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Brief an den Vater

Didaktische und methodische Aspekte

Franz Kafka (1883-1924)

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur
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Der • Brief an den Vater ist ein von • Franz Kafka (1883-1924) im November 1919 im Alter von 32 Jahren verfasster Brief an seinen Vater »Hermann Kafka (1852-1931). Der Text wird in der Schule meistens gelesen, um ihn als • Kontext bei der Interpretation von Franz Kafkas Werken mit dem • biografischen Ansatz zu nutzen. Dabei wird er in der Regel als ein • autobiografischer Text gelesen, der einen besonders hohen Authentizitätsanspruch erhebt.

Der Text stellt einen Text dar, in dem sich faktuales und fiktionales Erzählen so miteinander verbinden, und  "(überschreitet) offenkundig die Grenzen, in denen sich die verschiedenen Schulen der Kafka-Forschung eingerichtet haben." (Weidner 2010, S.294)

Im schulischen Literaturunterricht fungiert der Brief an den Vater in der Regel als eine Art Schlüsseltext zu einem vertiefteren Verständnis der Werke Franz Kafkas. Schülerinnen und Schüler ziehen ihn bei der Interpretation von Texten des Autors oft auch unabhängig davon heran, ob dies im Vergleich zu anderen Deutungsansätzen besonders ergiebig ist.( vgl. Abraham 2021, S.136) Dabei kann man der irrigen Annahme aufsitzen, dass sich der Horizont des Autors im Entstehungskontext des Textes tatsächlich in einer Weise rekonstruieren lässt, dass der von ihm in den Text eingeschriebene Sinn zweifelsfrei sichtbar wird.

Der Eindruck, den sie von diesem, als mehr oder weniger rein autobiografisch gelesenen Text Kafkas gewonnen haben, ist offenbar so groß, dass die vorschnelle Anwendung dieses Wissens auf alle möglichen Texte des Autors zu "biographistische(n) Verkürzungen" (Nickel-Bacon 2014, S.95) führt, die vielleicht nicht unbedingt "falsch", aber doch so sehr vereinfachend sind, dass sie dem literarischen Text nicht gerecht werden. (vgl. ebd.)

Dass Schülerinnen und Schüler zu solchen biografistischen Verkürzungen tendieren, dürfte auch damit zusammenhängen, dass die damit verbundenen lebensweltlichen Bezüge ihnen vertrauter erscheinen als die abstrakten Deutungsrahmen anderer Ansätze. Der biografische Bezugsrahmen macht in ihren Augen  literarische Texte lebendiger, weil sie "erkennen, dass hinter dem Werk ein Mensch mit seinem Engagement, seinen Leidenserfahrungen und seinen Sehnsüchten steht." (Spinner 32019, S.239f.)

Grundsätzlich ist der biografische Zugang aber sehr nahe liegend. Das liegt nach Engel (2010, S.419) vor allem an zwei Gründen.

Zum einen kann man das nicht immer einfache Verstehen eines literarischen Textes dadurch in gewisser Hinsicht umgehen, in dem es "durch die lebensweltlich viel vertrautere Operation des Verstehens von Menschen (ersetzt)". (ebd.)

Zum anderen hat gerade Franz Kafka, u. a. auch im • Brief an den Vater, selbst davon gesprochen, dass sein Schreiben einen starken Bezug zu seiner Person hatte: "Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte."

Schreibend entwirft Franz Kafka dabei in seinem Brief an den Vater also in gewisser Hinsicht seine eigene "Poetik", von der Werner Sokel (2006, S, 25) sagt, dass ihr zwei widerstrebende Intentionen zugrundelägen: "Einerseits, so behauptet er [Kafka, d. Verf.], handelt all‘ sein Schreiben von seinem Vater. Schreiben ist ein armseliger Ersatz für die fehlende Anwesenheit des Vaters, für die Verbundenheit mit ihm, die der Vater seinem Sohn immer versagt hat. Im Schreiben, so legt es Kafka dar, stimmt er die Klage an, die ihm an des Vaters Brust zu äußern untersagt ist. Das Schreiben wird zum Ersatz des Lebens. […]"
Da Kafka aber an einer anderen Stelle des Briefs an den Vater, jedoch das Gegenteil betone, indem er behaupte, dass sein Schreiben Flucht vor dem Vater sei und ihm einen Raum schaffe, in dem er sich vor ihm geschützt und vor ihm verborgen fühle, müsse man, so Sokel (ebd.), in dieser Flucht "eben auch eine Art von Selbstbehauptung" sehen, da sie versuche, "das Selbst aus der Reichweite patriarchalischer Macht zu retten. In dieser selbsterhaltenden Abwehr entdeckt das Selbst seine eigene Macht, zwar völlig verschieden von der naturverliehenen Macht der Vatergestalt, aber potenziell ihr überlegen wie das Geistige und Magische der natürlichen Macht überlegen ist. In dieser Poetik der Flucht ist Schreiben kein Trauern mehr um Fernbleiben und Verlust, sondern Basis trotziger Selbsterhöhung und deren Bekräftigung."

Angesichts dieser existenziellen Bedeutung, die das Schreiben für Franz Kafka gehabt hat, ist, nach Ansicht von Engel (2010, S.419), "eine biographische Deutung fast immer möglich - und (führt) fast immer zu durchaus einleuchtenden und nachvollziehbaren Ergebnissen. Allerdings hätten Kritiker auch immer wieder darauf hingewiesen, dass dafür vor allem Selbstzeugnisse herangezogen würden, die ja nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprächen. Das gelte vor allem für "Kafkas überzogen negatives Vaterbild" (ebd.)

Zudem werde einer biografischen Deutung immer wieder entgegengehalten, dass sie die Literarizität des Werkes ignoriere. So könnten die Verständnisschwierigkeiten, die Kafkas Texte seinen Leserinnen und Lesern immer wieder bereite, "biographisch erklärt werden: etwa als Ausdruck einer schizoiden Persönlichkeitsstruktur, die sich nicht vollständig preisgeben will und/oder als Insistieren auf der Inkommensurabilität der eigenen Individualität" (ebd., S.420). So könnten die Verständnisschwierigkeiten einfach weg-erklärt werden.

Im Übrigen erzähle Kafka, so wendeten die Kritiker des biografischen Ansatzes weiter ein, "eben keine individuellen Lebensgeschichten", sondern entwerfe !modellhaft verallgemeinerte Konstellationen."

Dennoch hält Engel (2010, S.420) in seinem Fazit fest, dass die biografische Interpretation von Kafkas Texten "nicht ohne Erkenntniswert" sei: "Für eine hermeneutisch-historische Deutung kann sie oft durchaus die Funktion einer Orientierungshilfe haben: Wie ein Wegweiser gibt sie die Deutungsrichtung vor, die man nur verallgemeinern muss, um zu einer akzeptablen Interpretation zu kommen."

Aus diesem Grunde tut wohl die Literaturdidaktik auch gut daran, wenn sie schon autobiografische Texte wie • Franz Kafkas Brief an den Vater im Literaturunterricht einbezieht, ihre Warnungen vor • "reduziertem Verstehen" (Spinner 2022a, S. 176) durch das biografische Wissen und vor biografistischen Verkürzungen mit der gebotenen Zurückhaltung formulieren und/oder Wege aufzeigen, wie der biografische Ansatz von den Schülerinnen und Schülern so reflektiert werden kann, dass er als einer der möglichen Zugänge zu den Texten Franz Kafkas sein kann, aber deshalb doch nicht immer der "Königweg" (Engel 2010, S.419) sein muss. "Ergiebig" für Schülerinnen und Schüler ist er allerdings bei ihrem Versuch, • strukturelle Fremdheitserfahrungen zu überwinden, allemal.

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 08.09.2024

 
 

 
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