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Die familiäre Sozialisation
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Kindheit und Elternhaus
• Der Vater: Hermann Kafka
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Die Mutter: Julie Kafka, geb. Löwy
Liebster Vater,
Du hast mich letzthin einmal gefragt,
warum ich
behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wusste Dir,
wie gewöhnlich, nichts zu antworten,
zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung
dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als dass ich sie im Reden halbwegs
zusammenhalten könnte.
Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird
es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen
mich Dir gegenüber behindern und
weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und
meinen Verstand weit hinausgeht.
Dir hat sich die Sache immer sehr einfach dargestellt, wenigstens
soweit Du vor mir und, ohne Auswahl, vor vielen andern davon gesprochen hast.
Es schien
Dir etwa so zu sein:
Du hast Dein ganzes Leben lang schwer gearbeitet, alles für Deine
Kinder, vor allem für mich geopfert,
ich habe infolgedessen »in Saus und Braus« gelebt,
habe vollständige Freiheit gehabt zu lernen was ich wollte, habe keinen Anlass zu
Nahrungssorgen, also zu Sorgen überhaupt gehabt;
Du hast dafür keine Dankbarkeit
verlangt, Du kennst »die Dankbarkeit der Kinder«, aber doch wenigstens irgendein
Entgegenkommen, Zeichen eines Mitgefühls;
statt dessen habe ich mich seit jeher vor Dir
verkrochen, in mein Zimmer, zu Büchern, zu verrückten Freunden, zu überspannten Ideen;
offen gesprochen habe ich mit Dir niemals,
in den Tempel bin ich nicht zu Dir gekommen, in Franzensbad habe ich Dich nie besucht,
auch sonst nie Familiensinn gehabt,
um das
Geschäft und Deine sonstigen Angelegenheiten habe ich mich nicht gekümmert,
die Fabrik
habe ich Dir aufgehalst und Dich dann verlassen,
Ottla habe ich in ihrem Eigensinn
unterstützt
und während ich für Dich keinen Finger rühre (nicht einmal eine
Theaterkarte bringe ich Dir), tue ich für Freunde alles. Faßt Du Dein Urteil über mich
zusammen, so ergibt sich, dass Du mir zwar etwas geradezu Unanständiges oder Böses nicht
vorwirfst (mit Ausnahme vielleicht meiner letzten Heiratsabsicht), aber Kälte, Fremdheit,
Undankbarkeit. Und zwar wirfst Du es mir so vor,
als wäre es meine Schuld, als hätte ich
etwa mit einer Steuerdrehung das Ganze anders einrichten können,
während Du nicht die
geringste Schuld daran hast, es wäre denn die,
dass Du zu gut zu mir gewesen bist.
Diese
Deine übliche Darstellung halte ich nur so weit für richtig,
dass auch ich glaube, Du seist gänzlich schuldlos an unserer Entfremdung.
Aber ebenso
gänzlich schuldlos bin auch ich. Könnte ich Dich dazu bringen, dass Du das anerkennst,
dann wäre - nicht etwa ein neues Leben möglich, dazu sind wir beide viel zu alt, aber
doch eine Art Friede, kein Aufhören, aber doch ein Mildern Deiner unaufhörlichen
Vorwürfe.
Irgendeine Ahnung dessen, was ich sagen will, hast Du
merkwürdigerweise.
So hast Du mir zum Beispiel vor kurzem gesagt: »ich habe Dich immer
gern gehabt, wenn ich auch äußerlich nicht so zu Dir war wie andere Väter zu sein
pflegen, eben deshalb weil ich mich nicht verstellen kann wie andere«. Nun habe ich,
Vater, im ganzen niemals an Deiner Güte mir gegenüber gezweifelt, aber
diese Bemerkung
halte ich für unrichtig. Du kannst Dich nicht verstellen, das ist richtig, aber nur aus
diesem Grunde behaupten wollen, dass die andern Väter sich verstellen, ist entweder
bloße, nicht weiter diskutierbare Rechthaberei oder aber - und das ist es meiner Meinung
nach wirklich - der verhüllte
Ausdruck dafür, dass zwischen uns etwas nicht in Ordnung
ist und dass Du es mitverursacht hast, aber ohne Schuld. Meinst Du das wirklich, dann sind
wir einig.
Ich sage ja natürlich nicht, dass ich das, was ich bin, nur durch
Deine Einwirkung geworden bin. Das wäre sehr übertrieben (und ich neige sogar zu dieser
Übertreibung). Es ist sehr leicht möglich, dass ich, selbst wenn ich ganz frei von
Deinem Einfluss aufgewachsen wäre, doch kein Mensch nach Deinem Herzen hätte werden
können. Ich wäre wahrscheinlich doch ein schwächlicher, ängstlicher, zögernder,
unruhiger Mensch geworden,
weder Robert Kafka noch Karl Hermann, aber doch ganz anders,
als ich wirklich bin, und wir hätten uns ausgezeichnet miteinander vertragen können.
Ich
wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst
(wenn auch schon zögernder) als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu
stark für mich, besonders da meine Brüder klein starben, die Schwestern erst lange
nachher kamen,
ich also den ersten Stoß ganz allein aushalten musste, dazu war ich viel
zu schwach.
Vergleich uns beide: ich, um es sehr abgekürzt auszudrücken,
ein Löwy mit einem gewissen Kafkaschen Fond, der aber eben nicht durch den
Kafkaschen
Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen in Bewegung gesetzt wird, sondern durch einen
Löwy'schen Stachel, der geheimer, scheuer, in anderer Richtung wirkt und oft überhaupt
aussetzt.
Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft,
Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart,
Menschenkenntnis, einer gewissen Großzügigkeit, natürlich auch mit allen zu diesen
Vorzügen gehörigen Fehlern und Schwächen, in welche Dich Dein Temperament und manchmal
Dein Jähzorn hineinhetzen. Nicht ganzer Kafka bist Du vielleicht in Deiner allgemeinen
Weltansicht, soweit ich Dich mit Onkel Philipp, Ludwig, Heinrich vergleichen kann. Das ist
merkwürdig, ich sehe hier auch nicht ganz klar.
Sie waren doch alle fröhlicher,
frischer, ungezwungener, leichtlebiger, weniger streng als Du. (Darin habe ich übrigens
viel von Dir geerbt und das Erbe viel zu gut verwaltet, ohne allerdings die nötigen
Gegengewichte in meinem Wesen zu haben, wie Du sie hast.) Doch hast auch andererseits Du
in dieser Hinsicht verschiedene Zeiten durchgemacht,
warst vielleicht fröhlicher, ehe
Dich Deine Kinder, besonders ich, enttäuschten und zu Hause bedrückten (kamen Fremde,
warst Du ja anders) und bist auch jetzt vielleicht wieder fröhlicher geworden, da Dir die
Enkel und der Schwiegersohn wieder etwas von jener Wärme geben, die Dir die Kinder, bis
auf Valli vielleicht, nicht geben konnten.
Jedenfalls waren wir so verschieden und in
dieser Verschiedenheit einander so gefährlich, dass, wenn man es hätte etwa im voraus
ausrechnen wollen, wie ich, das langsam sich entwickelnde Kind, und Du, der fertige Mann,
sich zueinander verhalten werden,
man hätte annehmen können, dass Du mich einfach niederstampfen wirst, dass nichts von mir übrigbleibt. Das ist nun nicht geschehen, das
Lebendige lässt sich nicht ausrechnen,
aber vielleicht ist Ärgeres geschehen. Wobei ich
Dich aber
immerfort bitte, nicht zu vergessen, dass ich niemals im entferntesten an eine
Schuld Deinerseits glaube. Du wirktest so auf mich, wie Du wirken musstest, nur sollst Du
aufhören, es für eine besondere Bosheit meinerseits zu halten, dass ich dieser Wirkung
erlegen bin. [...]
Franz
(Quelle: Franz Kafka, Brief an den Vater (1919/1970),
Frankfurt: Suhrkamp 1920, in
Projekt Gutenberg, hochgeladen von gerd.bouillon@t-online.de )
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Die Mutter: Julie Kafka, geb. Löwy
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.09.2024