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Man ist gewöhnt, nur solche Stücke als unsittliche zu bezeichnen, in
welchen geschlechtliche Verhältnisse in einer Weise behandelt
werden, die dem öffentlichen Schamgefühl zuwider ist. In diesem
Sinne lässt sich gegen das Ibsen'sche Drama natürlich gar nichts
sagen. Gleichwohl muß ich
dasselbe als ein sittlicher Beziehung sehr
bedenkliches bezeichnen, ja, es erscheint mir viel bedenklicher als
die krassesten Ehebruchsdramen der französischen Schule. Hier werden
mit großem dichterischen Talente und großer Beredsamkeit Gefühle und
Gesinnungen ausgesprochen, die durchaus ungesund, und die, wie ich
fürchte, wie dazu gemacht sind, in das Fleisch und Blut ungesunder
weiblicher Organismen überzugehen und das Arsenal der »Verkannten«
um Prachtstücke ersten Ranges zu bereichern. Das Begriffsvermögen
der beschränktesten Person reicht gerade so weit, um die reizvolle
Rolle der Unverstandenen und Verkannten zu verstehen. Zu einer Nora
bringt jede phrasenhafte und oberflächliche Frau das nöthige Zeug
mit. Daß Helmer, der ja sonst so klug ist, auf die lächerliche
Verirrung Noras nichts zu erwidern hat, daß sie mit ihren
kindischen, thörichten, ungesunden Ideen den Sieg davonträgt und das
Schlachtfeld verläßt, nachdem sie den stärkeren Gegner zu Boden
geworfen hat, daß der Unsinn siegt und die Vernunft untergeht, - das
ist es, was ich nicht anders denn als unsittlich bezeichnen kann.
(aus: Paul Lindau: Nora, in: Die Gegenwart. Wochenschrift für
Literatur, Kunst und öffentliches Leben, Berlin: Stilke, Bd. 18, Nr.
48 (27.11.1880), S.348f.)
Abb.: Uraufführung
Kopenhagen 1879:
Peter Jerndorff (Doktor Rank), Betty
Hennings (Nora), Agnes Dehn (Christine Linde),
Emil Poulsen (Torvard Helmer)
Dieses Werk ([Aufführungskritik zu Ibsens "Nora" ] (1881), von
Paul Lindau), das durch Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
04.03.2024