Es ist kein Mädchen so listig, so
vorsichtig, das nicht von
einem listigen Jünglinge könnte gefangen
werden. Hört,
wie es Charlotten erging. Charlotte, ein
weises Mädchen,
die wohl wusste, warum die Jünglinge zu
fürchten waren,
liebte mich recht zärtlich, aber mehr
noch sich selbst.
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Drum war sie immer zurückhaltend, immer
streng gegen mich,
wie es meine Annette jetzt ist, wenn sie
ihre Mutter beobachtet.
Wäre sie ganz klug gewesen, so hätte sie
mich ganz gemieden ;
doch sie war zu dieser Tat zu sehr ein Mädchen.
Oft führt ich sie zum Haine,
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Und war mit ihr alleine,
O wie war ich erfreut!
Ist je ein Paar alleine,
Ist Amor niemals weit.
Einst saßen wir unter dem Schatten einer
überhangenden
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Myrte, ein Becher mit Weine und ein
Körbchen mit Obst
stand vor uns; wir redeten von
Freundschaft. Schnell flog
Amor aus einer jungen Rose heraus, die,
halb aufgeblüht,
wie ein Mädchen von fünfzehn Jahren, sich
die Myrte
hinaufgeschlungen hatte. Ich sah ihn, das
Mädchen nicht.
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Wie freuete ich mich, da ich seinen Bogen
gespannt und
seinen Kocher gefüllt sah. Nun wird er
mir helfen und einen Pfeil
auf ihre Brust schicken ; er wird nicht abspringen, der
spitzige Pfeil!
Du brauchst nicht scharf zu zielen,
Die Brust ist ohnbewehrt.
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Ich hab ihr wie im Spielen,
Gar manches schon gelehrt,
Was, ohne sich zu fühlen,
Kein junges Mädchen hört.
Aber er bleibt doch immer ein Kind, Amor.
Kaum sah er die Trauben,
als er schnell hinflog, eine Beere nach
der andern mit einem Pfeile
aufstach und aussog, wie die Bienen ihren
Stachel in die Blumen stechen
und Honig saugen. Da er sich satt
gesogen hatte, ward er mutwillig,
flog auf den Becher und schaukelte auf
dem Rande.
Aber einmal versah ers, der gute Amor,
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und fiel mit einem lauten Schrei in den
Wein.
Possierlich schwamm er auf dem goldnen
Meere, platscherte mit den Flügeln,
ruderte mit Händen und Füßen, und schrie
immer. Da jammerte er mich,
dass ich ihn heraushub. Was machst du,
fragte das Mädchen –
Eine Biene war in den Wein gefallen, sagt
ich.
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Freudig dankte mir Amor, und hüpfte in
den Sonnenschein,
da schüttelte er seine Flügel und
trocknete sich. Ich sah ihm zu,
und bemerkte, dass sein Köcher von
Pfeilen leer war.
Wo sind sie? dacht ich - Indem fielen
meine Blicke auf den Becher;
da zogen sich Bläschen vom Boden herauf
wie sie der Wein
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aus dem Zucker zieht. Amor hatte die
Pfeile im Schwimmen verloren,
und nun sog der Wein das Gift aus den
Spitzen.
Ich habe deiner Hülfe nicht mehr nötig
Amor! - jauchzete ich,
und reichte ihr den Becher und sah starr
auf sie. Sie trank,
und sah mich an, und trank mit starken
Zugen. Wie süße!
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seufzete sie tief, da sie den Becher
niedersetzte.
Ich beobachtete sie genau- eine sanfte
Mattigkeit schlich
durch alle ihre Glieder. Und kraftlos
sank ihr Haupt zurücke.
Erst irrten unbestimmt die Blicke
Umher, und fielen dann auf mich,
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Und eilten weg, und kamen wieder.
Sie lächelte und schlug die Augen nieder,
Ihr fühlbar Herz empörte sich,
Und schickte brennendes Verlangen
In ihren Busen, auf die Wangen,
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Die Wangen glühten, und der Busen stieg.
Da rief ich : Sieg! Sieg, Amor, Sieg!
Und der kleine getrocknete Prahler,
als wenn er noch so viel bei der Sache getan hätte,
Rief, als er in die Lüfte stieg :
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Sieg! Sieg!