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Gesamttext (Recherche-/Leseversion)
ZWEITER AUFZUG
DRITTER AUFTRITT
Sittah. Saladin.
SITTAH.
Eilt
Er doch, als ob er mir nur gern entkäme! –
Was heißt das? – Hat er wirklich sich in ihm
Betrogen, oder – möcht' er uns nur gern
Betriegen?
SALADIN. Wie? das fragst du mich? Ich weiß
Ja kaum, von wem die Rede war; und
höre
Von euerm Juden, euerm Nathan, heut'
1100
Zum erstenmal.
SITTAH.
Ists möglich? daß ein Mann
Dir so verborgen blieb,
von dem es heißt,
Er habe Salomons und Davids Gräber1
Erforscht, und wisse deren Siegel2 durch
Ein mächtiges geheimes Wort zu lösen?
Aus ihnen bring' er dann von Zeit zu Zeit
Die unermeßlichen Reichtümer an
Den Tag, die keinen mindern Quell verrieten.
SALADIN.
Hat seinen Reichtum dieser Mann aus Gräbern,
So warens sicherlich nicht Salomons,
1110
Nicht Davids Gräber. Narren
lagen da
Begraben!
SITTAH. Oder Bösewichter! – Auch
Ist seines Reichtums Quelle weit ergiebiger
Weit unerschöpflicher, als so ein Grab
Voll Mammon.3
SALADIN. Denn
er handelt; wie ich hörte.
SITTAH.
Sein Saumtier4
treibt auf allen Straßen, zieht
Durch alle Wüsten; seine Schiffe liegen
In allen Häfen. 5 Das hat mir wohl eh
Al-Hafi selbst gesagt; und voll Entzücken
Hinzugefügt, wie groß, wie edel dieser
1120
Sein Freund anwende, was so klug und emsig
Er zu erwerben für zu klein nicht achte:
Hinzugefügt, wie
frei von Vorurteilen
Sein Geist; sein
Herz wie offen jeder Tugend,
Wie eingestimmt mit jeder Schönheit
6 sei.
SALADIN. Und itzt sprach Hafi doch so ungewiß,
So kalt von ihm.
SITTAH.
Kalt nun wohl nicht; verlegen.
Als halt' ers
für gefährlich, ihn zu loben,
Und woll' ihn unverdient doch auch nicht tadeln. –
Wie? oder wär' es wirklich so, daß selbst
1130
Der Beste seines Volkes seinem Volke
Nicht ganz entfliehen kann? daß wirklich sich
Al-Hafi seines Freunds von dieser Seite
Zu schämen hätte? – Sei dem, wie ihm wolle! –
Der Jude sei mehr oder weniger
Als Jud', ist
er nur reich: genug für uns!
SALADIN.
Du willst ihm aber doch das Seine mit
Gewalt nicht nehmen, Schwester?
SITTAH.
Ja, was heißt
Bei dir Gewalt? Mit Feu'r und Schwert?7 Nein, nein,
Was braucht es mit den Schwachen für Gewalt,
1140
Als ihre Schwäche? – Komm vor itzt nur mit
In meinen Haram8, eine Sängerin
Zu hören, die ich gestern erst gekauft.9
Es reift indes bei mir vielleicht ein Anschlag,
Den ich auf diesen Nathan habe. – Komm!
Dieses Werk (Nathan der Weise, von
Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
Worterläuterungen/Hinweise/Kommentar
1 in
der Grabstätte der biblischen Könige »David
(um 1.000 v. Chr.) und »Salomon
(9. Jh. v. Chr.) sollen, so die Darstellung des römisch-jüdischen
Geschichtsschreibers »Flavius
Josephus (geb. 37 n. Chr. - vermutlich 100 n. Chr.), unglaubliche
Schätze verborgen sein 2
h: geheimnisvoller Zugang, Verschluss; vgl. »Ali
Baba im Märchen aus der Geschichtensammlung »Tausendundeine
Nacht; darin gelingt es Ali Baba das Felsentor mit dem Lösungswort
"Sesam öffne dich" zu öffnen und damit Zugang zur Schatzkammer zu
erlangen; auch von
Herodes
(73 v. Chr. - 4 v. Chr.) geht die Sage, dass ihm die Gräber
übernatürlicher Kräfte wegen verschlossen geblieben seien. (→Motiv
des Geldes und des Reichtums)
3 Reichtum, Geld und Güter
4
Lasttier, Packesel
5
→Motiv des Geldes
und des Reichtums: Nathans Reichtum wird an etlichen Stellen des
Dramas thematisiert; auch Daja spricht mit dem Tempelherrn darüber (I,6
V 739) auch Al-Hafi und Sittah sprechen in
II,2 V 1049 über die Attribute "reich" und "weise", die Nathan
zugeschrieben werden
6
im Einklang mit, harmonisch; gemeint ist damit wohl die »pietistische
Vorstellung der "Seelenschönheit" als höchstem Bildungsziel; der Begriff
der "Seelenschönheit", der mit dieser Formulierung paraphrasiert wird
und zur Charakterisierung Nathans verwendet wird, verweist nach
Barner u. a. (1987, S.327) auf den Spiritualismus in dem von Nathan
verkörperten Menschenbild: "Lessing führte den Begriff 'Seelenschönheit'
in die deutsche Literatur ein. [...] 'Schönheit der Seele' besteht für
Lessing in 'würdigen Begriffen von Gott, von uns, von unsern Pflichten,
von unserer Bestimmung' (LM II, S.100). Klarheit darüber galt als
Voraussetzung der vom Pietismus proklamierten praxis pietatis: der
gottergebenen und uneigennützig der Gemeinschaft zugewandten Aktivität
des Menschen nach dem Plan der göttlichen Vorsehung und mit dem Ziel des
verwirklichten Gottesreiches. Diesen Grundsatz pietistischer
Religiosität übertrug Lessing auf den Juden Nathan."
7
Anspielung auf Nathans Aussage in
II,2 V 990
8
»Harem,
Frauengemach; lt. Wikipedia ein abgeschlossener und bewachter
Wohnbereich eines Serails oder Hauses, in dem die Frauen, die weiblichen
Angehörigen und die unmündigen Kinder eines muslimischen Würdenträgers
oder Familienoberhaupts leben. Auch die Bereiche in »Mekka
und »Medina,
die Nicht-Muslime nicht betreten dürfen, werden »Haram
genannt. 9
Sklaverei als Ausdruck des orientalischen Despotismus →Motiv
des Geldes und des Reichtums
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Gesamttext (Recherche-/Leseversion
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.05.2021
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