Andreas Gryphius

Thränen in schwerer Krankheit (Anno 1640)


Mir ist, ich weiß nicht wie, ich seufze für und für.
Ich weine Tag und Nacht; ich sitz' in tausend Schmerzen;
Und tausend fürcht' ich noch; die Kraft in meinem Herzen
Verschwindt, der Geist verschmacht', die Hände sinken mir.

Die Wangen werden bleich, der muntern Augen Zier                               5
Vergeht gleich als der Schein der schon verbrannten Kerzen.
Die Seele wird bestürmt, gleich wie die See im Märtzen.
Was ist dies Leben doch, was sind wir, ich und ihr?

Was bilden wir uns ein, was wünschen wir zu haben?
Itzt sind wir hoch und groß, und morgen schon vergraben;                     10
Itzt Blumen, morgen Kot. Wir sind ein Wind, ein Schaum,

Ein Nebel und ein Bach, ein Reif, ein Tau, ein Schatten;
Itzt was und morgen nichts. Und was sind unsre Taten
Als ein mit herber Angst durchmischter Traum.

 


   Arbeitsanregungen:

Interpretieren Sie das Gedicht von Andreas Gryphius (1618 - 1664).

  1. Zeigen Sie dabei, wie sich der Gedanke des Gedichts inhaltlich-thematisch entwickelt.

  2. Untersuchen Sie die Bildlichkeit des Textes: Was verstehen Sie z.B. unter dem Sinnbild "Krankheit"?

  3. Untersuchen Sie die äußere Form des Gedichts und erläutern Sie seine Funktion. Berücksichtigen Sie dabei die Aussage von Erich Trunz (1956):
    Das Gedicht "ist kein Klageerguss einer sich unmittelbar tagebuchartig äußernden Seele, sondern es ist geformt, komponiert."

  4. Ordnen Sie das Gedicht in die literarische Epoche des Barock ein. Berücksichtigen Sie dabei die Aussage von Erich Trunz :
    "Wenn ein neuzeitlicher Leser versuchen wollte, auf Grund eines einzigen solchen Gedichts das Weltbild des Dichters zu bestimmen, so würde er fehlgehen. Denn dieses Gedicht bringt nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Ganzen. In diesem Gedicht ist nur das Diesseits."