teachSam- Arbeitsbereiche:
Arbeitstechniken - Deutsch - Geschichte - Politik - Pädagogik - PsychologieMedien - Methodik und Didaktik - Projekte - So navigiert man auf teachSam - So sucht man auf teachSam - teachSam braucht Werbung


deu.jpg (1524 Byte)

 

 

Aspekte der Erzähltextanalyse

Aspekte der Interpretation

Franz KafkaParabelnKleine Fabel

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur
Literarische Gattungen Erzählende Texte Parabel Autorinnen und Autoren Franz Kafka Überblick Biografie Brief an den VaterKafka als Erzähler Kurze Erzählungen (Epische Kleinformen) • Überblick Parabeln Didaktische und methodische Aspekte ÜberblickAspekte der Erzähltextanalyse Auf der Galerie Der Aufbruch Der Geier Der neue Advokat Der Schlag ans Hoftor Der Steuermann Die Brücke Die Prüfung Ein altes Blatt Eine kaiserliche Botschaft Ein Hungerkünstler Ein Landarzt Gibs auf Heimkehr In der Strafkolonie Kleine Fabel  Text Didaktische und methodische Aspekte Überblick [ Aspekte der Erzähltextanalyse Überblick Am Vorverständnis anknüpfen Katze und Maus als Motiv(e) Aspekte der Interpretation Das jüdische Leben als Bezugsrahmen der Interpretation ] Bausteine Fragen und Antworten (KI) Vor dem Gesetz Bausteine Andere kurze Erzählungen Längere Erzählungen Romane und Romanfragmente Links ins Internet Schulische Interpretation einer Parabel Schreibformen Operatoren im Fach Deutsch

 

 

Fremdheitserfahrungen thematisieren
▪ Kohärenzbildung über mentale Modelle, kognitive Schemata und literarische Konventionen (Gattungen)

Max Brods Editionspolitik der Fragmente Kafkas
Stereotype Deutungsansätze vs. Analyse von Codes

Ausgewählte Zugänge zu Kafkas Parabeln im Literaturunterricht
Überblick
Kognitiv-analytische Zugänge
Überblick
Zugänge über die Person Franz Kafkas
Zugänge über das Schreiben Franz Kafkas
Zugänge über das Gattungswissen
Zugänge über gesellschaftshistorische, rezeptionsgeschichtliche und literaturgeschichtliche Kontexte
Zugänge über das Thema
Zugänge über die Intertextualität
Handlungsorientierte Zugäng
Sonstige Zugänge»

Eine moderne Parabel interpretieren
Quickie: So interpretiert man eine moderne Parabel
Überblick
Aspekte der Schreibaufgabe
Didaktische und methodische Aspekte
Überblick
Die Schreibaufgabe analysieren
Sich auf eine moderne Parabel einlassen
Über Kohärenzlücken "stolpern" und Transfersignale erkennen
Den Bildbereich analysieren
Ansätze für die Übertragung in einen Sachbereich gewinnen
Die sprachliche Gestaltung des Bildbereichs untersuchen
Die Textinterpretation strukturieren
Sich für eine Schreibstrategie entscheiden
Arbeitsschritte zur Bewältigung von Schreibaufgaben
Formulierungshilfen
Typische Schreibaufgaben

docx-Download - pdf-Download
Franz Kafkas Tierfiguren

Es gibt einen Pluralismus toleranter Interpretationen

Heute gilt, dass ein literarischer Text wie ▪ Franz Kafkas ▪ "Kleine Fabel" keine fest umrissene Bedeutung besitzt. Der in den "Daten" eines Textes verborgene Textsinn lässt sich nämlich auch bei bestem Willen im Text nicht finden, denn "welchen Sinn, welche Bedeutung man mit literarischen Texten verbindet, ist ... eine Entscheidung, die der Interpret fällt." (Horst Steinmetz 1995, S.475). Dementsprechend sind auch alle derartigen Interpretationsansätze legitim, ohne jedoch auch gleichermaßen überzeugend oder schlüssig zu sein. Ein • Kurzüberblick über die populärsten Interpretationsansätze kann dies verdeutlichen.

Der Pluralismus toleranter Interpretationen schließt auch ein, dass, vor allem bei • modernen Parabeln, sich nicht alle Elemente des Bildbereichs einer widerspruchsfreien Übertragung und einem globalen (Gesamt-)Sinn des Sachbereichs fügen müssen, wenn der Text keinerlei Sinnversprechen geben kann und will. Nicht immer lassen sich in derartigen Texten die diese als Gattung konstituierenden • impliziten Textsignale entnehmen und oft befindet sich auch der Strukturzusammenhang von • Bild- und Sachbereich in Auflösung.

Wenn bei der modernen Parabel die Bezugsrahmen von Bild- und Sachbereich nicht mehr auf einem von Erzähler und Leser im Wesentlichen geteilten, geschlossenen und konsistenten Menschen- und Weltbild beruhen und sich dieses Faktum auch in beiden Bereichen zeigt, muss auch die ▪ schulische Interpretation von Parabeln sehr "offen" gestaltet werden.

Unter literaturdidaktischen Aspekten betrachtet kann dabei der Zugang über das Gattungswissen auch bei ▪ Franz Kafkas ▪ "Kleine Fabel"  durchaus fruchtbar sein, wenn die Irritationen, die die Titelgebung durch Kafkas Freund und Herausgeber »Max Brod (1884-1968) erzeugt, auch unter dem Blickwinkel von • Max Brods Editionspolitik der Fragmente Kafkas überwunden werden.

Zudem können zum Vergleich unterschiedliche Texte, die zur weiteren Textsortenverwandtschaft zählen, herangezogen werden, um das eigenständige Generieren von (Familien-)Ähnlichkeiten zu ermöglichen. Das gilt auch für den Vergleich mit Texten Kafkas, die gemeinhin als • "gute" Vertreter der Gattung gelten (vgl. Zymner 2010, S.456)


Für größere (740px) und große Ansicht (1200px) bitte an*klicken*tippen!

Engels (2010)Ansatz einer historisch-hermeneutischen Literaturwissenschaft (ebd., S.425) verzichtet auf der Grundlage seines • Lektüremodells des absoluten Bildes darauf, sich auf einen bestimmten Interpretationsansatz festzulegen, der dann mit mehr oder weniger überzeugenden Kotexten und Kontexten unter Vernachlässigung anderer Aspekte durchgezogen wird.

Stattdessen greift er bestimmte Textelemente auf –  er bezeichnet sie als Codes –,  die Kafkas Texte einzeltextübergreifend kennzeichnen und auch in den verschiedenen gängigen Interpretationsansätzen eine tragende Rolle spielen.

Engel unterscheidet sechs solcher Codes, die in den einzelnen Texten in verschiedener Weise z. b. als dominierend oder nicht, auftreten können:


Für größere (740px) und große Ansicht (1000px) bitte an*klicken*tippen!

Statt einen dieser Codes, wie es die gängigen Interpretationsansätze zu tun pflegen, zu einer Art "Supercode" zu erklären, geht es in Engels Lektüremodell darum, die auf der Textoberfläche erkennbaren Hierarchien der in einem Text vorhandenen Codes zu erfassen, Dominanzen zu beschreiben und davon ausgehend Entscheidungen darüber zu treffen, "wie die textspezifischen Codes und ihre textspezifische Relation im Einzelnen zu deuten ist." (ebd., S.426)

Wenn man sich mit der Interpretation von Kafkas Kleiner Fabel befasst, versucht man bis heute, wie Nayhauss (2006, S.60) betont, einen "artistischen Drahtseilakt".

Dieses Kunststück aufzuführen, den vorhandenen Interpretationen namhafter Literaturwissenschaftler eine weitere Interpretation für den Schulgebrauch hinzuzufügen, die den Anspruch einer "geschlossenen" Deutung erheben könnte, soll hier nicht versucht werden.

Stattdessen sollen Aspekte der Interpretation zur Sprache kommen, die in z. T. sehr unterschiedlichen "Drahtseilakten" vorkommen und verschiedene Zugänge zu Kafkas Prosatext deutlich machen.

Der literaturwissenschaftliche und auch literaturdidaktisch am meisten begangene Zugang zur Kleinen Fabel ging und geht über die von Max Brod vorgegebene Gattungsbezeichnung, die sich im Titel des Textes wiederfindet.

Warum »Max Brod (1884-1968), der Freund und Herausgeber der Werke Franz Kafkas (1883-1924), dem Text, der wohl um 1920 entstanden ist, den Titel Kleine Fabel gegeben hat, ist im Konxtext seiner • Editionspolitik der Fragmente Kafkas immer wieder Gegenstand von Untersuchungen und Spekulationen gewesen.

Dabei hat der Herausgeber sich dabei durchaus in seinem editorischen Ermessenspielraum bewegt (vgl. Allemann 1975/1998, S.134), aber Kafka selbst hätte, so kann man offenbar aus den von ihm selbst publizierten Texten schließen, "auf Eselsbrücken dieser Art verzichtet". (ebd.)

Die Hinzufügung dieses Titels wirkt für die Rezeption des Textes suggestiv und lenkt den Leser von Anfang an darauf, die Geschichte auf der Grundlage seines Textmusterwissens zur Literaturgattung Fabel zu lesen. Dass Brod das Adjektiv "klein" in den Titel eingebaut hat, soll allem Anschein nach nicht auf ihre besondere Kürze verweisen, weil Kürze für die Fabel als epische Kleinform ja ohnehin kennzeichnend ist. Stattdessen soll das Attribut wohl "a priori einen ironischen Akzent setzen." (ebd.) So ist es aus der Perspektive eines im Umgang mit der Gattung Fabel "kompetenten" Leser betrachtet, durchaus eine übereifrig und "voreilig vorgenommene Ironisierung" (vgl. ebd.), die einer, zumindest zu Beginn des Leseprozesses, textmustergetreuen Rezeption entgegensteht. Sie legt nämlich nahe, dieses Muster im vorliegenden Text nicht absolut ernst zu nehmen. Aber damit zu behaupten, dass der Text Kafkas mit diesem Titel "zerstört" (ebd.) werde, geht doch sehr weit.

In jedem Fall scheint Brod mit seinem Titel versucht zu haben, ein "Überraschungsmoment" (Schlingmann 1995a, S.131) zu setzen, damit die Katze erst am Ende in den Blick des Lesers gerät. Stünden nämlich, so fährt er fort, wie bei Fabeln üblich, "Die Katze und die Maus" im Titel, wäre damit "ein Teil der beklemmenden Wirkung", die dadurch entsteht, dass die Katze erst am Schluss erwähnt wird, abgeschwächt worden.

Dass Kafkas Text zwar zunächst wie eine Fabel rezipiert werden kann, aber letzten Endes keine Fabel darstellt, hat Karl-Heinz Fingerhut (1969, S.171f.) betont. Sie sei vielmehr eine Parabel, weil sie nicht wie in einer Fabel üblich davon berichte, "wie es in der Welt zugeht, d. h. von Zuständen im zwischenmenschlichen Bereich", sondern "ein in Handlung umgesetztes Beispiel des menschlichen Lebenslaufs" darstelle, das die "universelle Determiniertheit der Existenz" ausdrücke.

Interpretationen, die von der Titelgebung des Textes von Franz Kafka ausgehen, sind indessen heutzutage nicht mehr unbedingt en vogue, entsprechen nicht mehr den Prämissen, unter denen die moderne Kafka-Forschung den Text zu fassen versucht. • Literaturdidaktisch ist in jedem Fall ein kritischer Umgang mit Max Brods Titelgebung nötig, um die "poetisch-produktive Ironisierung des Fabel-Prinzips durch Kafka" (Allemann 1975/1998, S.147), auch über die Strukturen des Textes zur Wirkung kommen zu lassen.

Für die Neuausrichtung der Interpretation sind dabei vor allem Erkenntnisse über die • Bedeutung des jüdischen Hintergrundes in Kafkas Werk verantwortlich. (vgl. Nayhauss 2006, S.62) Erst dieser Ansatz habe von dem interpretatorischen Irrweg "erlöst" (ebd.), den "Generationen von Interpreten" gegangen seien, weil sie der irreführenden Titelgebung Kleine Fabel durch Max Brod buchstäblich auf den Leim gegangen sind.

Jemandem, der traditionelle Fabeln kennt, ist die Ausgangssituation des Textes vertraut. Wie sonst auch üblich werden die beiden Tierfiguren ohne weitere Beschreibung eingeführt: • Maus und Katze, zwei Figuren, die von vornherein auf bestimmte Charaktereigenschaften festgelegt sind und die, in der Konfrontation miteinander, die Maus von Anfang an als Opfer der Katze erscheinen lässt.
Was sich zwischen den beiden abspielt, scheint bis auf die Tatsache, dass die Katze am Ende die Maus frisst, wie ein Dialog ungleicher Kontrahenten, ganz so, wie es ein mit Fabeln vertrauter Leser erwartet.

Sieht man indessen etwas genauer hin, so zeigt sich schon von Beginn an, dass die Äußerung, die die Maus macht, an keinen bestimmten Adressaten gerichtet ist. Die Klage, die sie anhebt, ist "letztlich monologisch" (Nayhauss 1974, S.242f.), stellt eine Art "selbstgespräch mit dem fixierten sich permanent fixierenden eigenen bewusstsein [sic!]" (ebd.) dar. Auch das, was die Katze sagt, ist "für sich aus persönlichem nutzen, egoistisch, ohne bezugnahme auf etwas intersubjektiv verbindliches [sic!]" gesprochen und "allein den absichten und zwecken des persönlichen bewusstseins verhaftet [sic!]". Müller (1994/2003a, S.374) sieht dies hingegen anders und betont, dass man sich die Katze "von Anfang an als Ansprechpartnerin der Maus präsent vorstellen" müsse.

In zwei Sätzen, darunter einem längeren Satzgefüge, trägt die Maus in diesem "Schein-Dialog" (Allemann 1975/1998, S.141) zu Beginn ihre Klage, die also "an eine unbestimmte Instanz gerichtet (ist)" (Schlingmann 1968/1976, S.132) mit einem für tiefes Bedauern stehenden "Ach" vor.

Sie äußert sich darin zunächst einmal ganz allgemein über den Zustand der Welt, die sie als mit jedem Tag enger werdend beschreibt. Im Rückblick erinnert sie sich im zweiten Satz, "der ein Musterbeispiel poetischer Abbreviatur darstellt" (Allemann 1975/1998, S.131), daran, dass dies früher anders gewesen ist, als sie noch "so breit" " war" (Z 1). Dabei weiß sie sich daran zu erinnern, dass ihr diese Weite der Welt seinerzeit "Angst" (Z 2) bereitet hat. Ohne den Ausgangspunkt oder den Zeitpunkt zu nennen, zu dem sie mit dem Laufen angefangen hat, erklärt sie: "ich lief weiter" (Z 3), wobei sie offen lässt, wohin sie letzten Endes gelaufen ist. Nur die Tatsache, dass sie "endlich" (Z 2) und "in der Ferne" (Z 3) "Mauern sah" (Z 4), die ihren Ängsten offensichtlich ein Ende setzten und sie "glücklich" (Z 2) machten, lässt vermuten, dass sie ihren Ängsten, gekoppelt an eine diffuse und keinen wirklichen Platz in der Welt zuordnende räumliche Erfahrung, entkommen will. Dabei tut sie dies, ohne eine Vorstellung darüber zu äußern, was sie sucht und was sie andernorts erwartet. Indem sie sich in einem zeitlichen Kontinuum, über dessen Anfang, Ende und Dauer keine Angaben gemacht werden, bewegt, "immer weiter lief" (Z 1), wie sie selbst sagt, verändert sich die Wahrnehmung des surreal wirkenden Raumes, in dem dieses Laufen stattfindet. Nach der im übrigen konturlosen, aber gerade deshalb angstbesetzten Weite, empfindet sie beim Auftauchen von Mauern, rechts und links in der Ferne, Erleichterung. In dem Moment freilich, indem ihr die Erleichterung, die sie beim erstmaligen Auftauchen der Mauern in der Ferne verspürt hat, bewusst wird, sieht sie die "langen Mauern" (Z 2) aber schon "so schnell aufeinander zu(eilen)" (Z 3), dass sie sich "schon im letzten Zimmer" (Z 3) befindet.

Die adverbiale Bestimmung "so schnell", die in die einzige Metapher der Kleinen Fabel eingefügt ist, betont dabei noch einmal die subjektive Wahrnehmung von Zeit und Raum durch die Maus. Raum und Zeit schnurren, wie Schlingmann 1995a, S.133) formuliert, förmlich zusammen.

Die Mauern selbst, so sieht es Allemann 1975/1998, S.131), werden, "was immer sie »eigentlich« bedeuten mögen, zu Chiffren des Welten-Laufs überhaupt, der zudem in unmittelbarster Interdependenz mit dem (Lebens-)Lauf der Maus steht." (Hervorh. d. Verf.) Diese Sehweise sei für Kafka typisch. Sie nehme in der Bewegung die Objekte, an denen sie ausgeführt werde, quasi mit sich mit, so dass "der Effekt einer stillstehenden Bewegung bzw. eines bewegten Stillstands eintritt." (ebd., S.131, Anmerkung 11, S.148f.)

In Kafkas Kleiner Fabel wird dieses Paradoxon zur ästhetischen Erfahrung des Lesers und ist Teil der insgesamt verfremdet wirkenden Situation. Die Maus läuft um ihr Leben, das ist die seit Sokel (1964, S.22) am weitesten verbreite Deutungshypothese.

Allerdings erhält sie, unterstreicht Müller (1994/2003a, S.379), von der Katze die Antwort auf ihre "implizit gestellte Frage ›Wie kann ich nur dem Tod entgehen?‹ [...] erst, als es schon zu spät ist, als die Maus zwar noch ein wenig von der Falle entfernt, aber schon in ihren Einflußbereich geraten ist. Genauer: Die Maus fragt zu spät, sie hätte sich schon nach dem ›rechten‹ oder ›wahren‹ Weg erkundigen müssen, als in der Ferne die Mauern vor ihr auftauchten. Aber auch damals hätte sie sich wohl besser in ihrer Not nicht einer Katze anvertraut. Am besten hätte sie zuerst einmal bei sich selbst die Antwort auf die Frage nach dem rechten Weg gesucht. Kleine Fabel zeigt, wie gefährlich es sein kann, sich einem Fremden anheimzugeben. Der mag einem sogar eine vernünftige Lösung für das Problem anbieten, das man scheinbar nicht alleine zu bewältigen vermag, einem aber, indem er vor Schlimmen bewahrt, ebenso Schlimmes oder noch Schlimmeres antun "

Dabei spielt auch in der Kleinen Fabel "die erzählerische Entfaltung der Räume durch die an die Figuren gebundenen Perspektiven und die damit zusammenhängende Desorientierung" (Andringa 2008, S.333, Hervorh. d. Verf.) die entscheidende Rolle.

Die dargestellte Welt entfernt sich dabei von jeder konkreten Raumvorstellung und macht sie damit "sowohl räumlich als auch zeitlich gleichsam unlokalisierbar" (ebd.). So sind wohl auch die in der Kleinen Fabel erwähnten Raumelemente  (Welt, Weite, Ferne, lange Mauern, letztes Zimmer, dort im Winkel und die Falle) keineswegs Objekte, die einen Raum situieren, denn, "was zunächst bloß als ein perspektivischer Effekt nach dem optischen Gesetz der Fluchtlinien vom momentanen Blickpunkt der Maus her interpretiert werden könnte, das Zusammenlaufen der Mauern in einem Fluchtpunkt, erweist sich als die reale Existenz-Perspektive der Maus und der Fluchtpunkt als die Todesfalle, in die sie läuft." (Allemann 1975/1998, S.131)

Mit seiner "verfremdend-reduzierten Dichtungsweise" (ebd.; S.146) wird von Kafka damit "auf kürzestem Weg eine Grenzsituation erreicht" (ebd., S.131)

Am Ende ihres Laufs ist die Maus in dem "letzten Zimmer" (Z 4) angelangt, wo "in einem Winkel" "die Falle steht" (Z 4), in die die Maus unweigerlich laufen (wird). Die Maus kann dieser Falle aus ihrer Sicht der Dinge nicht entgehen, und das ist, im Bild ihres (Lebens-)Laufs gesehen, auch nicht zu ändern.

Dies wird durch die Aussage der Katze, die, wie eingangs schon erwähnt, nur scheinbar eine Antwort auf die Äußerung der Maus gibt, in zynischer Weise ironisch kommentiert, "indem sie die Klage der Maus zweifach Lügen zu strafen scheint - erst verbal und dann auch noch faktisch, durch das pointierte Auffressen der Maus" (Allemann 1975/1998, S.137).

Es ist insbesondere die Äußerung der Katze "Du musst nur die Laufrichtung ändern" (Z 5, Hervorh.  d. Verf.), die "den Text im ganzen rückwirkend färbt und nochmals in ein anderes Licht rückt." (Allemann 1975/1998, S.138)

Dass die Katze in diesem Zusammenhang so von einer "Laufrichtung" spricht, wie man das im alltäglichen Sprachgebrauch auch tut, und dies entsprechend wörtlich zu nehmen scheint, "während die Rede der Maus das Wortkonzept vom »Lebenslauf« stillschweigend voraussetzt" (ebd., S.141), ist nach Ansicht Allemanns ein "Sprachwitz" (ebd.), den sich die Katze deshalb leisten kann, weil sie sich der Maus völlig überlegen fühlt.

Dabei fügt sich ihr Ratschlag, der letzten Endes auf einem Missverständnis (vgl. ebd., S.140) beruht, fast nahtlos ein in das Ensemble problematischer, weil verfänglicher Ratschläge, die andere vermeintliche Helferfiguren den jeweiligen Hauptfiguren in anderen Erzählungen Kafkas, man denke hier nur an den Schutzmann in "Gibs auf", erteilen. (vgl. ebd.)

Offen lässt die Kleine Fabel, den nach Richard Thieberger (1979, S.376) "kritischen Punkt der Geschichte und ihrer Interpretation", der, wenn man die Fabelhandlung ernst nimmt, in der Frage münde: "Hat sich die Maus nun umgedreht oder nicht?" (ebd., zit. n. Schlingmann 1995a, S.133)

Auch wenn man mit Thieberger davon ausgeht, dass die Maus sich tatsächlich umwendet, die Laufrichtung ändert und damit erst in die Fänge der Katze läuft, wie es auch die nachfolgende Skizze einer Schülerin zu ihrem • Vorverständnis des Textes dokumentiert, bleiben Fragen offen. Denn wie Schlingmann (1995a, S.134) einwendet, widerspricht ja genau die Tatsache, dass die Maus der Katze Vertrauen schenkt, "der Natur und den Regeln der Fabel und ist auch in Kafkas • Fragment »Eine Katze hatte eine Maus gefangen ...« nicht angelegt."

Dass in Kafkas Werk überhaupt Tierfiguren und -gestalten auftauchen, man denke nur an Gregor Samsa in seiner Erzählung »"Die Verwandlung", der eines Morgens als Käfer erwacht, scheint auf den ersten Blick nicht recht zu den doch sehr komplexen und hintergründigen Erzählverfahren zu passen, die Kafka auszeichnen. (vgl. Allemann 1975/1998, S.127) Franz Kafkas Tierfiguren

Mit den Tieren, die in der Literatur im übrigen "eine volkstümliche, auch dem kindlichen Gemüt angepasste Darstellungsweise" signalisieren, dringt offenbar nach Ansicht Allemanns "auch in die Prosa Kafkas ein Hauch von kindlicher Spielfreude, von Märchen- und Wundergläubigkeit" ein (ebd..

Doch Kafka wäre nicht Kafka, ginge die Verwendung von Tierfiguren in der seit der Antike von »Aesop bekannten Anthropomorhisierung auf. Die Erwartungen, die die Tierfiguren erzeugen, werden indessen nicht erfüllt. Vergleichsweise schnell sieht sich ein kompetenter Leser nämlich in eine spannungsvolle Situation zwischen diesen Erwartungen und den hintergründigen Absichten des Autors gestellt, die ihn zur Erkenntnis gelangen lassen, dass die Tiere Kafkas eben "nicht ohne weiteres ausdeutbar" (ebd., S.128) sind.

So bleibt vielleicht nur eine Deutung ihrer Funktion im Ganzen, wie sie Karlheinz Fingerhut (1969, S. 171f.) im Rahmen seiner Interpretation der Kleinen Fabel als Parabel vornimmt. Danach bringen die Tierfiguren zum Ausdruck, "dass das Menschliche nicht mehr völlig von der tierischen Determination zu trennen ist."

Wer dem Text ohne das zu seiner Rekontextualisierung nötige Wissen begegnet, spürt schnell heraus, dass Kafka den Leser in der Kleinen Fabel "förmlich auf der Geschichte sitzen" lässt. (Allemann 1975/1998, S.129)

Entsprechend hält Allemann auch überhaupt nichts von der philologischen "Kleinkunst", der Geschichte am Ende eine "Moral" bzw. nachgestellte Lehre (Epimythion) überzustülpen, nach dem Muster: "Der Schwächere tut gut daran, nicht auf den Rat des Stärkeren zu hören, zumal wenn dieser sein natürlicher Feind ist." (ebd., S.129) Sie verfehle die Intention des Textes deutlich. Geeigneter scheint dagegen zu sein, die Kafkas "Schreibstrategie" (Vogt 2008, S.65) auszeichnende "Kombination von einfachem Wortlaut und Gattungsschema, sprachlicher Vieldeutigkeit und Deutungsabstinenz des Erzählers" (ebd.) hinzunehmen und damit dem Text die Vieldeutigkeit zu lassen, die auch das Gesamtwerk Kafkas weltberühmt gemacht hat. (vgl. ebd.)

Kafkas "Schreibstrategie" folgt dem Gattungs-Schema der Fabel, insbesondere • Gotthold Ephraim Lessings (1719-1781) fabeltheoretischem Konzept so genau, dass man "zunächst kaum eine Abweichung von der dort entwickelten Norm entdecken" kann (ebd., S.130) So würden Katze und Maus kommentarlos eingeführt, ihr Verhalten entspräche den üblichen Charakterrollen und die Situation, in der ein Schwächerer mit einem Stärkeren konfrontiert werde, ist einem literarisch sozialisierten Leser vertraut. So bringt ihn das alles natürlich dahin, seine Erwartungen am traditionellen Textmuster- und Textsorten- bzw. Gattungswissen zur • Fabel auszurichten.

Allerdings soll damit die Komplexität der Rezeption literarischer Texte nicht auf dieses Textmusterwissen reduziert werden, denn, wie Jochen Vogt (2008, S.63) betont, "(sind) Lesarten und Interpretationen (...) abhängig von dem Wissensstand und Problembewusstsein, das wir bei der Lektüre mitbringen. Wir interpretieren einen Text immer im Rahmen oder Horizont unserer eigenen Erfahrung. Und der ist sowohl individuell wie kollektiv geprägt; er umfasst unser historisches Wissen, aber auch unsere ästhetische oder literarische Erfahrung."

Kafka kann das Fabelschema aber nicht in einem auf einem festen Wertehorizont gründenden Ende aufgehen lassen, so wie es die die didaktische Form seit »Aesop (6. Jh.v. Chr.) über »La Fontaine (1621-1695) bis »Lessing (1729-1781) ausgezeichnet hat. Seine bemerkenswerte Kunst besteht jedoch darin, dass er dennoch, so die Analyse von Allemann (1975/1998, S.145) an ihrer tradierten Struktur "bei vollem Bewusstsein ihrer inneren Unmöglichkeit" festhält und das "nicht durch offene Parodie oder im üblichen Sinn scherzhafte Behandlung des Genus, sondern durch eine sublime Transposition mit Hilfe des Prinzips der Ironie." (Hervorh. d. Verf.)

Die Prosafabel, so wie sie in der Gattungsgeschichte tradiert worden ist, war für Kafka nur "in einer fundamental ironischen Brechung" (ebd., S.144) machbar. Die "poetisch-produktive Ironisierung des Fabel-Prinzips durch Kafka" (ebd., S.147) macht sich die von der Gattung geforderte "Ko-Produktion", die "Interpretationsbereitschaft ihrer Leser" (Vogt 2008, S.63) zunutze, "die aus Erfahrung wissen, dass es nicht um Katz und Maus geht [...], sondern dass die Tiere symbolische Stellvertreter" sind. (ebd., S.64)

Wofür sie indessen stehen, ist nicht im Text zu finden, sondern entsteht im Bewusstsein des Leser, ist Ergebnis eines intrapsychischen Vorgangs, der Lesen und Deutung umfasst. Daher sind die möglichen Interpretationen der Kleinen Fabel, die so viel offen lässt, prinzipiell unendlich, im engeren Sinne jedoch begrenzt durch die "Zugehörigkeit zu einer bestimmten Interpretationsgemeinschaft" (ebd., S.63).

Deren Mitglieder übertragen z. B. "die unbequeme Lage der Maus in Kafkas enger Welt [...] auf jede ausweglose Situation, jeden unlösbaren Konflikt [...], in den jemand gerät - sei es ein Individuum oder eine Gruppe, bis hin zur Menschheit (sagen wir beispielsweise: zwischen Ozonloch und Atomgefahr). Die Katze wiederum kann mit jeder nur denkbaren verderbenbringenden Macht identifiziert werden - und weil diese Struktur Kafkas Werke durchgehend bestimmt, gibt es zu ihnen auch so unendlich viele und unterschiedliche Interpretationen ..." (ebd., S.64f.)

Ohne dem Text durch solche Analogien Sinn zu geben, betont Peter-André Alt (2005/2008, S.571) in seiner Kafka-Biografie, dass der Text "nicht das »Beispiel der tragischen Ironie des Lebens« [H. W. Sokel 1964/1976, S.23] liefere, sondern "die Bestätigung der Differenz zwischen Realität und Fiktion", die ihren Lesern "den Täuschungscharakter aller Auslegungen vor Augen stellt." (ebd., S.572)

Konsequenterweise wird damit von Alt auch die Sinnlosigkeit unterstrichen, den Text in einem herkömmlich interpretatorischen "hermeneutischen Annäherungsprozess" (ebd.) fassen zu wollen. Stattdessen offenbare sich "die verdeckte Quintessenz" (ebd.) der "abgründige(n) Geschichte" (ebd. S.571) in einem "Akt der gleichsam mystischen Versenkung" (ebd., S.572)

Auch wenn man diesen "esoterisch" anmutenden Aneignungsprozess kritisch sehen mag, schaut man über die Kleine Fabel hinweg auf das gesamte Werk Kafkas, dann bleibt mit Andringa (2008, S.333) doch festzuhalten, dass die "bei Kafka strukturell angelegte Geschichts- und Ortlosigkeit", die ja häufig genug häufig befremdend wirkt, erst die "unendliche Vielfalt von Konkretisierungen" ermöglicht, die den Umgang mit Kafkas Werk insgesamt auszeichnet. Dies gilt wohl uneingeschränkt auch für Kafkas Kleine Fabel, die wie andere Werke des Autors eben auch, "mit Vorstellungen und Ideen aus verschiedensten Zeiten, Welten und Kulturen verbunden und analogisiert werden kann." (ebd.)

Und zum Wesen dieses Werkes gehöre die Erkenntnis, so Andringa weiter, dass es wenig bringt, wenn es immer wieder aktualisiert oder (re)kontextualisiert wird, "denn es bietet ein der Geschichte und dem Raum enthobenes Gerüst, das immer wieder anders ausgefüllt werden kann." (ebd.)

Ob die Interpreten wirklich - auch mit neueren Interpretationsansätzen - mit der Kleinen Fabel "fertig" werden können (vgl. Nayhauss 2006, S.62), lassen wir dementsprechend dahingestellt.

Der Tendenz, die Kleine Fabel ohne den Anspruch auf ihre (Re-)Kontextualisierung fassen zu wollen, wird aber von Nayhauss (2006, S.62), der damit die Positionen, die er in seiner früheren Analyse des Textes (Nayhauss 1974) eingenommen hat, deutlich revidiert, widersprochen.

Wer den • jüdischen Hintergrund "im Denken, Fühlen und Darstellen" nicht kenne oder nicht zur Kenntnis nehmen wolle, "der vermag zwar mit gutem Recht die Leerstellen mit allen möglichen Fragmenten seiner Welterkenntnis auszufüllen, ist jedoch nicht in der Lage, weder der ästhetischen noch der poetischen durch das Judentum eingefärbten Semantik des Autors auf die Spur zu kommen. Er bleibt, um es mit Kafka zu sagen, trotz seiner ungeheuren Welt, die er im Kopfe hat, draußen vor der der Tür dieser Geistigkeit." (Nayhauss 2006, S.62)

Für die Literaturdidaktik kann dies, so Nayhaus weiter, nicht folgenlos bleiben, denn zu ihren Aufgaben zähle, Materialien bereitzustellen, die "zum besseren Verständnis, zur Klärung der Verstehensbedingungen" beitragen.

Dies gelte um so mehr, "wenn jegliches Textverständnis durch totale Fremdheit blockiert ist". (ebd., S.58) Ohne die Rekontexualisierung könne jemand, der "den theologisch-anthropologischen Hintergrund der ostjüdischen Erzählungen von Gilgui (das göttliche Gericht am Menschen als Strafe der Seelenwanderung)" nicht kenne und "keine Ahnung" von kabbalistischen Sagen und Geschichten" habe, die Kafka seinerseits gut kannte, "den Text letztlich nur (!)" aus einem begrenzten Horizont und damit selektiv wahrnehmen und die Kleine Fabel damit "als surrealistische oder phantastische Geschichte rezipieren, vielleicht gar psychologisieren, da das der leichteste Weg ist." (ebd.)

docx-Download - pdf-Download

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 07.04.2025

 
 

 
ARBEITSTECHNIKEN und mehr
Arbeits- und ZeitmanagementKreative ArbeitstechnikenTeamarbeit ▪ Portfolio ● Arbeit mit Bildern  Arbeit mit Texten Arbeit mit Film und VideoMündliche KommunikationVisualisierenPräsentationArbeitstechniken für das Internet Sonstige digitale Arbeitstechniken 
 

 
  Creative Commons Lizenzvertrag Dieses Werk ist lizenziert unter Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International License (CC-BY-SA)
Dies gilt für alle Inhalte, sofern sie nicht von
externen Quellen eingebunden werden oder anderweitig gekennzeichnet sind. Autor: Gert Egle/www.teachsam.de
-
CC-Lizenz