Jens Ludwig, Steinschichten
Özay
hat einen Stein geworfen, sagte Thomas zu dem kleinen, ausgesprochen
freundlich dreinschauenden, dunkelhaarigen Mann mit schwarzen Bartstoppeln im
Gesicht, der ihn oben im dritten Stockwerk an der Türe zu seiner Wohnung
empfing, aus der, einem fröhlichen Gelächter von drinnen folgend, auch der
Geruch exotischer Gewürze herausdrang.
Als er vor einer knappen halben Stunde von seiner Kanzlei kommend den schwarzen Audi vor
der Garage des Reihenhauses abgestellt hatte, wurde er von Alexandra, seiner
Frau, schon erwartet. Kaum dass er den Kofferraum geschlossen, seine
Notebook-Tasche umgehängt und fünf Ordner, zwei rechts, drei links, unter
die Arme geklemmt hatte, war sie schon bei ihm und baute sich vor ihm auf.
Stell dir vor, was heute passiert ist!
Thomas fummelte den Autoschlüssel aus seiner Jackentasche und drückte auf
das Zeichen mit dem Schloss, das den Wagen mit Blinken und einem nervigen
Piepston abriegelte.
Das ist unglaublich, hörte er sie sagen, während er spürte, wie die
prallgefüllten Ordner, die er unter den linken Arm geklemmt hatte, etwas
verrutschten. Er musste das alles über Nacht noch durcharbeiten, alles hing
davon ab, ob er diesen Prozess gewinnen würde: Das Haus, das Boot, der Audi,
die Reise nach Australien, schlicht alles eben. Nur das nicht wieder, dachte
er, darüber hatten sie doch zuletzt gestern noch gestritten, wo das ganze
Geld denn bleibt und so, und es war schwer genug, sich danach wieder im Bett
zu versöhnen.
Was war denn schon wieder los?
Zu spät. Er wusste sofort, dass das genau drei Worte zu viel waren. Der
Tragegurt seiner Notebook-Tasche rutschte über die Schulter. Jetzt nur keine
falschen Bewegungen!
Alex, du weißt doch, schob er nach. Doch da hatte sie
schon auf dem Absatz kehrtgemacht und war die Stufen zur Haustüre
hinaufgestampft. So warte doch mal!
Zwei Schritte hinterher, schon rutschte das Notebook, das noch für einen
Moment durch seine geschickte Verlagerung des Körperschwerpunktes in die
entgegengesetzte Richtung am weiteren Absturz gehindert worden war,
ungebremst nach unten und krachte mit allem, was er zu dem Fall
aufgearbeitet und darauf gespeichert hatte, auf den Boden.
Verdammt noch mal, schrie er auf, so eine Scheiße, dann wurde die Tasche
unter den drei Ordnern regelrecht begraben, ehe die beiden anderen, wegen
der ruckartigen Bewegung zur Rettung der auf das Notebook herabfallenden, in
hohem Bogen davonflogen und irgendwo in den Büschen hängenblieben, die den
Aufgang zur Haustüre links und rechts säumten. Schon flatterten einige
Dokumente heraus und wurden von einem leichten Windzug im Vorgarten
verteilt.
Wenn sie jetzt noch die Türe zuschlägt, wie immer in solchen Fällen, dann …
Doch ehe das eigentlich Unvermeidliche eintrat, war sie schon wieder bei
ihm, sammelte, ohne ein Wort zu sagen, ein, was da im Garten herumlag.
Nun, was ist passiert, sagte er dann in einem ganz anderen Tonfall, mit dem
er ein ausdrückliches Dankeschön vermeiden konnte.
Özay, der Türkenjunge aus Sandras Klasse, hat heute Morgen in der Pause
einen Stein auf deine Tochter geworfen!
Auf oder nach?
Sie blickte ihn verständnislos an.
Hat er sie getroffen?
Sie zog die Lippen zusammen.
Also nicht?
Sie zuckte die Achseln.
Aber so können wir das nicht stehen lassen, sagte sie dann, als sie drei
Ordner übereinander stapelte, auf den Arm nahm und auf die Haustüre zuging.
Ich habe schon die Adresse besorgt. Sie stellte die Ordner ab, fingerte
einen kleinen Zettel aus ihrer Jeans und reichte ihn weiter. Özay Yildirim,
Rheinauen 137c stand darauf. Am besten du fährst gleich hin, Tom. Ich
versorge das hier.
Dann ließ sie ihn stehen und verschwand mit den wieder aufgenommenen Ordnern
im Hauseingang.
Wackerstein oder Kiesel, rief er noch hinterher.
Dann zögerte er eine Weile. Schließlich richtete er einen letzten Blick auf
die restlichen beiden Ordner und die Notebook-Tasche auf dem Boden.
Zehn Minuten später stand er vor der Klingelanlage des langgestreckten
Wohnblocks, fand den Namen und betätigte etwas unsicher den Klingelknopf.
(aus: Jens Ludwig, Geschichten kommen immer zurück.
Erzählungen, erstveröffentlicht Konstanz: teachSam, 2012)
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Beruht auf dem Werk unter http://www.teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_aut/jelu/jelu_txt_10.htm.