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Die
▪
Dramenhandlung in
Henrik
Ibsens
Nora (Ein Puppenheim)
weist eine
▪
analytische Struktur
auf, "eine Technik, in der die im Auftakt präsentierte Situation im
weiteren Verlauf der szenischen Handlung sukzessive in ihren
Bedingungen beleuchtet wird" und "der Ausgang [...] somit
bereits vorgezeichnet [ist]." (Boehnisch
2012, S.137)
Zugleich ist es ein Kompositionsprinzip der
dramatischen Handlung bzw. ein "Konstruktionsschema [...], das sich überhaupt in
besonderem Maße der Struktur des geschlossenen Dramas anbietet." (Klotz
1969, S. 41)
In Ibsens »Nora« kommt in den zwei Tagen, die auf der Bühne
(plot) präsentiert werden, lediglich "die kritische Endphase eines
Handlungszusammenhangs von großer zeitlicher Erstreckung" (Pfister
1977, S.137) zur Darstellung. Das konflikthafte Ereignis,
das schließlich zur Katastrophe führt, liegt schon etwa 7-8 Jahre
zurück:
Nora begeht hinter dem Rücken ihres Mannes eine
Urkundenfälschung, um Geld für die Reise nach Italien, die allein
Rettung für Helmer verspricht, bei Krogstad leihen zu können. Nora
hat in den vergangenen Jahren durch Sparsamkeit und zusätzliche
Arbeiten für geringes Entgelt, von denen Helmer nichts weiß, ihre
Schulden bei Krogstad weitgehend beglichen. Als Helmer kurz vor
Beginn der Bühnenhandlung zum Direktor der Aktienbank ernannt wird
und Planungen über seine künftige Personalpolitik anstellt, der sein
ungeliebter "Duzfreund" Krogstad zum Opfer fallen soll, nimmt die
über lange Jahre für Nora mehr oder weniger problemlos verlaufende
Geschichte plötzlich eine andere Wende. Krogstad beginnt Nora zu
erpressen, um seine Weiterbeschäftigung bei der Aktienbank Helmers
erzwingen zu können.
Da Ibsen als Vertreter einer realistischen und naturalistischen
Ästhetik den Monolog grundsätzlich ablehnt (vgl.
Pfister 1977, S.187),
wird dem Zuschauer die ganze Vorgeschichte im Laufe der
Dramenhandlung in dialogisierter Form enthüllt.
Doch bleibt der
Zuschauer, sieht man einmal von den Informationen ab, die ihm am
Anfang des 3. Aktes noch über die früher gescheiterte Verbindung von Krogstad und Christine Linde erhält, "nur in der ersten Hälfte des
ersten Aktes gegenüber der Titelfigur in einem wesentlichen
Informationsrückstand" (
ebd., S.85). Denn schon im ersten Dialog von
Nora und Christine Linde (I, 3) erfährt er von Noras
heimlicher Rettungsaktion und im Dialog von Nora mit Krogstad (I,10)
von den näheren Umständen unter juristischem Blickwinkel.
Die analytische Retrospektive beeinflusst dabei dennoch die
Rezeption des Stückes durch den Zuschauer, wie Manfred Pfister
herausarbeitet:
"Der Informationsentzug in der ersten Spielphase erlaubt es dem
Zuschauer anfangs nicht, Helmers ebenfalls informationsdefizitäre
Sicht seiner Gattin als eines leichtsinnig-oberflächlichen und
verschwenderischen Geschöpfs zu korrigieren, und diese Erfahrung
macht ihm Helmers verkürzende und verzerrende Fehleinschätzung
unmittelbar einsichtig. Die Struktur des Informationsentzugs hat
hier also nicht spannungsweckende oder verrätselnde, sondern
identifikatorische Funktion: auch wenn Helmers Sicht später
dementiert und abgewertet wird, soll sie zunächst dem Zuschauer
plausibel gemacht werden." (vgl.
Pfister 1977, S.85)
Damit sich der Zuschauer also zunächst mit Helmer
identifizieren kann, verzichtet Ibsen letzten Endes auf die
Herausstellung der "Doppelbödigkeit" im Eingangsdialog
zwischen Helmer und Nora (I,1), da der Zuschauer zu diesem
Zeitpunkt noch nichts Näheres weiß, was die Äußerungen
Helmers kritischer betrachten ließe. Ob dieser Zustand durch
einen Schauspielstil kompensiert werden kann, der die Figur
Nora von Anfang an "doppelbödig" anlegt (vgl.
Bänsch 1998,
S.49), muss zumindest bezweifelt werden. Denn die Art und
Weise, wie Ibsen Noras Verhalten durch den dem Zuschauer
zugemuteten Informationsrückstand ins scheinbar Läppische,
Triviale und Zweideutige zieht, kann vom Zuschauer wohl bei
der Erstrezeption des Dramas kaum, bestenfalls im Rückblick
als doppelbödig verstanden werden. (vgl.
Pfister 1977,
S.85)
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