Jens Ludwig, Casablanca
Schlag fünf schüttete die mit Elan aufgestoßene Schwungtüre erneut Licht in
das im Halbdunkel liegende, kleine Postamt an der Ringstraße. Trübgraue
Lichtstrahlen fächerten sich hinein und richteten ihren Spot auf das
schulterlange, goldblonde Haar, das durch den Türspalt hereinwehte. Die Tür
klackte zu.
Der Mann hinter dem Schalter blickte auf. Schwere fast, griffige Brüste
wippten auf ihn zu.
Feierabend! würgte er heraus, doch die Worthülse platzte. Tut mir wirklich
leid, Feierabend! setzte er hinterher, als sein Blick sich an die langen,
wohlgeformten Beine festaugte, die erst zwei Handbreit oberhalb der Knie
hinter dem nachlässigen Stoff eines Minirocks verschwanden.
Loßmann schluckte.
Was denn nun? murrte er jetzt der zierlichen Taille entgegen, die die runden
Hüften zum freien Bauchnabel hin abschloss. Fleischige Lippen öffneten sich
langsam und zeigten dahinter blendend weiße Zähne, der Mund formte ein
vielsagendes Lächeln.
Ich weiß, dass ich spät dran bin, hauchte sie ihn an.
Sie sind gut, brodelte er, während seine Beine leicht vibrierten. Geben sie
schon her!
Ein nackter Arm glitt über den Schaltertisch. Fast zärtelnd öffnete sich die
Hand wie eine Blüte, umspielte das Couvert und machte sich dann davon frei.
Loßmanns klobige Hand schwitzte, als er ihr entgegenstrich. Nur eine
Armlänge entfernt wurden seine Augen fündig, packten zu, Brustwarzen wie
reife Kirschen.
Loßmann pflückte zwei Marken.
Wieviel? fragen zwei sinnliche Lippen und kopulierten.
Einszwanzig, kniffen seine heraus.
Geld schepperte, der Poststempel donnerte herab, die Schwungtüre quietschte
hinter den langen Beinen hinterher und sperrte die Schwüle wieder ein.
Zwölf Jahre arbeitete er schon hinterm Schalter der Post, schweißtreibende
Jahre, besonders im Sommer. Dann waren die Früchte reif, und Loßmann
lechtzte nach reifen Kirschen. Jeden Morgen ging er in sein Amt, sein Wecker
war programmiert bis ins 21. Jahrhundert, unsterblich. Fast jeden Morgen
schlug er Alarm, dann stand Loßmann auf, urinierte auf der Toilette, zog ab,
drückte fünf Minuten nach halb sieben auf dem Rückweg den kleinen
Kippschalter am Wecker auf Aus.
Loßmann trat ins Freie und schaute zur Uhr. Siebzehn Uhr zwei. Autos
stauten, Busse ächzten heran und zahllose Menschen, die von überallher
heranquollen, strömten zu den Haltestellen.
Zu spät, verdammt! fluchte Loßmann, als er den Vierer-Bus von hinten
davonfahren sah. Seine Augen klemmten sich an die Rückfront des Busses, der
ihn wie immer nach Hause bringen sollte.
Loßmann saugte an seinen Lippen, während seine Aktentasche die Armbeuge
hinunterrutschte und, speckig und abgewetzt, an seinen Fingern hängenblieb.
Verdammte Hure! schimpfte der dem Bus hinterher, der vor seinen Augen in die
Nebenstraße einbog. Loßmanns Tasche plumpste herunter, ging dabei auf und
übergab sich. Er beugte sich hinunter, kramte eine Zigarette heraus, rauchte
ein paar Züge und bekam endlich wieder Luft. Dann kratzte er den
Tascheninhalt zusammen, überquerte die Straße und wartete an der Haltstelle
auf den nächsten Bus. Im Siebzehn-Uhr-Zwölfer fuhr er nach Hause.
Dort schleppte er sich die Holztreppe zu seiner Wohnung hinauf, streifte die
Risse an den Wänden im Flur, von denen der Putz brökelte.
Er wohnte zur Miete, zwei Zimmer mit Bad und Küche. Tasche in die Ecke,
Fenster auf, die Schwüle drängte herein, ihm war schlecht. Das Radio an:
Jeanny, quit livin' on dreams - Jeanny, life is not what it seems - Such a
lonely little girl in a cold, cold world -There's someone who needs you
Es ist kalt, wir müssen weg hier, komm
Dein Lippenstift ist verwischt
Du hast ihn gekauft und ich habe es gesehen
Zuviel rot auf deinen Lippen und du hast gesagt:
"Mach mich nicht an"
Aber du warst durchschaut, Augen sagen mehr als Worte
Du brauchst mich doch, hmh?
Alle wissen, daß wir zusammen sind ab heute
Jetzt hör ich sie! Sie kommen
Sie kommen, dich zu holen
Sie werden dich nicht finden
Niemand wird dich finden, du bist bei mir
Den Kopf unterm Wasserhahn im Bad und es ging wieder besser. Er setzte
sich aufs Klo, daneben ein Stapel zerlesener Playboy-Hefte andere Geschäfte.
Im Schlafzimmer schälte er sich aus seiner Dienstkleidung heraus. Das Hemd
landete auf dem Tischchen neben dem Fernsehgerät, das er sich als Zweitgerät
geleistet hatte. Immer wieder: Casablanca! darunter ein Konterfei von
Humphrey Bogart.
Loßmann wohnte möbliert. Über dem schwülstigen alten Ehebett seines
Vermieters hingen ein paar Bilder. Landpomeranzen, allerdings zugeknöpft bis
oben hin, aber sonst in Rubens'scher Fülle, wie das Bett selbst irgendwie
eingemottete Erinnerungen an längst verflossene Bettgeschichten seines
Vermieters. Das Bett selbst wie ein mittelalterliche Rammbock aus schwerem
Eichenholz, stummer Zeuge des Vorpillenzeitalters, drückte darin alles an
die Wand.
Dann legte sich Loßmann auf seine Couch, schaltete das Fernsehgerät ein,
wältzte sich und wühlte sich in den Schlaf. Im Halbschlaf hörte er die
Stimmen aus dem Apparat.
Nicht schon wieder der mit dem hochgekrempelten Mantelkragen! schimpfte er
sich wach, rappelte sich auf und würgte ihn am Gerät ab.
Dann ging er ins Schlafzimmer. Draußen entlud sich die Schwüle in Blitz und
Donner. Als er das Licht anknipste, zuckte das Licht, aber Loßmann blieb
cool. Erst jetzt schlüpfte er aus seiner blauen Diensthose, tauschte sie ein
gegen eine khakifarbene und ein dazu passendes Hemd. Dann besah er sich
Schrankspiegel und holte dann den grauleinenen Regenmantel aus dem Schrank,
ergriff schließlich auf dem Sideboard vor der Eingangstüre den Hut.
Eine Minute später fiel die Haustüre ins Schloss und Regen peitschte Loßmann
ins Gesicht. Er grinste, zog sich die Hutkrempe ins Gesicht und stellte den
Mantelkragen hoch.
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http://www.teachsam.de/deutsch/d_literatur/d_aut/jelu/jelu_txt_15.htm.