Der Sultan
Saladin ist Herrscher über Jerusalem. Er residiert mit seiner
Schwester Sittah im Palast. Seine Staats- und Kriegskasse ist
leer
(I,3;
II,2)
und so erwartet er ungeduldig auf Tributzahlungen aus Ägypten für die vergangenen sieben
Jahre (II,2;
V,1).
Der muslimische
Herrscher, der den Titel "Verbesserer der Welt und des Gesetzes" (III,7)
führt, ist selbst in gewisser Weise anspruchslos
(II,2
- Saladin: "Ein Pferd, ein Kleid, ein Schwert muss ich doch
haben") und für seine Freigiebigkeit gegenüber seinen Anhängern (I,3;
II,1;
V,1)
bekannt. Gegenüber den Tempelrittern, die seiner Ansicht nach
den Waffenstillstand gebrochen haben, kennt er, bis auf eine
Ausnahme, keine Gnade
(I,5;
III,7; IV,3).
Dabei handelt es sich um einen jungen Tempelherrn, der ihn an
seinen verschollenen Bruder Assad erinnert (I,5;
III,7;
IV,3).
Im Übrigen hat er aber in er Vorgeschichte des Dramas einen Waffenstillstand mit den Kreuzrittern geschlossen, der ihn
zum Schutz der Christen und ihrer Religionsausübung verpflichtet
(IV,2
- Patriarch: "Vermöge der Kapitulation / Die er beschworen, muss
uns, muss uns schützen; / Bei allen Rechten, allen Lehren
schützen") Im Rahmen seines politischen Handelns
unterscheidet Saladin klar zwischen Christen an sich und christlichen
Pilgern auf der einen und und den Kreuzrittern und ihren Zielen
im Heiligen Land auf der anderen Seite. Gegen seine
machtpolitischen Gegenspieler und militärischen Feinde, die
Kreuzritter, geht er, wenn es seiner Ansicht nach erforderlich
ist, unerbittlich vor ("Die Tempelherren, / Die Christen nicht,
sind Schuld: sind nicht, als Christen, / Als Tempelherren
Schuld« (II,1).
Er unterstützt aber mit einem Teil des geliehenen Geldes auch
die mittelosen und bedürftigen christlichen Pilger
(IV,3).
Um zu einem
dauerhaften Frieden zu gelangen, verfolgt Saladin den ▪
Plan einer dynastischen
Heiratspolitik durch die
Verbindung der Herrscherhäuser Saladins und des englischen Königs
Richard Löwenherz
(II,1 -
Sittah soll einen Bruder Richards, Saladins Bruder Melek eine
Schwester König Richards heiraten). Allerdings scheitert dieses
Ansinnen an den Forderungen und Ansprüchen seiner Gegner, die
verlangen, dass beide zuvor zum Christentum konvertieren müssten
(II,1).
und dazu noch bestimmte Gebietsansprüche nicht aufgeben
wollen.
Die
ausbleibenden Tribute aus Ägypten zwingen Saladin, sich auf
andere Art und Weise die nötigen finanziellen Mitteln zu
beschaffen. Als Geldgeber kommt für ihn auch der reiche Nathan in
Frage, der allerdings im Ruf steht, kein Geld zu zu leihen.(
II,2)
Sittah schlägt daher vor, Nathan mit einer List so unter Druck
zu setzen, dass er ihrem Bruder das nötige Geld leiht. So
beordert Saladin den reichen Juden Nathan zu sich in den Palast und stellt ihm seine
"Fangfrage", nämlich welche der drei Religionen – Islam,
Christentum, Judentum – die wahre Religion sei. Nathan
beantwortet seine Frage aber nicht in einer Weise, wie Saladin
erwartet hat, sondern mit seiner Erzählung von den drei Ringen.
In dieser
Parabel, deren
Kerngedanke darin besteht, dass alle drei
Religionen auf Offenbarungen ein und desselben Gottes zurückgehen,
wird die Forderung erhoben, dass alle drei Religionen gleichermaßen zu Humanität und Toleranz
verpflichtet sind: "Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien
Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins
in seinem Ring' an Tag / Zu legen!" (III, 7). Saladin ist von Nathan und
seinem "Märchen" so beeindruckt, dass er sein Ansinnen, Nathan
wegen seiner eigenen Geldnot unter Druck zu setzen, aufgibt und Nathan
um seine Freundschaft bittet. Nathan, der über die finanzielle Misere des
Sultans durch seinen Freund Al-Hafi bestens unterricht ist,
bietet Saladin danach sein Geld aus freien Stücken an und dieser
räumt ihm gegenüber ein, was er eigentlich vorgehabt hatte. Mit
dem Eintreffen der erwarteten Tribute aus Ägypten (V,1)
endet die finanzielle Misere des Sultans.
Als Saladin, um der Ähnlichkeit des Tempelherrn mit seinem
Bruder Assad auf Drängen seiner Schwester Sittah auf den Grund
zu gehen, diesen in den Palast zitiert (IV,3),
erfahren seine Schwester und er von diesem, dass Recha nicht die
leibliche Tochter Nathans ist (IV,4).
Nach dem Fortgang des Tempelherrn verdichten sich die Ahnungen
vor allem auf Seiten Sittahs, dass die von beiden festgestellten
Ähnlichkeiten des Tempelherrn mit ihrem gemeinsamen Bruder Assad
kein Zufall sein können. Der Aufforderung Sittahs, Recha unter
seine eigene Vormundschaft zu nehmen, schließt sich Saladin aber
nicht an. Allerdings erlaubt er Sittah, Recha in den Palast zu
beordern, wobei er Wert darauf legt, damit dürfe nicht der
Eindruck entsteht, man wolle Nathan, mit dem er gerade erst
Freundschaft geschlossen hat, gewaltsam von Recha trennen.
Inzwischen haben sich auch für Nathan die
Familienverhältnisse durch seinen Kontakt mit dem Klosterbruder
und der Übergabe des Gebetbüchleins seines bei den Kämpfen
umgekommenen Freundes Wolf von Filneck weitgehend geklärt. Er
weiß, dass Recha und der Tempelherr Geschwister sind. Mit diesem
Wissen und der Tatsache, dass Daja ihr Schweigen gebrochen
hat, treffen Nathan, Recha, der Tempelherr, Saladin
und Sittah in der Schlussszene (V,8)
aufeinander, bei der die ▪
wahren Familienverhältnisse vollständig aufgeklärt werden.
Entsprechend den ▪
Kompositionsprinzipien
des analytischen Dramas stellt sich nämlich jetzt heraus, dass Wolf von Filneck gar kein Christ
gewesen ist, sondern ein Muslim und zwar Saladins und Sittahs
verschollenerer Bruder Assad. Saladin erkennt in der Handschrift
in dem Brevier sofort die seines Bruders (V,8).
In der Zusammenführung der christlich-muslimischen "Familie"
durch Nathan (Assad war ja zum Christentum konvertiert und seine
Kinder Recha und der Tempelherr demnach Christen) und ihrer
Annahme durch Saladin, der der Onkel von Recha und dem
Tempelherrn ist, erfüllt sich, was Nathans Ringparabel (III, 7).eingefordert
hatte, nämlich die Kraft der "von Vorurteilen freien Liebe", die
an keine blutsverwandtschaftlichen Bindungen geknüpft ist und
deshalb auch Nathan, den Ziehvater Rechas, mit einschließt.