•
Franz Kafkas • "Brief
an den Vater" ist ein komplexes und vielschichtiges Werk, das sich
nicht einfach in klare Abschnitte unterteilen lässt. Dennoch lassen
sich einige zentrale Themen und inhaltliche Schwerpunkte
identifizieren, die den Brief strukturieren. Der Brief lässt sich
grob in vier größere Abschnitte einteilen.
-
Kafka beginnt mit der Erklärung, warum er diesen Brief
schreibt. Er knüpft dabei •
an
ein Gespräch an, das Vater und Sohn unlängst geführt haben.
("Liebster Vater,
Du hast mich letzthin einmal gefragt,
warum ich
behaupte, ich hätte Furcht vor Dir.") Da er seinerzeit nichts
darauf hätte antworten können, wolle er es jetzt schriftlich
tun, auch wenn dies " sehr unvollständig" sein werde, weil
ihn "auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen" behinderten
und "die Größe des Stoffs" über seine Gedächtnis und
seinen Verstand weit hinausgehe.
Im Anschluss daran ruft er dem
Vater als dem Adressaten die Vorwürfe in Erinnerung, die er von
ihm
immer wieder gemacht bekommen habe und betont, dass sein
Blick auf "die
Sache" alles immer sehr vereinfacht habe.
So habe er ihm unter anderem unter anderem vorgehalten, dass er
sein ganzes Leben nur gearbeitet und sich für seinen Sohn
geopfert habe, dafür aber von Franz außer "Kälte, Fremdheit,
Undankbarkeit" rein gar nichts zurückbekommen habe.
Dabei habe er immer
in seinem Sohn den
einzig
Schuldigen für die beiderseitige Entfremdung gesehen und ihn
dies auf vielfältige Art und Weise spüren lassen. Aber auch
Franz sieht sich "ebenso
gänzlich schuldlos" und erhofft, dass auch sein Vater
anerkennt, "dass zwischen uns etwas nicht in Ordnung ist und
dass Du es mitverursacht hast, aber ohne Schuld." Allerdings
hat er wenig Hoffnung darauf, mit seinen Ausführungen ganz
durchdringen zu können und eine grundlegende Veränderung ihres
getrübten Verhältnisses herbeiführen zu können. Wenn er aber
auch seine Anteile an der Entfremdung sehen könnte, glaubt Franz
doch, dass zwischen beiden "eine
Art Friede" herrschen könnte, der zwar "kein Aufhören, aber
doch ein Mildern" der "unaufhörlichen Vorwürfe" bringen könnte.
-
In der Folge
wird im ersten von zwei Hauptteilen des Textes die Kindheit und
Jugend des Sohnes erzählt.
Dabei
verdeutlicht Franz, welche Auswirkungen die Ausübung der
väterlichen Autorität in der Familie auf sein Leben hatte. Dabei
werden seine eigenen Charakterzüge, die er auf seine mütterliche
Familie zurückführt "(ein Löwy mit einem gewissen Kafkaschen Fond")
den väterlichen gegenübergestellt, die "durch
den Kafkaschen Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen"
gekennzeichnet sei.
Kafka schildert
an etlichen Beispielen, mit welchen drakonischen Maßnahmen der
Vater seine Erziehungsziele zu verwirklichen suchte. Dabei sind
es
keine körperlichen Züchtigungen, zu denen der Vater offenbar
nur in wenigen Ausnahmefällen greift, sondern die anhaltende
psychische Demütigung, die Franz im Nachhinein für seine eigene
Entwicklung so prägend ansieht. Meistens erfolgte die
Herabsetzungen, die der Sohn beklagt, durch sprachliche und
körpersprachliche Mittel, die der Vater gegenüber seinem Sohn
offenbar mit ungeheurer Wirkung einsetzte: "Schimpfen,
Drohen, Ironie, böses Lachen und - merkwürdigerweise -
Selbstbeklagung". Zu von Franz Kafka aus frühester Kindheit
stammenden Erinnerungen zählt er das so genannte •"Pawlatsche-Erlebnis",
das eine traumatisierende Wirkung auf ihn gehabt habe und das "Gefühl der Nichtigkeit"
ihm gegenüber erzeugt habe, das er sein ganzes Leben nicht mehr
loswerden konnte.
-
Im zweiten
Hauptteil bringt Franz zur Sprache, welche Auswirkungen die
Erziehung in der von dem männlichen Patriarchen Herrmann Kafka
dominierten Familie auf ihn, aber auch auf seine Geschwister
gehabt haben. Zugleich thematisiert er die verschiedenen
Versuche, mit denen sich Franz den verhängnisvollen Fängen der
väterlichen Übermacht zu entziehen versucht hat.
Zu den
Schwierigkeiten, die sich für ihn daraus im späteren Leben
ergeben, gehören vor allem Schwierigkeiten, Beziehungen zu
anderen Menschen aufzubauen und zu pflegen, sein ambivalentes
Verhältnis zum Judentum, seine Angst vor Ehe und Familie und
Auswirkungen auf sein Schreiben.
Das
Judentum, das er nur in der Form kennen gelernt habe, wie
der Vater es praktizierte, habe für
ihn keinen Ausweg dargestellt. zumal es immer nur um die
Vorstellungen ging, die der Vater vom Judentum hatte ("Es
war doch Judentum von Deinem Judentum"). Zudem habe er, als
Franz sich später einmal mehr für das Judentum interessiert
habe, sich gegen sein "neue(s)
Judentum" mit seiner üblichen Anmaßung hergezogen, was das
Judentum auch für den Sohn wenig attraktiv gemacht habe. ("dass
Du unbewusst die Schwäche Deines Judentums und meiner jüdischen
Erziehung anerkanntest, auf keine Weise daran erinnert werden
wolltest und auf alle Erinnerungen mit offenem Hasse
antwortetest.")
Auch bei seiner
Berufswahl
habe er, auch wenn es den Anschein haben sollte, als sei es
seine eigene freie Entscheidung, letzten Endes keine freie Wahl
gehabt. ("Kleine gegenteilige Versuche der
Eitelkeit, der unsinnigen Hoffnung, wie vierzehntägiges Chemiestudium, halbjähriges
Deutschstudium, verstärkten nur jene Grundüberzeugung. Ich studierte also Jus.")
Nur im
Schreiben habe er sich einen Raum für "kleine
Selbständigkeitsversuche, Fluchtversuche mit allerkleinstem
Erfolg" geschaffen, in dem er sich von der Übermacht des
Vaters dadurch befreien konnte, dass es eigentlich stets um ihn
gegangen sei. Mit dem Schreiben sei er tatsächlich ein Stück
selbständig ihm weggekommen, "wenn es auch ein wenig an den Wurm erinnerte, der, hinten von einem Fuß
niedergetreten, sich mit dem Vorderteil losreißt und zur Seite schleppt. Einigermaßen in
Sicherheit war ich, es gab ein Aufatmen; die Abneigung, die Du natürlich auch gleich
gegen mein Schreiben hattest, war mir hier ausnahmsweise willkommen."
Seine
gescheiterten Versuche zu heiraten, ließen sich vor allem darauf
zurückführen, dass das Leitbild von Ehe und Familie von der
Rolle bestimmt blieb, die sein Vater ihm in der Ehe mit seiner
Mutter vorlebte. So sei für ihn
das wichtigste Ehehindernis, dass er sich dem vom Vater
vorgelebten oder bloß repräsentiertem Modell des Ehemanns und
Familienvaters nicht gewachsen sehe. Der Grund dafür sei, dass er die Überzeugung
nie habe loswerden können, "dass zur Familienerhaltung und gar zu ihrer Führung alles das notwendig
gehört, was ich an Dir erkannt habe" und von dem er
"vergleichsweise fast nichts oder nur sehr wenig" habe. Dazu
gehöre eben alles, wofür sein Vater stehe, "und zwar alles
zusammen, Gutes und Schlechtes, so wie es organisch in Dir
vereinigt ist, also Stärke und Verhöhnung des anderen,
Gesundheit und eine gewisse Maßlosigkeit, Redebegabung und
Unzulänglichkeit, Selbstvertrauen und Unzufriedenheit mit jedem
anderen, Weltüberlegenheit und Tyrannei, Menschenkenntnis und
Misstrauen gegenüber den meisten, dann auch Vorzüge ohne jeden
Nachteil wie Fleiß, Ausdauer, Geistesgegenwart,
Unerschrockenheit." Und mit diesem Bild im Kopf, so mündet der
Gedankengang, "wollte ich zu heiraten wagen, während ich doch
sah, dass selbst Du in der Ehe schwer zu kämpfen hattest und
gegenüber den Kindern sogar versagtest? "
-
Am Ende kommt
der Vater noch einmal mit einem längeren fingierten Gegenrede zu
der Darstellung zu Wort, die sein Sohn im Vorherigen gegeben
hat.
Dabei setzt er
sich gegen dagegen zur Wehr, dass ihn sein Sohn "»übergescheit«
und »überzärtlich«" nur "scheinbar"
"von
jeder Schuld freisprechen" wolle und ihn als "Angreifer"
hinstelle, während alles, was sein Sohn selbst getan habe, "nur
Selbstwehr" gewesen sei.
Während er in
den Auseinsandersetzungen mit seinem Sohn wenigstens einen "ritterlichen
Kampf" mit offenem Visier führe, wo jeder auf sich allein
gestellt. sich mit dem anderen messen könne, führe Franz wie ein
Söldner den "Kampf
des Ungeziefers, welches nicht nur sticht, sondern gleich auch
zu seiner Lebenserhaltung das Blut saugt." Die Strategie,
der sein Sohn in der Auseinandersetzung mit ihm folge, ziele
darauf, die eigene "Lebensuntüchtigkeit"
dadurch zu kaschieren, dass er ihm als Vater vorwirft, er habe
ihn erst lebensuntauglich gemacht.
Dementsprechend
sei auch alles, was sein Sohn ihm vorwerfe, ein Beweis dafür,
dass diese richtig gewesen seien. Der Brief und sein gegen ihn
gerichteter Inhalt führe ihm aber nun vor Augen, dass er ihm
einen weiteren berechtigten Vorwurf machen könne, den "Vorwurf
der Unaufrichtigkeit, der Liebedienerei, des Schmarotzertums",
denn, so wie er es sehe, "schmarotzest
Du an mir auch noch mit diesem Brief als solchem."
Franz selbst
lässt die fingierte Gegenrede seines Vaters jedoch nicht so
stehen, sondern räumt ein, dass die Argumentation des Vaters
darin, sich (natürlich) auch wieder gegen den Vater selbst
sprechen könne. Dennoch sei die Kritik, die darin zum Ausdruck
komme, nicht in allem haltlos und trage sogar
neue Aspekte zur Charakterisierung ihres beiderseitigen
Verhältnisses bei. In gewisser Hinsicht sehe er in den
fingierten Ausführungen des Vaters auch eine "Korrektur",
auf die er zwar im Detail nicht eingehen wolle, von der er aber
dennoch annimmt, dass sie "doch
etwas der Wahrheit so sehr Angenähertes erreicht, dass es uns
beide ein wenig beruhigen und Leben und Sterben leichter machen
kann."
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.09.2024
|