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Ausdruckwerte der literarischen Stilistik
Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation nicht finden kannst,
so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher Freund, mit dem nächsten
Bekannten, der dir aufstößt, darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben
ein scharf denkender Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du
ihn darum befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber
allererst erzählen. Ich sehe dich zwar große Augen machen, und mir
antworten, man habe dir in frühern Jahren den Rat gegeben, von nichts zu
sprechen, als nur von Dingen, die du bereits verstehst. Damals aber
sprachst du wahrscheinlich mit dem Vorwitz, andere, ich will, dass du aus
der verständigen Absicht sprechest, dich zu belehren, und so können, für
verschiedene Fälle verschieden, beide Klugheitsregeln vielleicht gut
nebeneinander bestehen. Der Franzose sagt, l'appétit vient en mangeant,
und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt,
l'idee vient en parlant.
Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über den Akten, und erforsche, in
einer verwickelten Streitsache, den Gesichtspunkt, aus welchem sie wohl
zu beurteilen sein möchte. Ich pflege dann gewöhnlich ins Licht zu
sehen, als in den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein
innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären. Oder ich suche, wenn
mir eine algebraische Aufgabe vorkommt, den ersten Ansatz, die
Gleichung, die die gegebenen Verhältnisse ausdrückt, und aus welcher
sich die Auflösung nachher durch Rechnung leicht ergibt. Und siehe da,
wenn ich mit meiner Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und
arbeitet, so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges
Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als ob sie es mir, im
eigentlichen Sinne, sagte; den sie kennt weder das Gesetzbuch, noch hat
sie den Euler, oder den Kästner studiert. Auch nicht, als ob sie mich
durch geschickte Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt,
wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber weil ich doch
irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern
her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den
Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der
Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene
Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, dass die
Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist. Ich mische
unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge,
gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre, und bediene
mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner
Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen.
Dabei ist mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als
ob sie mich unterbrechen wollte; denn mein ohnehin schon angestrengtes
Gemüt wird durch diesen Versuch von außen, ihm die Rede, in deren Besitz
es sich befindet, zu entreißen, nur noch mehr erregt, und in seiner
Fähigkeit, wie ein großer General, wenn die Umstände drängen, noch um
einen Grad höher gespannt. In diesem Sinne begreife ich, von welchem
Nutzen Moliere seine Magd sein konnte; denn wenn er derselben, wie er
vorgibt, ein Urteil zutraute, das das seinige berichten konnte, so ist
dies eine Bescheidenheit, an deren Dasein in seiner Brust ich nicht
glaube. Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen,
der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und
ein Blick, der uns einen halb ausgedrückten Gedanken schon als begriffen
ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganz andere Hälfte
desselben.
Ich glaube, dass mancher großer Redner, in dem Augenblick, da er den Mund
aufmachte, noch nicht wusste, was er sagen würde. Aber die Überzeugung,
dass er die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen, und der
daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn
dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzen.
Mir fällt jener »Donnerkeil« des Mirabeau ein, mit welchem er den
Zeremonienmeister abfertigte, der nach Aufhebung der letzten
monarchischen Sitzung des Königs am 23ten Juni, in welcher dieser den
Ständen auseinanderzugehen anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in
welchem die Stände noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob
sie den Befehl des Königs vernommen hätten? »Ja«, antwortete Mirabeau,
»wir haben des Königs Befehl vernommen« - ich bin gewiss, dass er, bei
diesem humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen
er schloss: »ja, mein Herr«, wiederholte er, »wir haben ihn vernommen« -
man sieht, dass er noch gar nicht recht weiß, was er will. »Doch was
berechtigt Sie« - fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein Quell
ungeheurer Vorstellungen auf - »uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind
die Repräsentanten der Nation.« - Das war es, was er brauchte! »Die
Nation gibt Befehle und empfängt keine« - um sich gleich auf den Gipfel
der Vermessenheit zu schwingen. »Und damit ich mich ihnen ganz deutlich
erkläre« - und erst jetzo findet er, was den ganzen Widerstand, zu
welchem seine Seele gerüstet dasteht, ausdrückt: »So sagen Sie Ihrem
Könige, dass wir unsere Plätze anders nicht, als auf die Gewalt der
Bajonette verlassen werden.« - Worauf er sich, selbstzufrieden, auf
einen Stuhl niedersetzte. - Wenn man an den Zeremonienmeister denkt, so
kann man sich ihn bei diesem Auftritt nicht anders, als in einem
völligen Geistesbankerott vorstellen; nach einem ähnlichen Gesetz, nach
welchem in einem Körper, der von einem elektrischen Zustand Null ist,
wenn er in eines elektrisierten Körpers Atmosphäre kommt, plötzlich die
entgegengesetzte Elektrizität erweckt wird. Und wie in dem
elektrisierten dadurch, nach einer Wechselwirkung, der in ihm inwohnende
Elektrizitätsgrad wieder verstärkt wird, so ging unseres Redners Mut,
bei der Vernichtung seines Gegners, zur verwegensten Begeisterung über.
Vielleicht, dass es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war,
oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den
Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte. Man liest, dass Mirabeau sobald
der Zeremonienmeister sich entfernt hatte, aufstand, und vorschlug: 1)
sich sogleich als Nationalversammlung, und 2) als unverletzlich, zu
konstituieren. Denn dadurch, dass er sich, einer Kleistischen Flasche
gleich, entladen hatte, war er nun wieder neutral geworden, und gab, von
der Verwegenheit zurückgekehrt, plötzlich der Furcht vor dem Chatelet,
und der Vorsicht, Raum.
Dies ist eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der
physischen und moralischen Welt, welche sich, wenn man sie verfolgen
wollte, auch noch in den Nebenumständen bewähren würde. Doch ich
verlasse mein Gleichnis, und kehre zur Sache zurück.
Auch Lafontaine gibt, in seiner Fabel: les animaux malades de la peste,
wo der Fuchs dem Löwen eine Apologie zu halten gezwungen ist, ohne zu
wissen, wo er den Stoff dazu hernehmen soll, ein merkwürdiges Beispiel
von einer allmählichen Verfertigung des Gedankens aus einem in der Not
hingesetzten Anfang. Man kennt diese Fabel. Die Pest herrscht im
Tierreich, der Löwe versammelt die Großen desselben, und eröffnet ihnen,
dass dem Himmel, wenn er besänftigt werden solle, ein Opfer fallen müsse.
Viel Sünder seien im Volke, der Tod des größesten müsse die übrigen vom
Untergang retten. Sie möchten ihm daher ihre Vergehungen aufrichtig
bekennen. Er, für sein Teil, gestehe, dass er, im Drange des Hungers,
manchem Schafe den Garaus gemacht; auch dem Hunde, wenn er ihm zu nahe
gekommen; ja, es sei ihm in leckerhaften Augenblicken zugestoßen, dass er
den Schäfer gefressen. Wenn niemand sich größerer Schwachheiten sich
schuldig gemacht habe, so sei er bereit zu sterben. »Sire«, sagt der
Fuchs, der das Ungewitter von sich ableiten will, »Sie sind zu
großmütig. Ihr edler Eifer führt Sie zu weit. Was ist es, ein Schaf
erwürgen? Oder ein Hund, diese nichtswürdige Bestie? Und: quant au
berger«, fährt er fort, denn dies ist der Hauptpunkt: »On peut dire«;
obschon er noch nicht weiß, was? »qu'il méritoit tout mal«; auf gut
Glück; und somit ist er verwickelt; »etant«; eine schlechte Phrase, die
ihm aber Zeit verschafft: »de ces gens la«, nun erst findet er den
Gedanken, der ihn aus der Not reißt: »qui sur les animaux se font un
chimerique empire«. Und jetzt beweist er, dass der Esel, der
blutdürstige! (der alle Kräuter auffrisst), das zweckmäßigste Opfer sei,
worauf alle über ihn herfallen, und ihn zerreißen.
Ein solches Reden ist wahrhaft lautes Denken. Die Reihen der
Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen nebeneinander fort, und die
Gemütsakte, für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist
alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes,
sondern wie ein zweites mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner
Achse.
Etwas ganz anderes ist es, wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem
Gedanken fertig ist. Denn dann muss er bei seiner bloßen Ausdrückung
zurückbleiben, und dies Geschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat
vielmehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregung abzuspannen.
Wenn daher eine Vorstellung verworren ausgedrückt wird, so folgt der
Schluss noch gar nicht, dass sie auch verworren gedacht worden sei;
vielmehr könnte es leicht sein, dass die verworrenst ausgedrückten gerade
am deutlichsten gedacht werden. Man sieht oft in einer Gesellschaft, wo,
durch ein lebhaftes Gespräch, eine kontinuierliche Befruchtung der
Gemüter mit Ideen im Werk ist, Leute, die sich, weil sie sich der
Sprache nicht mächtig fühlen, sonst in der Regel zurückgezogen halten,
plötzlich, mit einer zuckenden Bewegung aufflammen, die Sprache an sich
reißen und etwas Unverständliches zur Welt bringen. Ja, sie scheinen,
wenn sie nun die Aufmerksamkeit aller auf sich gezogen haben, durch ein
verlegnes Gebärdenspiel anzudeuten, dass sie selbst nicht mehr recht
wissen, was sie haben sagen wollen. Es ist wahrscheinlich, dass diese
Leute etwas recht Treffendes, und sehr deutlich, gedacht haben. Aber der
plötzliche Geschäftswechsel, der Übergang ihres Geistes vom Denen zum
Ausdrücken, schlug die ganze Erregung desselben, die zur Gestaltung des
Gedankens notwendig, wie zum Hervorbringen, erforderlich war, wieder
nieder. In solchen Fällen ist es um so unerlässlicher, dass uns die
Sprache mit Leichtigkeit zur Hand sei, um dasjenige, was wir
gleichzeitig gedacht haben, und doch nicht gleichzeitig von uns geben
können, wenigstens so schnell als möglich, aufeinander folgen zu lassen.
Und überhaupt wird jeder, der, bei gleicher Deutlichkeit, geschwinder
als sein Gegner spricht, einen Vorteil über ihn haben, weil er gleichsam
mehr Truppen als er ins Feld führt.
Wie notwendig eine gewisse Erregung des Gemüts ist, auch selbst nur, um
Vorstellungen, die wir schon gehabt haben, wieder zu erzeugen, sieht man
oft, wenn offene, und unterrichtete Köpfe examiniert werden, und man
ihnen, ohne vorhergegangene Einleitung, Fragen vorlegt, wie diese: was
ist der Staat? Oder: was ist das Eigentum? Oder dergleichen. Wenn diese
jungen Leute in einer Gesellschaft befunden hätten, wo man sich vom
Staat, oder vom Eigentum, schon eine Zeit lang unterhalten hätte, so
würden sie vielleicht mit Leichtigkeit, durch Vergleichung, Absonderung
und Zusammenfassung der Begriffe, die Definition gefunden haben. Hier
aber, wo die Vorbereitung des Gemüts gänzlich fehlt, sieht man sie
stocken, und nur ein unverständiger Examinator wird daraus schließen,
dass sie nicht wissen. Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein
gewisser Zustand unsrer, welcher weiß. Nur ganz gemeine Geister, Leute,
die, was der Staat sei, gestern auswendig gelernt, und morgen schon
wieder vergessen haben, werden hier mit Antwort bei der Hand sein.
Vielleicht gibt es überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich von
einer vorteilhaften Seite zu zeigen, als grade eine öffentliches Examen.
Abgerechnet, dass es schon widerwärtig und das Zartgefühl verletzend ist,
und dass es reizt, sich stetig zu zeigen, wenn solch ein gelehrter
Rosskamm nach den Kenntnissen sieht, um uns, je nachdem es fünf oder
sechs sind, zu kaufen oder wieder abtreten zu lassen: es ist so schwer,
auf ein menschliches Gemüt zu spielen und ihm seinen eigentümlichen Laut
abzulocken, es verstimmt sich so leicht unter ungeschickten Händen, dass
selbst der geübteste Menschenkenner, der in der Hebeammenkunst der
Gedanken, wie Kant sie nennt, auf das meisterhafteste bewandert wäre,
hier noch, wegen der Unbekanntschaft mit seinem Sechswöchner Missgriffe
tun könnte. Was übrigens solchen jungen Leuten, auch selbst den
unwissendsten noch, in den meisten Fällen ein gutes Zeugnis verschafft,
ist der Umstand, dass die Gemüter der Examinatoren, wenn die Prüfung
öffentlich geschieht, selbst zu sehr befangen sind, um ein freies Urteil
fällen zu können. Denn nicht nur fühlen sie häufig die Unanständigkeit
dieses ganzen Verfahrens: man würde sich schon schämen, von jemanden,
dass er seine Geldbörse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weniger,
seine Seele: sondern ihr eigener Verstand muss hier eine gefährliche
Musterung passieren, und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie
selbst aus dem Examen gehen können, ohne sich Blößen, schmachvoller
vielleicht, als der, eben von der Universität kommende, Jüngling,
gegeben zu haben, den sie examinierten.
(aus:
Projekt Gutenberg, in der Rechtschreibung modernisiert)
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