Bei ihrer ersten Begegnung versucht
Nathan
mit dem Tempelherrn, der ihm irgendwie bekannt
vorkommt, höflich ins Gespräch zu kommen. Seine Dankesgeste für
die Rettung
Rechas wird allerdings
von dem Tempelherrn brüsk abgelehnt. Was er für die Tochter
Nathans getan habe, hätte für jede x-beliebige andere auch getan,
selbst wenn es sich "nur" um eine Jüdin gehandelt hätte.
Nathan, der die vorurteilsbehafteten Äußerungen herunterspielt und
entschuldigt, will dennoch wissen, ob er etwas für den gefangenen
Tempelherrn tun könne. Doch wird er auch damit im Kern
zurückgewiesen, wenngleich der Tempelherr einräumt, bei
der Anschaffung eines neuen Mantels auf ihn zurückzukommen. Seit
seiner Rettungstat ist dieser nämlich an einer Stelle versengt, was
Nathan zum Anlass nimmt, den Mantel an dieser Stelle zu küssen.
Erstmals muss der Tempelherr erkennen, dass ihn die emotionale
Rührung Nathans betroffen gemacht hat. Fortan
spricht er diesen nicht mehr einfach als Jude an, sondern mit Namen
und seine zögerlichen, fast stotternden Äußerungen signalisieren
die eigene Betroffenheit. Schließlich räumt er ein, dass Nathan offenbar genau
wisse, nach welchen
Grundsätzen die Tempelherrn zu handeln hätten. Als Nathan dagegen
einwendet, diese Grundsätze seien allen "guten Menschen"
gemeinsam, will der Tempelherr von dieser Gleichmacherei zunächst
nichts wissen. Auch Nathans Bild, das ihm das Miteinander
verschiedener Bäume im Wald vor Augen führt, kann ihm seine
religiösen Vorurteile und seine Vorbehalte gegen die von den Juden
eingeführte religiöse Intoleranz, den Stolz nämlich,
"nur sein Gott sei der rechte Gott", nicht nehmen. Und
genau diese "fromme Raserei" stünde hier in Jerusalem wie
an keinem anderen Ort der Welt auf der Tagesordnung. Als er sich zum
Gehen wendet, bietet ihm Nathan seine Freundschaft an, da er
erkennt, dass ihnen die Ablehnung von Intoleranz gemeinsam ist. Der
Tempelherr gibt zu, sich in Nathan getäuscht zu haben und nimmt die
Freundschaft an. Gleichzeitig kann er sich nun auch zu seinen
verdrängten Gefühlen für Recha bekennen, die er unbedingt
wiedersehen will.
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II,6
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.04.2021