Schülerinnen und Schüler, die, ehe sie auf Kafkas •
»Heimkehr«
treffen, schon dessen • Brief an den Vater
gelesen haben, tendieren erfahrungsgemäß dazu, diesen als • Kontext
bei der Interpretation von Erzählung mit dem •
biografischen Ansatz
zu nutzen. Dabei wird er in der Regel als ein •
autobiografischer
Text gelesen, der einen besonders hohen
Authentizitätsanspruch erhebt. Daneben spielen aber auch •
weitere Gründe für die Attraktivität des biografischen Zuganges
bei den Schülerinnen und Schülern eine Rolle. Besondere Bedeutung
hat der biografische Bezugsrahmen wohl deshalb bei ihnen, weil er
den Text dadurch in ihren Augen lebendiger erscheinen lässt, weil
sie "erkennen, dass hinter dem Werk ein Mensch mit seinem
Engagement, seinen Leidenserfahrungen und seinen Sehnsüchten steht."
(Spinner
32019, S.23) Zugleich lässt sich damit auch das nicht immer
einfache Verstehen eines literarischen Textes in gewisser Hinsicht
umgehen, indem es "durch die lebensweltlich viel vertrautere Operation des Verstehens von
Menschen (ersetzt)" wird. (Engel 2010,
S.419)
Kritisch zu betrachten ist dabei nicht, dass die Schülerinnen und
Schüler sich darum bemühen auf der Textoberfläche Elemente des
biografischen Codes festzustellen, die gerade • »Heimkehr«
aufweist, sondern die Tatsache, dass der biografische Ansatz quasi
automatisch gewählt wird, oft auch unabhängig davon, ob er im
Vergleich zu anderen Deutungsansätzen
besonders ergiebig ist.( vgl.
Abraham 2021, S.136)
Dabei kann man zudem der irrigen Annahme aufsitzen, dass sich der Horizont
des Autors im Entstehungskontext des Textes tatsächlich in einer
Weise rekonstruieren lässt, dass der von ihm in den Text
eingeschriebene Sinn zweifelsfrei sichtbar wird. Diese Tendenz zu "biographistische(n)
Verkürzungen" (Nickel-Bacon 2014,
S.95), die vielleicht nicht unbedingt "falsch", aber doch so sehr
vereinfachend sind, dass sie dem literarischen Text nicht gerecht
werden (vgl.
ebd.) wird vor
allem verstärkt, wenn der • Brief an den Vater
als Schlüsseltext zur Interpretation nahezu aller Werke Kafkas
gelesen wird und als quasi autobiografisches Dokument verstanden
wird, ohne zu sehen, dass der Brief
ein Text ist, in dem sich faktuales und fiktionales Erzählen
miteinander verbinden. (vgl. Weidner
2010, S.294)
Dennoch bleibt festzuhalten, dass der biografische Zugang zu Franz
Kafkas • »Heimkehr«
nahe liegend ist und auch in diesem Fall zweifellos "nicht ohne
Erkenntniswert" (Engel 2010,
S.420) ist, denn "für eine hermeneutisch-historische Deutung kann
sie oft durchaus die Funktion einer Orientierungshilfe haben: Wie
ein Wegweiser gibt sie die Deutungsrichtung vor, die man nur
verallgemeinern muss, um zu einer akzeptablen Interpretation zu
kommen." (ebd.)
Aus diesem Grunde
tut wohl die Literaturdidaktik auch gut daran, wenn sie schon
(autobiografische)Texte wie •
Franz Kafkas •
Brief an den Vater im Literaturunterricht
einbezieht, ihre Warnungen vor • "reduziertem Verstehen"
(Spinner
2022a, S. 176) durch das biografische Wissen und vor biografistischen
Verkürzungen mit der gebotenen Zurückhaltung zu formulieren.
Zugleich sollte sie auch Wege aufzuzeigen, wie der biografische Ansatz von den Schülerinnen und
Schülern so reflektiert werden kann, dass er einer der möglichen
Zugänge zu den Texten Franz Kafkas sein kann, aber deshalb doch
nicht immer der "Königsweg" (Engel
2010, S.419) sein muss. "Ergiebig"
für Schülerinnen und Schüler ist er allerdings bei ihrem Versuch,
• strukturelle Fremdheitserfahrungen zu überwinden, allemal.
Im
• Literaturunterricht am
weitesten verbreitet dürfte der •
Textvergleich
mit dem biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn sein.
Der •
Textvergleich
selbst gehört zu den wichtigsten •
Methoden bzw. Verfahren des
Literaturunterrichts. Der Vergleich von bestimmten Textphänomenen oder
-merkmalen innerhalb eines Textes (intratextueller
Vergleich)
und der Vergleich zweier oder mehrerer Texte miteinander (intertextueller
Vergleich) gehören daher auch zu den Standardaufgaben bei der
mündlichen oder ▪
schriftlichen
Textinterpretation in der Schule. Der Textvergleich setzt etliche •
Kompetenzen voraus und, je nach •
Schreibaufgabe
eine eigenständige oder gelenkte Anwendung von •
kontrastiven Verfahren bei der schriftlichen Textinterpretation.
Von diesen Verfahren dürften im vorliegenden Fall im Literaturunterricht
wohl am ehesten der
•
Motivvergleich,
der sich mit der Gestaltung des
• Heimkehrermotivs bzw. dem Motiv der
Heimkehr befasst, und der •
thematische
Vergleich ggf. auch in Kombination mit diesen der
•
diachrone Vergleich, der
• Textsorten-,
der
• Zielgruppenvergleich
oder auch der
• wertende Vergleich
in Frage kommen.
Der Text
• »Heimkehr"
von • Franz Kafka steht in vielen verschiedenen Vergleichs- und
Ähnlichkeitsbeziehungen zu anderen Texten, Bildern und medialen
Gestaltungen. Sie alle sind, soweit sie wir auf sie zurückgreifen
können, irgendwie daran beteiligt, wie wir den Text verstehen (Intertextualität).
Die thematische Offenheit dieser Spurensuche könnte auch darin zum
Ausdruck kommen, dass Texte, die Probleme beim Ablöseprozess
thematisieren, zusammengetragen werden.
Um einen Zugang zu Kafkas Text zu finden, können
die Schülerinnen und Schüler ermuntert werden, sich nach der ersten
Lektüre auf die Suche
nach Texten und medialen Gestaltungen machen, die für sie irgendwie in
Zusammenhang mit dem Text von Kafka stehen. Dabei können dies
inhaltliche, thematische, formale oder auch andere Aspekte sein, die
dabei eine Rolle bei diesen Text-Text-Beziehungen spielen. (vgl. auch •
Intertextuelle Lektüre)
Diese Suche öffnet den
Textvergleich und führt ihn von der sonst einseitigen Orientierung am
biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn weg und eröffnet damit neue
Perspektiven auf Kafkas Text. Organisieren lässt sich diese
prozessorientierte Textarbeit z. B. als
• eigenständige Suche nach Text-Text-Bezügen und/oder als Arbeit mit einer vorgegebenen
• Textauswahl,
die Grundlage eines •
Motivvergleichs zum •
Heimkehrermotiv bzw. das Motiv der Heimkehr. Im Gegensatz zu dem
offenen Konzept der intertextuellen Spurensuche ist die Arbeit mit
diesem Dossier ein gelenkteres Verfahren, das aber hinsichtlich der
Durchführung weiterhin sehr offen gestaltet werden kann. Der Textkorpus
kann dabei aus urheberrechtlichen Gründen keine moderneren Texte
(Autor*in muss mehr als 70 Jahre verstorben sein) umfassen.