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Perspektiven beim Erzählen
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Überblick
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Modelle der Perspektiven beim Erzählen
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Überblick
▪
Standort des Erzählers (point of view)
▪
Erzählsituationen (Stanzel)
▪
Erzählformen und Erzählverhalten
(Petersen)
▪
Fokalisierung (Genette)
▪
Aspekte der narratorialen und
figuralen Perspektive (Schmid)
▪
Bausteine
Der
Roman »"Der
Grüne Heinrich“ von »Gottfried
Keller (1819-1890) ist zwischen 1846 und 1850 entstanden, wird
1854/55 erstmals in vier Bänden veröffentlicht und ist 1879/80 in einer
zweiten, umgearbeiteten Fassung erschienen. Er gilt neben »Johann
Wolfgang von Goethes (1749-1832) »"Wilhelm
Meister"
(ab 1776) und »Adalbert
Stifters (1805.1858) "Nachsommer"
(1857) als der bedeutendste Bildungsroman des 19. Jahrhunderts. In dem
Roman, dessen Stoff im Kern auf seine eigene Kindheit und Jugend
zurückgeht, erzählt Keller, "die Lebensgeschichte eines Künstlers, der
bei dem Versuch, seiner Bestimmung oder dem, was er dafür hält, gegen
alle Widerstände zu folgen, an der Realität scheitert." (Steffen Ewig,
in:
Hauptwerke der deutschen Literatur 1974, S.370) In der zweiten
Fassung wird im Unterschied zur ersten das Geschehen in chronologischer
Reihenfolge erzählt und der ganze Roman ist als Ich-Erzählung verfasst.
Gottfried Keller (1819-1890),
Der grüne Heinrich
Drittes Kapitel
Kindheit. Erste Theologie. Schulbänklein
(Auszug)
"Die erste Zeit nach dem Tode meines Vaters war für
seine Witwe eine schwere Zeit der Trauer und Sorge. Seine ganze
Verlassenschaft befand sich im Zustande des vollen Umschwunges und
erforderte weitläufige Verhandlungen, um sie ins reine zu bringen.
Eingegangene Verträge waren mitten in ihrer Erfüllung abgebrochen,
Unternehmungen gehemmt, große laufende Rechnungen zu bezahlen und solche
einzuziehen an allen Ecken und Enden; Vorräte von Baustoffen mußten mit
Verlust verkauft werden, und es war zweifelhaft, ob bei der
augenblicklichen Lage der Verhältnisse auch nur ein Pfennig übrig
bleiben würde, wovon die bekümmerte Frau leben sollte. Gerichtsmänner
kamen, legten Siegel an und lösten sie wieder; die Freunde des
Verstorbenen und zahlreiche Geschäftsleute gingen ab und zu, halfen und
ordneten; es wurde durchgesehen, gerechnet, abgesondert, gesteigert.
Käufer und neue Unternehmer meldeten sich, suchten die Summen
herunterzudrücken oder mehr in Beschlag zu nehmen, als ihnen gebührte,
es war ein Geräusch und eine Spannung, daß meine Mutter, welche immer
mit wachsamen Augen dabei stand, zuletzt nicht mehr wußte, wie sie sich
helfen sollte. Allmählich klärte sich die Verwirrung auf, ein Geschäft
um das andere war abgetan, alle Verbindlichkeiten gelöst und die
Forderungen gesichert, und es zeigte sich nun, daß das Haus, in welchem
wir zuletzt wohnten, als einziges Vermögen übrigblieb. Es war ein altes
hohes Gebäude, mit vielen Räumen und von unten bis oben bewohnt wie ein
Bienenkorb. Der Vater hatte es gekauft in der Absicht, ein neues an
dessen Stelle zu setzen; da es aber von altertümlicher Bauart war und an
Türen und Fenstern wertvolle Überbleibsel künstlicher Arbeit trug, so
konnte er sich schwer entschließen, es einzureißen, und bewohnte es
indessen nebst einer Anzahl von Mietsleuten. Auf diesem Hause blieben
zwar noch einige fremde Kapitalien haften, jedoch hatte es der rührige
Mann in der Schnelligkeit so gut eingerichtet und vermietet, daß ein
jährlicher Überschuß an Mietgeldern den Hinterlassenen ein bescheidenes
Auskommen sicherte. Das erste, was meine Mutter begann, war eine
gänzliche Einschränkung und Abschaffung alles Überflüssigen, wozu voraus
jede Art von dienstbaren Händen gehörte. In der Stille dieses
Witwentumes fand ich mein erstes deutliches Bewußtsein, welches seinen
Inhaber zur Übung treppauf und – ab im Innern des Hauses umherführte.
Die untern Stockwerke sind dunkel, sowohl in den Gemächern wegen der
Enge der Gassen als auf den Treppenräumen und Fluren, weil alle Fenster
für die Zimmer benutzt wurden. Einige Vertiefungen und Seitengänge gaben
dem Raume ein düsteres und verworrenes Ansehen und blieben noch zu
entdeckende Geheimnisse für mich; je höher man aber steigt, desto
freundlicher und heller wird es, indem der oberste Stock, den wir
bewohnten, die Nachbarhäuser überragt. Ein hohes Fenster wirft
reichliches Licht auf die mannigfaltig gebrochenen Treppen und
wunderlichen Holzgalerien des luftigen Estrichs, welcher einen hellern
Gegensatz zu den kühlen Finsternissen der Tiefe bildet. Die Fenster
unserer Wohnstube gingen auf eine Menge kleiner Höfe hinaus, wie sie oft
von einem Häuserviertel umschlossen werden und ein verborgenes
behagliches Gesumme enthalten, welches man auf der Straße nicht[ ahnt.
Den Tag über betrachtete ich stundenlang das innere häusliche Leben in
diesen Höfen; die grünen Gärtchen in denselben schienen mir kleine
Paradiese zu sein, wenn die Nachmittagssonne sie beleuchtete und die
weiße Wäsche darin sanft flatterte, und wunderfremd und doch bekannt
kamen mir die Leute vor, welche ich fern gesehen hatte, wenn sie
plötzlich einmal in unsrer Stube standen und mit der Mutter plauderten.
Unser eigenes Höfchen enthielt zwischen hohen Mauern ein ganz kleines
Stückchen Rasen mit zwei Vogelbeerbäumchen; ein nimmermüdes Brünnchen
ergoß sich in ein ganz grün gewordenes Sandsteinbecken, und der enge
Winkel ist kühl und fast schauerlich, ausgenommen im Sommer, wo die
Sonne täglich einige Stunden lang darin ruht. Alsdann schimmert das
verborgene Grün durch den dunklen Hausflur so kokett auf die Gasse, wenn
die Haustür aufgeht, daß den Vorübergehenden immer eine Art
Gartenheimweh befällt. Im Herbste werden diese Sonnenblicke kürzer und
milder, und wenn dann die Blätter an den zwei Bäumchen gelb und die
Beeren brennend rot werden, die alten Mauern so wehmütig vergoldet sind
und das Wässerchen einigen Silberglanz dazugibt, so hat dieser kleine
abgeschiedene Raum einen so wunderbar melancholischen Reiz, daß er dem
Gemüte ein Genüge tut wie die weiteste Landschaft. Gegen Sonnenuntergang
jedoch stieg meine Aufmerksamkeit an den Häusern in die Höhe und immer
höher, je mehr sich die Welt von Dächern, die ich von unserm Fenster aus
übersah, rötete und vom schönsten Farbenglanze belebt wurde. Hinter
diesen Dächern war für einmal meine Welt zu Ende; denn den duftigen
Kranz von Schneegebirgen, welcher hinter den letzten Dachfirsten halb
sichtbar ist, hielt ich, da ich ihn nicht mit der festen Erde verbunden
sah, lange Zeit für eins mit den Wolken. Als ich später zum ersten Male
rittlings auf dem obersten Grate unseres hohen, ungeheuerlichen Daches
saß und die ganze ausgebreitete Pracht des Sees übersah, aus welchem die
Berge in festen Gestalten, mit grünen Füßen aufstiegen,da kannte ich
freilich ihre Natur schon von ausgedehnteren Streifzügen im Freien; für
jetzt aber konnte mir die Mutter lange sagen, das seien große Berge und
mächtige Zeugen von Gottes Allmacht, ich vermochte sie darum nicht
besser von den Wolken zu unterscheiden, deren Ziehen und Wechseln mich
am Abend fast ausschließlich beschäftigte, deren Name aber ebenso ein
leerer Schall für mich war wie das Wort Berg. Da die fernen Schneekuppen
bald verhüllt, bald heller oder dunkler, weiß oder rot sichtbar waren,
so hielt ich sie wohl für etwas Lebendiges, Wunderbares und Mächtiges
wie die Wolken und pflegte auch andere Dinge mit dem Namen Wolke oder
Berg zu belegen, wenn sie mir Achtung und Neugierde einflößten. So
nannte ich, ich höre das Wort noch schwach in meinen Ohren klingen, und
man hat es mir nachher oft erzählt, die erste weibliche Gestalt, welche
mir wohlgefiel und ein Mädchen aus der Nachbarschaft war, die weiße
Wolke, von dem ersten Eindrucke, den sie in einem weißen Kleide auf mich
gemacht hatte. Mit mehr Richtigkeit nannte ich vorzugsweise ein langes
hohes Kirchendach, das mächtig über alle Giebel emporragte, den Berg.
Seine gegen Westen gekehrte große Fläche war für meine Augen ein
unermeßliches Feld, auf welchem sie mit immer neuer Lust ruhten, wenn
die letzten Strahlen der Sonne es beschienen, und diese schiefe,
rotglühende Ebene über der dunklen Stadt war für mich recht eigentlich
das, was die Phantasie sonst unter seligen Auen oder Gefilden versteht.
Auf diesem Dache stand ein schlankes, nadelspitzes Türmchen, in welchem
eine kleine Glocke hing und auf dessen Spitze sich ein glänzender
goldener Hahn drehte. Wenn in der Dämmerung das Glöckchen läutete, so
sprach meine Mutter von Gott und lehrte mich beten; ich fragte :»Was ist
Gott? ist es ein Mann?« und sie antwortete: »Nein, Gott ist ein Geist!«
Das Kirchendach versank nach und nach in grauen Schatten, das Licht
klomm an dem Türmchen hinauf, bis es zuletzt nur noch auf dem goldenen
Wetterhahne funkelte, und eines Abends fand ich mich plötzlich des
bestimmten Glaubens, daß dieser Hahn Gott sei. Er spielte auch eine
unbestimmte Rolle der Anwesenheit in den kleinen Kindergebeten, welche
ich mit vielem Vergnügen herzusagen wußte. Als ich aber einst ein
Bilderbuch bekam, in dem ein prächtig gefärbter Tiger ansehnlich
dasitzend abgebildet war, ging meine Vorstellung von Gott allmählich auf
diesen über, ohne daß ich jedoch, sowenig wie vom Hahne, je eine Meinung
darüber äußerte. Es waren ganz innerliche Anschauungen, und nur wenn der
Name Gottes genannt wurde, so schwebte mir erst der glänzende Vogel und
nachher der schöne Tiger vor. Allmählich mischte sich zwar nicht ein
klareres Bild, aber ein edlerer Begriff in meine Gedanken. Ich betete
mein Unservater, dessen Einteilung und Abrundung mir das Einprägen
leicht und das Wiederholen zu einer angenehmen Übung gemacht hatte, mit
großer Meisterschaft und vielen Variationen, indem ich diesen oder jenen
Teil doppelt und dreifach aussprach oder nach raschem und leisem
Hersagen eines Satzes den folgenden langsam und laut betonte und dann
rückwärts betete und mit den Anfangsworten Vater unser schloß. Aus
diesem Gebete hatte sich eine Ahnung in mir niedergeschlagen, daß Gott
ein Wesen sein müsse, mit welchem sich allenfalls ein vernünftiges Wort
sprechen ließe, eher als mit jenen Tiergestalten.
So lebte ich in einem unschuldig vergnüglichen Verhältnisse mit dem
höchsten Wesen, ich kannte keine Bedürfnisse und keine Dankbarkeit,
kein Recht und kein Unrecht und ließ Gott herzlich einen guten Mann
sein, wenn meine Aufmerksamkeit von ihm abgezogen wurde. Ich fand aber
bald Veranlassung, in ein bewußteres Verhältnis zu ihm zu treten und zum
ersten Mal meine menschlichen Ansprüche zu ihm zu erheben, als ich,
sechs Jahre alt, mich eines schönen Morgens in einen melancholischen
Saal versetzt sah, in welchem etwa fünfzig bis sechzig kleine Knaben und
Mädchen unterrichtet wurden.[...] "
(Quelle: Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht
Bänden, Band 4, Berlin 1958–1961, S. 24-33.
http://www.zeno.org/nid/20005145031)
- gemeinfrei
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