Der •
Brief an den Vater ist ein von •
Franz Kafka (1883-1924) im
November 1919
im Alter von 32 Jahren verfasster Brief an seinen Vater »Hermann
Kafka (1852-1931). Der Text wird in der Schule meistens gelesen, um
ihn als • Kontext
bei der Interpretation von Franz Kafkas Werken mit dem •
biografischen Ansatz
zu nutzen. Dabei wird er in der Regel als ein •
autobiografischer
Text gelesen, der einen besonders hohen
Authentizitätsanspruch erhebt.
Der Text stellt
einen Text dar, in dem sich faktuales und fiktionales Erzählen so
miteinander verbinden, und "(überschreitet) offenkundig die
Grenzen, in denen sich die verschiedenen Schulen der Kafka-Forschung
eingerichtet haben." (Weidner
2010, S.294)
Im schulischen
Literaturunterricht fungiert der Brief an den Vater in der
Regel als eine Art Schlüsseltext zu einem vertiefteren Verständnis
der Werke Franz Kafkas. Schülerinnen und
Schüler ziehen ihn bei der Interpretation von Texten des Autors oft auch unabhängig davon heran, ob dies im Vergleich zu anderen Deutungsansätzen
besonders ergiebig ist.( vgl.
Abraham 2021, S.136)
Dabei kann man der irrigen Annahme aufsitzen, dass sich der Horizont
des Autors im Entstehungskontext des Textes tatsächlich in einer
Weise rekonstruieren lässt, dass der von ihm in den Text
eingeschriebene Sinn zweifelsfrei sichtbar wird.
Der Eindruck, den sie von diesem, als
mehr oder weniger rein autobiografisch gelesenen Text Kafkas gewonnen haben, ist offenbar so groß,
dass die vorschnelle Anwendung dieses Wissens auf alle möglichen
Texte des Autors zu "biographistische(n)
Verkürzungen" (Nickel-Bacon 2014,
S.95) führt, die vielleicht nicht unbedingt "falsch", aber doch so sehr
vereinfachend sind, dass sie dem literarischen Text
nicht gerecht werden. (vgl.
ebd.)
Dass Schülerinnen und
Schüler zu solchen biografistischen Verkürzungen tendieren, dürfte auch damit
zusammenhängen, dass die damit verbundenen lebensweltlichen Bezüge ihnen
vertrauter erscheinen als die abstrakten Deutungsrahmen anderer Ansätze. Der
biografische Bezugsrahmen macht in ihren Augen literarische Texte
lebendiger, weil sie "erkennen, dass hinter dem Werk ein Mensch mit seinem
Engagement, seinen Leidenserfahrungen und seinen Sehnsüchten steht." (Spinner
32019, S.239f.)
Grundsätzlich ist
der biografische Zugang aber sehr nahe liegend. Das liegt nach
Engel (2010, S.419) vor allem an zwei Gründen.
Zum einen kann man
das nicht immer einfache Verstehen eines literarischen Textes
dadurch in gewisser Hinsicht umgehen, in dem es "durch die
lebensweltlich viel vertrautere Operation des Verstehens von
Menschen (ersetzt)". (ebd.)
Zum anderen hat
gerade Franz Kafka, u. a. auch im •
Brief an den Vater, selbst davon
gesprochen, dass sein Schreiben einen starken Bezug zu seiner Person
hatte: "Mein
Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen
konnte."
Schreibend entwirft Franz Kafka dabei in seinem Brief an den Vater also in
gewisser Hinsicht seine eigene "Poetik", von der Werner Sokel
(2006, S, 25) sagt, dass ihr zwei widerstrebende Intentionen
zugrundelägen: "Einerseits, so behauptet er [Kafka, d. Verf.], handelt all‘
sein Schreiben von seinem Vater. Schreiben ist ein armseliger Ersatz für die
fehlende Anwesenheit des Vaters, für die Verbundenheit mit ihm, die der
Vater seinem Sohn immer versagt hat. Im Schreiben, so legt es Kafka dar,
stimmt er die Klage an, die ihm an des Vaters Brust zu äußern untersagt ist.
Das Schreiben wird zum Ersatz des Lebens. […]"
Da Kafka aber an einer anderen Stelle des Briefs an den Vater, jedoch
das Gegenteil betone, indem er behaupte, dass sein Schreiben Flucht vor dem
Vater sei und ihm einen Raum schaffe, in dem er sich vor ihm geschützt und
vor ihm verborgen fühle, müsse man, so Sokel
(ebd.), in dieser Flucht "eben auch eine Art von Selbstbehauptung" sehen,
da sie versuche, "das Selbst aus der Reichweite patriarchalischer Macht zu
retten. In dieser selbsterhaltenden Abwehr entdeckt das Selbst seine eigene
Macht, zwar völlig verschieden von der naturverliehenen Macht der
Vatergestalt, aber potenziell ihr überlegen wie das Geistige und Magische
der natürlichen Macht überlegen ist. In dieser Poetik der Flucht ist
Schreiben kein Trauern mehr um Fernbleiben und Verlust, sondern Basis
trotziger Selbsterhöhung und deren Bekräftigung."
Angesichts dieser
existenziellen Bedeutung, die das Schreiben für Franz Kafka gehabt
hat, ist, nach Ansicht von
Engel (2010,
S.419), "eine biographische Deutung fast immer möglich - und (führt)
fast immer zu durchaus einleuchtenden und nachvollziehbaren
Ergebnissen. Allerdings hätten Kritiker auch immer wieder darauf
hingewiesen, dass dafür vor allem Selbstzeugnisse herangezogen
würden, die ja nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprächen. Das
gelte vor allem für "Kafkas überzogen negatives Vaterbild" (ebd.)
Zudem werde einer
biografischen Deutung immer wieder entgegengehalten, dass sie die
Literarizität des Werkes ignoriere. So könnten die
Verständnisschwierigkeiten, die Kafkas Texte seinen Leserinnen und
Lesern immer wieder bereite, "biographisch erklärt werden: etwa als
Ausdruck einer schizoiden Persönlichkeitsstruktur, die sich nicht
vollständig preisgeben will und/oder als Insistieren auf der
Inkommensurabilität der eigenen Individualität" (ebd.,
S.420). So könnten die Verständnisschwierigkeiten einfach
weg-erklärt werden.
Im Übrigen erzähle
Kafka, so wendeten die Kritiker des biografischen Ansatzes weiter
ein, "eben keine individuellen Lebensgeschichten", sondern entwerfe
!modellhaft verallgemeinerte Konstellationen."
Dennoch hält
Engel (2010,
S.420) in seinem Fazit fest, dass die biografische Interpretation
von Kafkas Texten "nicht ohne Erkenntniswert" sei: "Für eine
hermeneutisch-historische Deutung kann sie oft durchaus die Funktion
einer Orientierungshilfe haben: Wie ein Wegweiser gibt sie die
Deutungsrichtung vor, die man nur verallgemeinern muss, um zu einer
akzeptablen Interpretation zu kommen."
Aus diesem Grunde
tut wohl die Literaturdidaktik auch gut daran, wenn sie schon
autobiografische Texte wie •
Franz Kafkas •
Brief an den Vater im Literaturunterricht
einbezieht, ihre Warnungen vor • "reduziertem Verstehen"
(Spinner
2022a, S. 176) durch das biografische Wissen und vor biografistischen
Verkürzungen mit der gebotenen Zurückhaltung formulieren und/oder
Wege aufzeigen, wie der biografische Ansatz von den Schülerinnen und
Schülern so reflektiert werden kann, dass er als einer der möglichen
Zugänge zu den Texten Franz Kafkas sein kann, aber deshalb doch
nicht immer der "Königweg" (Engel
2010, S.419) sein muss. "Ergiebig"
für Schülerinnen und Schüler ist er allerdings bei ihrem Versuch,
• strukturelle Fremdheitserfahrungen zu überwinden, allemal.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.09.2024