans Haus abgelehnt hat, offenbar
ziemlich genau berichtet hat - vgl. u. a.
I,6
8
Hinweis auf den inneren Kampf des Tempelherrn mit sich, der nach den »Ordensregeln
der Tempelritter zu sexueller Enthaltsamkeit (»Keuschheit)
verpflichtet ist. 9
verändert, entstellt
10
kann seinen Blick offenbar nicht mehr kontrollieren, schaut Recha wie
gebannt an
11
spürt heraus, dass er sich, wenn er bleibt, in Versuchung bringt;
Äußerung eines Fluchtgedankens; Hinweis auf den inneren Kampf des
Tempelherrn mit sich, der nach den »Ordensregeln
der Tempelritter zu sexueller Enthaltsamkeit (»Keuschheit)
verpflichtet ist. - vgl. auch III,8
(Monolog des Tempelherrn)
12
vgl.
I,5 V 595, wo der Tempelherr dem Klosterbruder mitteilt, er habe
während seiner Abwesenheit auf Sinai Pilger begleitet (→Motiv
der Liebe im "Nathan")
13 »Mose(s):
nach biblischer Überlieferung führte der »Prophet
Moses als von Gott Beauftragter das Volk der »Israeliten
auf einer vierzig Jahre währenden Wanderung aus der ägyptischen
Sklaverei in das
kanaanäische Land;
14
auf dem Berg Sinai soll er die »Zehn
Gebote Gottes empfangen haben
15
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
16
vorgeschobene Begründung; will sie nicht mehr ansehen, um nicht noch
weiter in Versuchung zu geraten
17
Implizite Bühnenanweisung (→
Haupt- und Nebentext)
18
vgl. Dialog Nathans mit dem Tempelherrn (II,5
V 1322)19 x
19 verabredeten,
vereinbarten 20
vgl. II,7
Textauswahl
-
Gesamttext
(Recherche-/Leseversion)
-
III,1 -
Recha und Daja warten auf den Tempelherrn
-
III,3
-
Recha verarbeitet ihre Gefühle nach dem
Treffen mit dem Tempelherrn
-
III,4
-
Saladin und Sittah sprechen über die
bevorstehende Zusammenkunft mit Nathan
-
III,5
-
Erste Begegnung von Saladin und Nathan: Die
Frage nach der Wahrheit
-
III,6
- Nathans Monolog
-
III,7
- Nathan bei Saladin: Die Ringparabel
-
III,8 - Der Tempelherr entscheidet sich im
Selbstgespräch für seine Liebe zu Recha
-
III,9 - Nathan blockt den Heiratsantrag des Tempelherrn
zunächst einmal ab
-
III,10
-
Daja enthüllt dem Tempelherrn die wahre
Herkunft Rechas
-
IV,1
- Die zweite Begegnung von Tempelherr und Klosterbruder
▪
Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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