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Aspekte der Erzähltextanalyse

Interpretationsansätze

Franz Kafka, Brief an den Vater

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur
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Franz Kafkas "Brief an den Vater" nimmt einen "Zwitterstatus" zwischen faktualem und fiktionalen Erzählen ein (Weidner 2010, S.294), was womöglich der Grund dafür ist, dass er, auch wenn er oft als "Schlüsseltext" verstanden wird, oft lediglich als eine Art Informationsquelle über Kafkas Sicht auf seinen Vater und seine familiären Verhältnisse genutzt wird.

Im Literaturunterricht wird der Text meistens gelesen, um ihn als • Kontext bei der Interpretation von Franz Kafkas Werken mit dem • biografischen Ansatz zu nutzen. Dabei wird er in der Regel als ein • autobiografischer Text gelesen, der einen besonders hohen Authentizitätsanspruch erhebt.

Die literarischen, sozialgeschichtlichen und dekonstruktiven Interpretationen (vgl. Weidner 2010, S.295f.) lassen wir hier außen vor, da sie wohl in der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung Relevanz beanspruchen können, aber aufgrund der Komplexität der heranzuziehenden Kontexte wohl kaum im Literaturunterricht Bedeutung gewinnen können.

Aus diesem Grunde beschränken wir uns an dieser Stelle auf biografische und psychoanalytische Deutungen.

Biografische Interpretationen

Interpretinnen und Interpreten, die Kafkas Brief an den Vater vor allem biografisch deuten, räumen zwar immer wieder ein, dass sein Autor die Beziehung zu seinem Vater in mancherlei Hinsicht verzerrt, nehmen ihn aber doch als autobiografisches Dokument wahr, aus dem sich wichtige Informationen über Franz Kafkas Kindheit und Jugend entnehmen lassen.

So verständlich diese Sicht auf den Brief auch ist, übersieht sie doch, dass, wie schon ihr Herausgeber »Max Brod (1884-1968) angemerkt hat, dass darin auch "unbewiesene Voraussetzungen (...) mit unter(laufen) und (...) mit den Fakten koordiniert (werden), aus scheinbarganz geringfügigen Aperҫus wird ein Bau getürmt, dessen Komplikation gar nicht zu überblicken ist, ja der sich zum Schluß nachdrücklich um die eigene Achse dreht, sich selbst widerlegt und dennoch aufrechterhalten bleibt." (Mac Brod, zit. n. Weidner 2010, S.294).

Das in dem Brief enthaltene Vaterbild mit dem typischen "Fond" der Familie ("Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen" ebenso wie "Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit") sollte man jedoch, wie Peter-Andrè Alt (2008, S.24f.) betont, "mit Vorsicht betrachten, dient sie [die Typologie, der Verf.] vor allem dazu, ihr das Selbstporträt des schwachen, kränkelnden, ängstlichen, wortarmen Kindes entgegenzusetzen. Insofern erfüllt sie einen literarischen Zweck, der den Prinzipien der Imagination gehorcht: die Figur des vitalen, wirtschaftlich erfolgreichen Vaters wird entworfen, damit das Ich, das den Namen »Franz Kafka« trägt, über den Mechanismus der Abgrenzung ein eigenes Identitätsprofil gewinnen kann." Dabei stilisiere er, wie Sokel anmerkt, seine familiären Machtverhältnisse zu einem symbolischen Ordnungsgefüge, auf die all Kämpfe, die in seinem Gesamtwerk enthalten sind, in letzter Instanz zurückverweisen. Und so wird die Vaterfigur im späteren Werk von Franz Kafka  "erweitert und verallgemeinert […] zu patriarchalischer Autorität überhaupt und schließlich kollektivisiert als Familie, Gemeinschaft, Volk, biologische Art und Gattung und letzten Endes als prokreatives Leben, als Natur, als physische Wirklichkeit“ (Sokel 2006, S.26)

In jedem Fall ist es nach heutiger Sicht nicht mehr so ohne Weiteres möglich, den Vater im Brief "vorbehaltlos mit dem wirklichen Hermann Kafka und seiner vermeintlichen Unmenschlichkeit [zu] identifizieren" (Weidner 2010, S.297).

Psychoanalytische Interpretationen

In gewisser Hinsicht sind psychoanalytische Interpretationen "nichts anderes als eine Fortsetzung der biographischen Deutung mit anderen Mitteln, also nicht mit Hilfe der Alltagspsychologie, sondern mit der des Systems einer psychoanalytischen Schule" (Engel 2010, S.420). In der Regel sind dies die Schulen, die in der Tradition »Sigmund Freuds (1856-1939) stehen, manchmal auch die von »C. G. Jung (1875-1961) oder die von »Jaques Lacan (1901-1981.

Für die Freudianer steht dabei die Vaterfigur im Mittelpunkt und der als • Ödipuskomplex beschriebene Vater-Sohn-Konflikt, für den auch die Thematisierung der Vaterfigur im Brief stehen kann. Dadurch dass dieser Ansatz heutzutage zu einem Allgemeinplatz von Freuds Theorie verallgemeinert worden sei, sei er quasi omipräsent geworden. (ebd.)

Auch wenn das Konzept des Ödipus-Konflikts, wie manch anderes in Freuds Theorie, mittlerweile umstritten ist, "da es in einer Zeit entstand, für die eine Tabuisierung der Sexualität charakteristisch war" (Grosses Wörterbuch Psychologie 2005, S.246), genießt die Theorie vom Ödipus-Konflikt und dem Ödipus-Komplex bis heute eine große Verbreitung.

In der psychosozialen Entwicklung durchläuft ein Kind nach »Sigmund Freud (1856 -1939) auch die phallische psychosexuelle Phase (ca. zwischen dem 3. bis 5. Lebensjahr, in der sich die Triebenergie (Libido) erstmals auf soziale Objekte bezieht und mit sozialen Beziehungen verquickt wird. (vgl. Fend 32003, S.82)

Freud nahm an, "dass Jungen in der phallischen Phase die genitale Stimulierung suchen. Unbewusst richten sie ihre sexuellen Wünsche auf die Mutter und entwickeln Eifersucht und Hass auf den Vater, den sie als Rivalen betrachten. Mit solchen Gefühlen entwickeln Jungen vermutlich Schuldgefühle und eine schleichende Angst vor Bestrafung, vielleicht die Kastration durch den Vater. Diese Ansammlung von Gefühlen nannte Freud Ödipuskomplex". (Myers 2005, S.570)

Auf den Brief bezogen hat man bei psychoanalytischen Deutungen aus dem Brief "die Geschichte eine offensichtlich neurotischen Dichters" (Weidner 2010, S.294) biografisch zu rekonstruieren versucht (z. B. Rattner 1964) Und auch Margarete Nietscherlich-Nielsen (1977) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und fokussiert ihre Darstellung weniger auf den dominanten Vater, sondern auf das neurotische Vaterbild von Franz Kafka, das auf einer narzisstischen Kränkung des Sohn beruhe, die durch die ambivalente und depressive Mutter herbeigeführt worden sei. (vgl. Weidner 2010, S.294

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 08.09.2024

 
 

 
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