Jens Ludwig, Gegenverkehr
Als
die Haustüre hinter ihm ins Schloss fiel, konnte er endlich durchatmen.
Hallo Liebling, ich bin da! rief er mit dem typischen sehr lang gezogenen
Daaaaaa am Ende, welches sein Ankommen zwischen Überraschung und
Entschuldigung irgendwie in der Schwebe halten sollte. Hatte er doch allen
Grund dazu. Denn heute war es einfach länger gegangen als sonst, weiß der
Teufel warum genau. Feststand jedenfalls, dass er gut eine Dreiviertelstunde
später als sonst aus dem Büro nach Hause kam.
Wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, steht das Abendessen schon auf dem
Tisch. Es ist immer zwischen 17.45 und 18.00 Uhr, wenn nichts dazwischen
kommt.
Es durfte einfach nichts dazwischen kommen! Eigentlich.
Um 18.00 Uhr spätestens sitzt er mit seiner Frau Katja am Esstisch im Erker
der geräumigen 4-Zimmer-Wohnung in bester Wohnlage, die sie sich leisten
können, weil Katja jetzt, nachdem Laetitia das Abitur hat, wieder arbeiten
geht. Morgens geht sie schon eine Stunde, bevor er aufstehen muss, aus dem
Haus, kommt dafür aber auch drei Stunden früher heim. Ich kann eh nicht
länger schlafen, sagt sie, wenn man sie fragt.
Ein Blick auf die Wanduhr, im Vorbeigehen bloß, ja, ja, es war später als
sonst, nur noch eine Viertelstunde bis sieben.
Hallo Schatz –Küsschen - war was? fragte sie. Ach, weißt du, Herr Steiner
kam noch vorbei. Der Steiner, ach was? HIER NOCH EINE VERKEHRSDURCHSAGE Ja,
war ganz schön deprimiert, weißt du. SCHWERER VERKEHRSUNFALL AUF DER L 21
ZWISCHEN LANGENRAIN UND KONSTANZ.
Für einen Moment horchte er auf. Sag schon! Na ja, der ist jetzt geschieden,
murmelte er. BEIDE FAHRBAHNEN SIND GESPERRT. Schwein gehabt, dachte er. Das
wundert mich nicht, sagte Katja.
Seit er mit Anna, der Neuen in seiner Abteilung, ein Verhältnis hat, fährt
er jeden zweiten Donnerstagnachmittag im Monat mit ihr nach Hause. Ihr
Gleitzeitkonto gibt es her, dass sie immer zwei Stunden Zeit füreinander
haben. Und immer schafft er es danach, von Langenrain wieder rechtzeitig
nach Konstanz zu fahren. Es ist eine richtige Nebenstrecke. Nie wirkt er
abgehetzt, nie besonders zufrieden, nie irgendwie verdächtig, wenn er dann
kurz vor sechs sein Auto in der Garage abstellt.
Dann redeten sie eine Weile nichts.
Wo hast du den KNUD eigentlich abgestellt, will er schließlich wissen. Den
hat sich Laetitia ausgeliehen. Ach so. Sie wollte nach, ach ich weiß nicht
mehr, du kennst sie doch. Jaja, lächelte er.
DAS WETTER. VORSICHT AUTOFAHRER… Er stellte das Radio aus.
Im Vorbeifahren hatte er, nein, genau konnte er es im Nebel nicht sehen,
wirklich nicht, so etwas wie ein Auto gesehen, das von der Straße abgekommen
und an einem Baum gelandet war, aber dunkel war es außerdem, und was hätte
er, selbst wenn sich seine Sinne nicht getäuscht hatten, in seiner Situation
tun sollen? Ja, er war spät dran, im Grunde viel zu spät dran, wollte keine
bohrenden Nachfragen. Zum Beispiel: Wie hätte er ihr den wahrscheinlich
blutverschmierten Anzug erklären sollen? Das auf seinem kurzen Nachhauseweg,
wo nie irgendetwas Schlimmes passierte? Spätestens morgen beim Frühstück
hätte sie es gemerkt: Steht gar nichts davon in der Zeitung, komisch, hörte
er sie schon sagen. Zudem: War da nicht ein anderer hinter ihm gewesen, der
hätte anhalten können?
Dann setzten sie sich vor den Fernseher und machten es sich gemütlich. Kann
ja mal vorkommen.
Mit dem heute-Journal läutete es an der Tür. Sind Sie der Halter des
Fahrzeugs KN-UD-1317? Bei Langenrain gab es einen schweren Verkehrsunfall.
Dürfen wir reinkommen?
(aus: Jens Ludwig, Geschichten kommen immer zurück.
Erzählungen, erstveröffentlicht Konstanz: teachSam, 2012)
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