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Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Max Brod)
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Gesamttext (Kapiteleinteilung nach Malcom Pasley 1990)
Das Gericht in
Franz Kafkas Roman "Der
Prozess" hat zu vielen verschiedenen Deutungen Anlass
gegeben. Dabei hat man immer wieder den Versuch unternommen, es auf reale
Rechtsordnungen und -systeme in Gegenwart und Vergangenheit zu beziehen. So
wurde das Gericht als anklagende und verurteilende Macht, die sich nirgendwo
legitimiert und letzten Endes begründungslos handelt, als Teil einer
Justizsatire gedeutet, die die im "Prozess"
vorhandenen
totalitären Züge des Gerichts und Rechtssystems als Elemente eines
totalitaristischen Systems anprangert. Doch statt die erzählerischen
Konstruktionen Kafkas "immer wieder auf die nominell existierenden
Rechtsordnungen zu beziehen sollte man sie aus ihrer internen Systematik zu
verstehen versuchen." (Alt
22008, S.390) Und auch wenn es naheliegend erscheint, weil es
die Irritationen, in die "Der Prozess" den Leser versetzt, mit einer
vergleichsweise einfachen Sinnkonstruktion mildert, sperrt sich dieser
Interpretationsansatz gegen ein tieferes Verständnis des im "Prozess"
erzählten Geschehens.Hans Helmut
Hiebel (2008, S.462f.) betont, dass sich "das zunächst als phantastisch
erscheinende Gericht als Instanz (erweist), welche die Angst, das
Schuldgefühl, den Mangel an Selbstgewissheit, die Ohnmacht, die Schwäche und
die Leere aufdeckt."
Hans Helmut Hiebel (1976), für den - nach
Leich (2003, S. 3) - der Zusammenhang von innerer und äußerer
Autorität und Abhängigkeit das grundlegende Prinzip der Darstellung Kafkas
darstellt, sieht einen ständigen Wechsel von Innen und Außen bei dessen Ich-
und Gesellschaftsdarstellung, der zu einem Zirkel führt. In diesem Zirkel
korrespondieren die Bürokratie und die unbewussten Tendenzen des Ichs
miteinander. "Recht werde zu Macht und verliere so seine moralische
Gültigkeit, daher erscheinen diese im Werk als ununterscheidbar miteinander
verwoben. Äußerer sozialer Druck spiegelt sich in den Innenwelten der
Figuren wieder." (Leich
2003, S. 3)
Auf diese Weise stellt die Gerichtswelt stellt eine Projektion dar, "die
allegorisch ins Externe
extrapoliert wurde". (Hiebel 2008, S.463)
Die wechselseitige Durchdringung von äußerer und innerer Wirklichkeit ist es
auch, was
moderne
Inszenierungen des Romans auf der Theaterbühne immer wieder
herausarbeiten. Darin wird, wie in der »Inszenierung
von »Moritz
Peters (*1981) am »Grillo-Theater
Essen im Jahr »2013/14,
mit den Mitteln des Theaters gezeigt, "wie Josef K. die Logik der
übermächtig scheinenden Institution zu seiner eigenen macht." (Fiedler
2013, S.16) Damit so fährt die Rezensentin der Süddeutschen Zeitung
fort, beleuchte die Inszenierung "den abstrakten Horror des Romans, der
essentieller ist als der Schrecken der Gerichtsmaschinerie." So führe führe
die Inszenierung "beiläufig vor, wie ein - vielleicht sogar der - Mensch -
alle äußeren Zwänge und Strukturen akzeptiert, verinnerlicht und irgendwann
sogar selbst durchsetzt." Und somit werde "der äußere Prozess [...] zur
Chiffre für einen deutlich beunruhigenderen inneren, der in modernen
Gesellschaften aktueller ist denn je. Zwänge müssen heute nicht mehr in Form
brutaler Vorgesetzter, patriarchaler Ehemänner oder prügelnder Lehrer
auftreten. Die gesellschaftliche Zurichtung erledigen wir schön selbst - und
fühlen uns frei dabei."
"Ein weiterer Grund für die nachhaltige Wirkung des Process ist
sicherlich, dass er sich auf die Zustände in totalitär regierten Staaten
beziehen lässt. Man hat sogar von ›prophetischen‹ Vorwegnahmen des
Stalinismus und Nationalsozialismus gesprochen. Das geht allerdings am Kern
des Werks vorbei: Kafkas Gericht ist zwar undurchschaubar, verfährt aber
keineswegs willkürlich und bleibt selbst gegenüber Regelverstößen
eigentümlich passiv; ja, man kann sogar zeigen, dass alle seine Aktionen vom
Angeklagten gleichsam provoziert werden." (Stach
2005)
"Unbestreitbar ist hingegen, dass Der Process Erfahrungen
thematisiert, die sämtliche modernen Massengesellschaften prägen und die
Kafka aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit wohl deutlicher vor Augen
standen als anderen zeitgenössischen Autoren: Selbstentfremdung,
Vernichtungsängste, Desorientierung, Anonymität und die aktenmäßige
›Erfassung‹ des Menschen. Vor allem Kafkas Verfahren, das jeweils
Nächstliegende mit fotografischer Genauigkeit zu schildern, den Sinn des
Ganzen jedoch völlig im Dunkeln zu lassen, spiegelt genau das Lebensgefühl
in großen sozialen Systemen, in denen jeder ›informiert‹ ist, die jedoch
jenseits des eigenen Funktionierens keinen ›Sinn‹ mehr vermitteln." (Stach
2005) Die besondere Aktualität dieser Aspekte wird mit dem
NSA-Überwachungsskandal (»NSA
= National Security Agency) und dem
»Fall Mollath in besonderer Weise deutlich. Wurde im
NSA-Überwachungsskandal das nahezu lückenlose Abhören der gesamten
Telekommunikation weltweit bis hin zu zahlreichen Regierungschefs durch »Edward
Snowden (*1983) aufgedeckt, so zeigte der Fall des sieben Jahre lang
zwangsweise in einer psychiatrischen Einrichtung unschuldigerweise
festgehaltenen »Gustl
Ferdinand Mollath (*1956). Beides erinnerte etliche Kommentatoren der
Ereignisse "an die verstörende Fiktion einer mächtigen, völlig
unkontrollierbaren Gerichtsbarkeit, und ihr Opfer Josef K." (Fiedler
2013, S.16)