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Nachdem ich in jener Laube zu
Sesenheim meine Erzählung vollendet, in welcher das Gemeine mit dem
Unmöglichen anmutig genug wechselte, sah ich meine Hörerinnen, die sich
schon bisher ganz eigen teilnehmend erwiesen hatten, von meiner seltsamen
Darstellung aufs äußerste verzaubert. Sie baten mich inständig, ihnen das
Märchen aufzuschreiben, damit sie es öfters unter sich und vorlesend mit
andern wiederholen könnten. Ich versprach es um so lieber, als ich dadurch
einen Vorwand zu Wiederholung des Besuchs und Gelegenheit zu näherer
Verbindung mir zu gewinnen hoffte. Die Gesellschaft trennte sich einen
Augenblick, und alle mochten fühlen, dass, nach einem so lebhaft
vollbrachten Tag, der Abend einigermaßen matt werden könnte. Von dieser
Sorge befreite mich mein Freund, der sich für uns die Erlaubnis erbat,
sogleich Abschied nehmen zu dürfen, weil er, als ein fleißiger und in
seinen Studien folgerechter akademischer Bürger, diese Nacht in Drusenheim
zuzubringen und morgen zeitig in Straßburg zu sein wünsche.
Unser Nachtquartier erreichten wir
beide schweigend; ich, weil ich einen Widerhaken im Herzen fühlte, der
mich zurückzog, er, weil er etwas anderes im Sinne hatte, das er mir, als
wir angelangt waren, sogleich mitteilte. - "Es ist doch wunderlich", fing
er an, "dass du gerade auf dieses Märchen verfallen bist. Hast du nicht
bemerkt, dass es einen ganz besondern Eindruck machte?" - "Freilich",
versetzte ich darauf; "wie hätte ich nicht bemerken sollen, dass die Ältere
bei einigen Stellen, mehr als billig, lachte, die Jüngere den Kopf
schüttelte, dass ihr euch bedeutend ansaht, und dass du selbst beinah aus
deiner Fassung gekommen wärest. Ich leugne nicht, es hätte mich fast irre
gemacht: denn es fuhr mir durch den Kopf, dass es vielleicht unschicklich
sei, den guten Kindern solche Fratzen zu erzählen, die ihnen besser
unbekannt blieben, und ihnen von den Männern so schlechte Begriffe zu
geben, als sie von der Figur des Abenteurers sich notwendig bilden
müssen." - "Keineswegs!" versetzte jener; "du errätst es nicht, und wie
solltest du's erraten? Die guten Kinder sind mit solchen Dingen gar nicht
so unbekannt, als du glaubst: denn die große Gesellschaft um sie her gibt
ihnen zu manchem Nachdenken Anlass, und so ist überrhein gerade ein solches
Ehepaar, wie du es, nur übertrieben und märchenhaft, schilderst. Er gerade
so groß, derb und plump, sie niedlich und zierlich genug, dass er sie wohl
auf der Hand tragen könnte. Ihr übriges Verhältnis, ihre Geschichte passt
ebenfalls so genau zu deiner Erzählung, dass die Mädchen mich ernstlich
fragten, ob du die Personen kenntest und sie schalkhaft dargestellt
hättest? Ich versichert 'nein!' und du wirst wohl tun, das Märchen
ungeschrieben zu lassen. Durch Zögern und Vorwände wollen wir schon eine
Entschuldigung finden."
Ich verwunderte mich sehr: denn ich
hatte weder an ein diesrheinisches noch an ein überrheinisches Paar
gedacht, ja ich hätte gar nicht anzugeben gewusst, wie ich auf den Einfall
gekommen. In Gedanken mochte ich mich gern mit solchen Späßen, ohne
weitere Beziehung, beschäftigen, und so, glaubte ich, sollte es auch
andern sein, wenn ich sie erzählte.
Als ich in der Stadt wieder an
meine Geschäfte kam, fühlte ich die Beschwerlichkeit derselben mehr als
sonst: denn der zur Tätigkeit geborene Mensch übernimmt sich in Planen und
überladet sich mit Arbeiten. Das gelingt denn auch ganz gut, bis irgend
ein physisches oder moralisches Hindernis dazutritt, um das
Unverhältnismäßige der Kräfte zu dem Unternehmen ins klare zu bringen.
Das Juristische trieb ich mit so
viel Fleiß, als nötig war, um die Promotion mit einigen Ehren zu
absolvieren; das Medizinische reizte mich, weil es mir die Natur nach
allen Seiten, wo nicht aufschloss, doch gewahr werden ließ, und ich war
daran durch Umgang und Gewohnheit gebunden; der Gesellschaft musste ich
auch einige Zeit und Aufmerksamkeit widmen: denn in manchen Familien war
mir mehreres zu Lieb und zu Ehren geschehn. Aber alles dies wäre zu tragen
und fortzuführen gewesen, hätte nicht das, was Herder mir auferlegt,
unendlich auf mir gelastet. Er hatte den Vorhang zerrissen, der mir die
Armut der deutschen Literatur bedeckte; er hatte mir so manches Vorurteil
mit Grausamkeit zerstört; an dem vaterländischen Himmel blieben nur wenige
bedeutende Sterne, indem er die übrigen alle nur als vorüberfahrende
Schnuppen behandelte; ja, was ich von mir selbst hoffen und wähnen konnte,
hatte er mir dermaßen verkümmert, dass ich an meinen eignen Fähigkeiten zu
verzweifeln anfing. Zu gleicher Zeit jedoch riss er mich fort auf den
herrlichen breiten Weg, den er selbst zu durchwandern geneigt war, machte
mich aufmerksam auf seine Lieblingsschriftsteller, unter denen Swift und
Hamann obenan standen, und schüttelte mich kräftiger auf, als er mich
gebeugt hatte. Zu dieser vielfachen Verwirrung nunmehr eine angehende
Leidenschaft, die, indem sie mich zu verschlingen drohte, zwar von jenen
Zuständen mich abziehn, aber wohl schwerlich darüber erheben konnte. Dazu
kam noch ein körperliches Übel, dass mir nämlich nach Tische die Kehle wie
zugeschnürt war; welches ich erst später sehr leicht los wurde, als ich
einem roten Wein, den wir in der Pension gewöhnlich und sehr gern tranken,
entsagte. Diese unerträgliche Unbequemlichkeit hatte mich auch in
Sesenheim verlassen, so dass ich mich dort doppelt vergnügt befand; als ich
aber zu meiner städtischen Diät zurückkehrte, stellte sie sich zu meinem
großen Verdruss sogleich wieder ein. Alles dies machte mich nachdenklich
und mürrisch, und mein Äußeres mochte mit dem Innern übereinstimmen.
Verdrießlicher als jemals, weil eben nach Tische jenes Übel sich heftig
eingefunden hatte, wohnte ich dem Klinikum bei. Die große Heiterkeit und
Behaglichkeit, womit der verehrte Lehrer uns von Bett zu Bett führte, die
genaue Bemerkung bedeutender Symptome, die Beurteilung des Gangs der
Krankheit überhaupt, die schöne hippokratische Verführungsart, wodurch
sich, ohne Theorie, aus einer eignen Erfahrung, die Gestalten des Wissens
heraufgaben, die Schlussreden, mit denen er gewöhnlich seine Stunden zu
krönen pflegte, das alles zog mich zu ihm und machte mir ein fremdes Fach,
in das ich nur wie durch eine Ritze hineinsah, um desto reizender und
lieber. Mein Abscheu gegen die Kranken nahm immer mehr ab, je mehr ich
diese Zustände in Begriffe verwandeln lernte, durch welche die Heilung,
die Wiederherstellung menschlicher Gestalt und Wesens als möglich
erschien. Er mochte mich wohl, als einen seltsamen jungen Menschen,
besonders ins Auge gefasst und mir die wunderliche Anomalie, die mich zu
seinen Stunden hinführte, verziehn haben. Diesmal schloss er seinen Vortrag
nicht, wie sonst, mit einer Lehre, die sich auf irgend eine beobachtete
Krankheit bezogen hätte, sondern sagte mit Heiterkeit: "Meine Herren! wir
sehen einige Ferien vor uns. Benutzen sie dieselben, sich aufzumuntern;
die Studien wollen nicht allein ernst und fleißig, sie wollen auch heiter
und mit Geistesfreiheit behandelt werden. Geben sie Ihrem Körper Bewegung,
durchwandern sie zu Fuß und zu Pferde das schöne Land; der Einheimische
wird sich an dem Gewohnten erfreuen, und dem Fremden wird es neue
Eindrücke geben und eine angenehme Erinnerung zurücklassen."
Es waren unser eigentlich nur zwei,
an welche diese Ermahnung gerichtet sein konnte; möge dem andern dieses
Rezept ebenso eingeleuchtet haben als mir! Ich glaubte eine Stimme vom
Himmel zu hören, und eilte was ich konnte, ein Pferd zu bestellen und mich
sauber herauszuputzen. Ich schickte nach Weyland, er war nicht zu finden.
Dies hielt meinen Entschluss nicht auf, aber leider verzogen sich die
Anstalten, und ich kam nicht so früh weg, als ich gehofft hatte. So stark
ich auch ritt, überfiel mich doch die Nacht. Der Weg war nicht zu
verfehlen, und der Mond beleuchtete mein leidenschaftliches Unternehmen.
Die Nacht war windig und schauerlich, ich sprengte zu, um nicht bis morgen
früh auf ihren Anblick warten zu müssen.
Es war schon spät, als ich in Sesenheim mein Pferd einstellte. Der Wirt, auf meine Frage, ob wohl in der
Pfarre noch Licht sei, versicherte mich, die Frauenzimmer seien eben erst
nach Hause gegangen; er glaube gehört zu haben, dass sie noch einen Fremden
erwarteten. Das war mir nicht recht; denn ich hätte gewünscht, der einzige
zu sein. Ich eilte nach, um wenigstens, so spät noch, als der erste zu
erscheinen. Ich fand die beiden Schwestern vor der Türe sitzend; sie
schienen nicht sehr verwundert, aber ich war es, als Friedrike Olivien ins
Ohr sagte, so jedoch, dass ich's hörte: "Hab ich's nicht gesagt? da ist
er!" Sie führten mich ins Zimmer, und ich fand eine kleine Kollation
aufgestellt. Die Mutter begrüßte mich als einen alten Bekannten; wie mich
aber die Ältere bei Licht besah, brach sie in ein lautes Gelächter aus:
denn sie konnte wenig an sich halten.
Nach diesem ersten etwas
wunderlichen Empfang ward sogleich die Unterredung frei und heiter, und
was mir diesen Abend verborgen blieb, erfuhr ich den andern Morgen.
Friedrike hatte vorausgesagt,
dass ich kommen würde; und wer fühlt nicht
einiges Behagen beim Eintreffen einer Ahndung, selbst einer traurigen?
Alle Vorgefühle, wenn sie durch das Ereignis bestätigt werden, geben dem
Menschen einen höheren Begriff von sich selbst, es sei nun, dass er sich so
zart fühlend glauben kann, um einen Bezug in der Ferne zu tasten, oder so
scharfsinnig, um notwendige aber doch ungewisse Verknüpfungen gewahr zu
werden. - Oliviens Lachen blieb auch kein Geheimnis; sie gestand, dass es
ihr sehr lustig vorgekommen, mich diesmal geputzt und wohl ausstaffiert zu
sehn; Friedrike hingegen fand es vorteilhaft, eine solche Erscheinung mir
nicht als Eitelkeit auszulegen, vielmehr den Wunsch, ihr zu gefallen,
darin zu erblicken.
Früh bei Zeiten rief mich Friedrike
zum Spazierengehn; Mutter und Schwester waren beschäftigt, alles zum
Empfang mehrerer Gäste vorzubereiten. Ich genoss an der Seite des lieben
Mädchens der herrlichen Sonntagsfrühe auf dem Lande, wie sie uns der
unschätzbare Hebel vergegenwärtigt hat. Sie schilderte mir die erwartete
Gesellschaft und bat mich, ihr beizustehn, dass alle Vergnügungen wo
möglich gemeinsam und in einer gewissen Ordnung möchten genossen werden.
"Gewöhnlich", sagte sie, "zerstreut man sich einzeln, Scherz und Spiel
wird nur obenhin gekostet, so dass zuletzt für den einen Teil nichts übrig
bleibt, als die Karten zu ergreifen, und für den andern, im Tanze sich
auszurasen."
Wir entwarfen demnach unsern Plan,
was vor und nach Tische geschehn sollte, machten einander wechselseitig
mit neuen geselligen Spielen bekannt, waren einig und vergnügt, als uns
die Glocke nach der Kirche rief, wo ich denn, an ihrer Seite, eine etwas
trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand.
Zeitverkürzend ist immer die Nähe
der Geliebten, doch verging mir diese Stunde auch unter besonderem
Nachdenken. Ich wiederholte mir die Vorzüge, die sie soeben aufs freiste
vor mir entwickelte: besonnene Heiterkeit, Naivetät mit Bewusstsein,
Frohsinn mit Voraussehn; Eigenschaften, die unverträglich scheinen, die
sich aber bei ihr zusammenfanden und ihr Äußeres gar hold bezeichneten.
Nun hatte ich aber auch ernstere Betrachtungen über mich selbst
anzustellen, die einer freien Heiterkeit eher Eintrag taten.
Seitdem jenes leidenschaftliche
Mädchen meine Lippen verwünscht und geheiligt (denn jede Weihe enthält ja
beides), hatte ich mich, abergläubisch genug, in acht genommen,
irgend ein
Mädchen zu küssen, weil ich solches auf eine unerhörte geistige Weise zu
beschädigen fürchtete. Ich überwand daher jede Lüsternheit, durch die sich
der Jüngling gedrungen fühlt, diese viel oder wenig sagende Gunst einem
reizenden Mädchen abzugewinnen. Aber selbst in der sittigsten Gesellschaft
erwartete mich eine lästige Prüfung. Eben jene mehr oder minder
geistreichen so genannten kleinen Spiele, durch welche ein munterer
jugendlicher Kreis gesammelt und vereinigt wird, sind großenteils auf
Pfänder gegründet, bei deren Einforderung die Küsse keinen unbedeutenden
Lösewert haben. Ich hatte mir nun ein für allemal vorgenommen, nicht zu
küssen, und wie uns irgend ein Mangel oder Hindernis zu Tätigkeiten
aufregt, zu denen man sich sonst nicht hingeneigt hätte, so bot ich alles
auf, was an mir von Talent und Humor war, mich durchzuwinden und dabei vor
der Gesellschaft und für die Gesellschaft eher zu gewinnen als zu
verlieren. Wenn zu Einlösung eines Pfandes ein Vers verlangt werden
sollte, so richtete man die Forderung meist an mich. Nun war ich immer
vorbereitet und wusste bei solcher Gelegenheit etwas zum Lobe der Wirtin,
oder eines Frauenzimmers, die sich am artigsten gegen mich erwiesen hatte,
vorzubringen. Traf es sich, dass mir allenfalls ein Kuss auferlegt wurde, so
suchte ich mich mit einer Wendung herauszuziehn, mit der man gleichfalls
zufrieden war; und da ich Zeit gehabt hatte, vorher darüber nachzudenken,
so fehlte es mir nicht an mannigfaltigen Zierlichkeiten; doch gelangen die
aus dem Stegreife immer am besten.
Als wir nach Hause kamen,
schwirrten die von mehreren Seiten angekommenen Gäste schon lustig durch
einander, bis Friedrike sie sammelte und zu einem Spaziergang nach jenem
schönen Platze lud und führte. Dort fand man eine reichliche Kollation und
wollte mit geselligen Spielen die Stunde des Mittagessens erwarten. Hier
wusste ich, in Einstimmung mit Friedriken, ob sie gleich mein Geheimnis
nicht ahndete, Spiele ohne Pfänder, und Pfänderlösungen ohne Küsse zu
bereiten und durchzuführen.
Meine Kunstfertigkeit und
Gewandtheit war um so nötiger, als die mir sonst ganz fremde Gesellschaft
geschwind ein Verhältnis zwischen mir und dem lieben Mädchen mochte
geahndet haben, und sich nun schalkhaft alle Mühe gab, mir dasjenige
aufzudringen, was ich heimlich zu vermeiden suchte. Denn bemerkt man in
solchen Zirkeln eine angehende Neigung junger Personen, so sucht man sie
verlegen zu machen oder näher zusammenzubringen, ebenso wie man in der
Folge, wenn sich eine Leidenschaft erklärt hat, bemüht ist, sie wieder
auseinander zu ziehen; wie es denn dem geselligen Menschen ganz
gleichgültig ist, ob er nutzt oder schadet, wenn er nur unterhalten wird.
Ich konnte mit einiger
Aufmerksamkeit an diesem Morgen Friedrikens ganzes Wesen gewahr werden,
dergestalt, dass sie mir für die ganze Zeit immer dieselbe blieb. Schon die
freundlichen, vorzüglich an sie gerichteten Grüße der Bauern gaben zu
verstehn, dass sie ihnen wohltätig sei und ihr Behagen errege. Zu Hause
stand die Ältere der Mutter bei; alles, was körperliche Anstrengung
erforderte, ward nicht von Friedriken verlangt, man schonte sie, wie man
sagte, ihrer Brust wegen.
Es gibt Frauenspersonen, die uns im
Zimmer besonders wohl gefallen, andere, die sich besser im Freien
ausnehmen; Friedrike gehörte zu den letztern.
Ihr Wesen, ihre Gestalt trat
niemals reizender hervor, als wenn sie sich auf einem erhöhten Fußpfad
hinbewegte; die Anmut ihres Betragens schien mit der beblümten Erde, und
die unverwüstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel zu
wetteifern. Diesen erquicklichen Äther, der sie umgab, brachte sie auch
mit nach Hause, und es ließ sich bald bemerken, dass sie Verwirrungen
auszugleichen und die Eindrücke kleiner unangenehmer Zufälligkeiten leicht
wegzulöschen verstand.
Die reinste Freude, die man an
einer geliebten Person finden kann, ist die, zu sehen, dass sie andere
erfreut. Friedrikens Betragen in der Gesellschaft war allgemein wohltätig.
Auf Spaziergängen schwebte sie, ein belebender Geist, hin und wider, und
wusste die Lücken auszufüllen, welche hier und da entstehn mochten. Die
Leichtigkeit ihrer Bewegungen haben wir schon gerühmt, und am
allerzierlichsten war sie, wenn sie lief. So wie das Reh seine Bestimmung
ganz zu erfüllen scheint, wenn es leicht über die keimenden Saaten
wegfliegt, so schien auch sie ihre Art und Weise am deutlichsten
auszudrücken, wenn sie, etwas Vergessenes zu holen, etwas Verlorenes zu
suchen, ein entferntes Paar herbeizurufen, etwas Notwendiges zu bestellen,
über Rain und Matten leichten Laufes hineilte. Dabei kam sie niemals außer
Atem, und blieb völlig im Gleichgewicht; daher musste die allzu große Sorge
der Eltern für Ihre Brust manchem übertrieben scheinen.
Der Vater, der uns manchmal durch
Wiesen und Felder begleitete, war öfters nicht günstig gepaart. Ich
gesellte mich deshalb zu ihm, und er verfehlte nicht, sein Lieblingsthema
wieder anzustimmen und mich von dem vorgeschlagenen Bau des Pfarrhauses
umständlich zu unterhalten. Er beklagte sich besonders, dass er die
sorgfältig gefertigten Risse nicht wieder erhalten könne, um darüber
nachzudenken und eine und die andere Verbesserung zu überlegen. Ich
erwiderte darauf, es sei leicht, sie zu ersetzen, und erbot mich zur
Fertigung eines Grundrisses, auf welchen doch vorerst alles ankomme. Er
war es wohl zufrieden, und bei der nötigen Ausmessung sollte der
Schulmeister an Hand gehen, welchen aufzuregen er denn auch sogleich
forteilte, damit ja der Fuß - und Zollstab morgen früh bereit wäre.
Als er hinweggegangen war, sagte Friedrike: "sie sind recht gut, die schwache Seite des lieben Vaters zu
hegen, und nicht, wie die andern, die dieses Gespräch schon überdrüssig
sind, ihn zu meiden oder davon abzubrechen. Freilich muss ich Ihnen
bekennen, dass wir übrigen den Bau nicht wünschen; er würde der Gemeine zu
hoch zu stehn kommen und uns auch. Neues Haus, neues Hausgeräte! Unsern
Gästen würde es bei uns nicht wohler sein, sie sind nun einmal das alte
Gebäude gewohnt. Hier können wir sie reichlich bewirten, dort fänden wir
uns in einem weitern Raume beengt. So steht die Sache; aber unterlassen
sie nicht, gefällig zu sein, ich danke es Ihnen von Herzen."
Ein anderes Frauenzimmer, das sich
zu uns gesellte, fragte nach einigen Romanen, ob Friedrike solche gelesen
habe. Sie verneinte es; denn sie hatte überhaupt wenig gelesen; sie war in
einem heitern sittlichen Lebensgenuss aufgewachsen und demgemäß gebildet.
Ich hatte den "Wakefield" auf der Zunge, allein ich wagte nicht, ihr ihn
anzubieten; die Ähnlichkeit der Zustände war zu auffallend und zu
bedeutend. - "Ich lese sehr gern Romane", sagte sie; "man findet darin so
hübsche Leute, denen man wohl ähnlich sehen möchte."
Die Ausmessung des Hauses geschah
des andern Morgens. Sie ging ziemlich langsam vonstatten, da ich in
solchen Künsten so wenig gewandt war als der Schulmeister. Endlich kam ein
leidlicher Entwurf zustande. Der Vater sagte mir seine Absicht und war
nicht unzufrieden, als ich Urlaub nahm, um den riss in der Stadt mit mehr
Bequemlichkeit zu verfertigen. Friedrike entließ mich froh; sie war von
meiner Neigung überzeugt, wie ich von der ihrigen, und die sechs Stunden
schienen keine Entfernung mehr. Es war so leicht, mit der Diligence nach
Drusenheim zu fahren und sich durch dieses Fuhrwerk, sowie durch
ordentliche und außerordentliche Boten, in Verbindung zu erhalten, wobei
George den Spediteur machen sollte.
In der Stadt angelangt,
beschäftigte ich mich in den frühesten Stunden - denn an langen Schlaf war
nicht mehr zu denken - mit dem Risse, den ich so sauber als möglich
zeichnete. Indessen hatte ich ihr Bücher geschickt und ein kurzes
freundliches Wort dazu geschrieben. Ich erhielt sogleich Antwort und
erfreute mich ihrer leichten, hübschen, herzlichen Hand. Ebenso war Inhalt
und Stil natürlich, gut, liebevoll, von innen heraus, und so wurde der
angenehme Eindruck, den sie auf mich gemacht, immer erhalten und erneuert.
Ich wiederholte mir die Vorzüge ihres holden Wesens nur gar zu gern, und
nährte die Hoffnung, sie bald und auf längere Zeit wiederzusehn.
Es bedurfte nun nicht mehr eines
Zurufs von seiten des braven Lehrers; er hatte mich durch jene Worte zur
rechten Zeit so aus dem Grunde kuriert, dass ich ihn und seine Kranken
nicht leicht wieder zu sehen Lust hatte. Der Briefwechsel mit Friedriken
wurde lebhafter. Sie lud mich ein zu einem Feste, wozu auch überrheinische
Freunde kommen würden; ich sollte mich auf längere Zeit einrichten. Ich
tat es, indem ich einen tüchtigen Mantelsack auf die Diligence packte; und
in wenig Stunden befand ich mich in ihrer Nähe. Ich traf eine große und
lustige Gesellschaft, nahm den Vater beiseite, überreichte ihm den riss,
über den er große Freude bezeigte; ich besprach mit ihm, was ich bei der
Ausarbeitung gedacht hatte; er war außer sich vor Vergnügen, besonders
lobte er die Reinlichkeit der Zeichnung: die hatte ich von Jugend auf
geübt und mir diesmal auf dem schönsten Papier noch besondere Mühe
gegeben. Allein dieses Vergnügen wurde unserm guten Wirte gar bald
verkümmert, da er, gegen meinen Rat, in der Freude seines Herzens, den
riss
der Gesellschaft vorlegte. Weit entfernt, daran die erwünschte Teilnahme
zu äußern, achteten die einen diese köstliche Arbeit gar nicht; andere,
die etwas von der Sache zu verstehn glaubten, machten es noch schlimmer:
sie tadelten den Entwurf als nicht kunstgerecht, und als der Alte einen
Augenblick nicht aufmerkte, handhabten sie diese saubern Blätter als
Brouillons, und einer zog mit harten Bleistiftstrichen seine
Verbesserungsvorschläge dergestalt derb über das zarte Papier, dass an
Wiederherstellung der ersten Reinheit nicht zu denken war. Den höchst
verdrießlichen Mann, dem sein Vergnügen so schmählich vereitelt worden,
vermochte ich kaum zu trösten, So sehr ich ihm auch versicherte, dass ich
sie selbst nur für Entwürfe gehalten, worüber wir sprechen und neue
Zeichnungen darauf bauen wollten. Er ging dem allen ungeachtet höchst
verdrießlich weg, und Friedrike dankte mir für die Aufmerksamkeit gegen
den Vater ebenso sehr als für die Geduld bei der Unart der Mitgäste.
Ich aber kannte keinen Schmerz noch Verdruss in ihrer Nähe. Die Gesellschaft bestand aus jungen, ziemlich
lärmenden Freunden, die ein alter Herr noch zu überbieten trachtete und
noch wunderlicheres Zeug angab, als sie ausübten. Man hatte schon beim
Frühstück den Wein nicht gespart; bei einem sehr wohl besetzten
Mittagstische ließ man sich's an keinem Genuss ermangeln, und allen
schmeckte es, nach der angreifenden Leibesübung, bei ziemlicher Wärme, um
so besser, und wenn der alte Amtmann des Guten ein wenig zu viel getan
hatte, so war die Jugend nicht weit hinter ihm zurückgeblieben.
Ich war grenzenlos glücklich an Friedrikens Seite; gesprächig, lustig, geistreich, vorlaut, und doch durch
Gefühl, Achtung und Anhänglichkeit gemäßigt. Sie in gleichem Falle, offen,
heiter, teilnehmend und mitteilend. Wir schienen allein für die
Gesellschaft zu leben und lebten bloß wechselseitig für uns. Nach Tische
suchte man den Schatten,
gesellschaftliche Spiele wurden vorgenommen, und
Pfänderspiele kamen an die Reihe. Bei Lösung der Pfänder ging alles jeder
Art ins Übertriebene: Gebärden, die man verlangte, Handlungen, die man
ausüben, Aufgaben, die man lösen sollte, alles zeigte von einer verwegenen
Lust, die keine Grenzen kennt. Ich selbst steigerte diese wilden Scherze
durch manchen Schwank, Friedrike glänzte durch manchen neckischen Einfall;
sie erschien mir lieblicher als je; alle hypochondrischen abergläubischen
Grillen waren mir verschwunden, und als sich die Gelegenheit gab,
meine so
zärtlich Geliebte recht herzlich zu küssen, versäumte ich's nicht, und
noch weniger versagte ich mir die Wiederholung dieser Freude.
Die Hoffnung der Gesellschaft auf
Musik wurde endlich befriedigt, sie ließ sich hören und alles eilte zum
Tanz. Die Allemanden, das Walzen und Drehen war Anfang, Mittel und Ende.
Alle waren zu diesem Nationaltanz aufgewachsen; auch ich machte meinen
geheimen Lehrmeisterinnen Ehre genug, und Friedrike, welche tanzte wie sie
ging, sprang und lief, war sehr erfreut, an mir einen geübten Partner zu
finden. Wir hielten meist zusammen, mussten aber bald Schicht machen, weil
man ihr von allen Seiten zuredete, nicht weiter fortzurasen. Wir
entschädigten uns durch einen einsamen Spaziergang Hand in Hand, und an
jenem stillen Platze durch die herzlichste Umarmung und die treulichste
Versicherung, dass wir uns von Grund aus liebten.
Ältere Personen, die vom Spiel
aufgestanden waren, zogen uns mit sich fort. Bei der Abendkollation kam
man ebenso wenig zu sich selbst; es ward bis tief in die Nacht getanzt,
und an Gesundheiten sowie an andern Aufmunterungen zum Trinken fehlte es
so wenig als am Mittag.
Ich hatte kaum einige Stunden sehr
tief geschlafen, als ein erhitztes und in Aufruhr gebrachtes Blut mich
aufweckte. In solchen Stunden und Lagen ist es, wo die Sorge, die Reue den
wehrlos hingestreckten Menschen zu überfallen pflegen. Meine
Einbildungskraft stellte mir zugleich die lebhaftesten Bilder dar; ich
sehe Lucinden, wie sie, nach dem heftigen Kusse, leidenschaftlich von mir
zurücktritt, mit glühender Wange, mit funkelnden Augen jene Verwünschung
ausspricht, wodurch nur ihre Schwester bedroht werden soll, und wodurch
sie unwissend fremde Schuldlose bedroht. Ich sehe Friedriken gegen ihr
über stehn, erstarrt vor dem Anblick, bleich und die Folgen jener
Verwünschung fühlend, von der sie nichts weiß. Ich finde mich in der
Mitte, so wenig imstande die geistigen Wirkungen jenes Abenteuers
abzulehnen, als jenen Unglück weissagenden Kuss zu vermeiden. Die zarte
Gesundheit Friedrikens schien den gedrohten Unfall zu beschleunigen, und
nun kam mir ihre Liebe zu mir recht unselig vor; ich wünschte über alle
Berge zu sein.
Was aber noch Schmerzlicheres für
mich im Hintergrunde lag, will ich nicht verhehlen. Ein gewisser Dünkel
unterhielt bei mir jenen Aberglauben; meine Lippen - geweiht oder
verwünscht - kamen mir bedeutender vor als sonst, und mit nicht geringer
Selbstgefälligkeit war ich mir meines enthaltsamen Betragens bewusst, indem
ich mir manche unschuldige Freude versagte, teils um jenen magischen
Vorzug zu bewahren, teils um ein harmloses Wesen nicht zu verletzen, wenn
ich ihn aufgäbe.
Nunmehr aber war alles verloren und
unwiederbringlich; ich war in einen gemeinen Zustand zurückgekehrt, ich
glaubte das liebste Wesen verletzt, ihr unwiederbringlich geschadet zu
haben; und so war jene Verwünschung, anstatt dass ich sie hätte los werden
sollen, von meinen Lippen in mein eignes Herz zurückgeschlagen.
Das alles raste zusammen in meinem
durch Liebe und Leidenschaft, Wein und Tanz aufgeregten Blute, verwirrte
mein Denken, peinigte mein Gefühl, so dass ich, besonders im Gegensatz mit
den gestrigen behaglichen Freuden, mich in einer Verzweiflung fühlte, die
ohne Grenzen schien. Glücklicherweise blickte durch eine Spalte im Laden
das Tagelicht mich an, und alle Mächte der Nacht überwindend, stellte mich
die hervortretende Sonne wieder auf meine Füße; ich war bald im Freien und
schnell erquickt, wo nicht hergestellt.
Der Aberglaube, sowie manches andre
Wähnen, verliert sehr leicht an seiner Gewalt, wenn er, statt unserer
Eitelkeit zu schmeicheln, ihr in den Weg tritt, und diesem zarten Wesen
eine böse Stunde machen will; wir sehen alsdann recht gut, dass wir ihn
loswerden können, sobald wir wollen; wir entsagen ihm um so leichter, je
mehr alles, was wir ihm entziehn, zu unserm Vorteil gereicht. Der Anblick
Friedrikens, das Gefühl ihrer Liebe, die Heiterkeit der Umgebung, alles
machte mir Vorwürfe, dass ich in der Mitte der glücklichsten Tage so
traurige Nachtvögel bei mir beherbergen mögen; ich glaubte sie auf ewig
verscheucht zu haben. Des lieben Mädchens immer mehr annäherndes
zutrauliches Betragen machte mich durch und durch froh, und ich fand mich
recht glücklich, dass sie mir diesmal beim Abschied öffentlich, wie andern
Freunden und Verwandten, einen Kuss gab.
In der Stadt erwarteten mich gar
manche Geschäfte und Zerstreuungen, aus denen ich mich oft, durch einen
jetzt regelmäßig eingeleiteten Briefwechsel mit meiner Geliebten, zu ihr
sammelte. Auch in Briefen blieb sie immer dieselbe; sie mochte etwas Neues
erzählen, oder auf bekannte Begebenheiten anspielen, leicht schildern,
vorübergehend reflektieren, immer war es, als wenn sie auch mit der Feder
gehend, kommend, laufend, springend so leicht aufträte als sicher. Auch
ich schrieb sehr gern an sie: denn die Vergegenwärtigung ihrer Vorzüge
vermehrte meine Neigung auch in der Abwesenheit, so dass diese Unterhaltung
einer persönlichen wenig nachgab, ja in der Folge mir sogar angenehmer,
teurer wurde.
Denn jener Aberglaube hatte völlig
weichen müssen. Er gründete sich zwar auf Eindrücke früherer Jahre, allein
der Geist des Tags, das Rasche der Jugend, der Umgang mit, kalten,
verständigen Männern, alles war ihm ungünstig, so dass sich nicht leicht
jemand in meiner ganzen Umgebung gefunden hätte, dem nicht ein Bekenntnis
meiner Grille vollkommen lächerlich gewesen wäre. Allein das Schlimmste
war, dass jener Wahn, indem er floh, eine wahre Betrachtung über den
Zustand zurückließ, in welchem sich immer junge Leute befinden, deren
frühzeitige Neigungen sich keinen dauerhaften Erfolg versprechen dürfen.
So wenig war mir geholfen, den Irrtum los zu sein, dass Verstand und
Überlegung mir nur noch schlimmer in diesem Falle mitspielten. Meine
Leidenschaft wuchs, je mehr ich den Wert des trefflichen Mädchens kennen
lernte, und die Zeit rückte heran, da ich so viel Liebes und Gutes,
vielleicht auf immer, verlieren sollte. Wir hatten eine Zeitlang zusammen
still und anmutig fortgelebt, als Freund Weyland die Schalkheit beging,
den "Landpriester von Wakefield" nach Sesenheim mitzubringen und mir ihn,
da vom Vorlesen die Rede war, unvermutet zu überreichen, als hätte es
weiter gar nichts zu sagen. Ich wusste mich zu fassen und las so heiter und
freimütig, als ich nur konnte. Auch die Gesichter meiner Zuhörer
erheiterten sich sogleich, und es schien ihnen gar nicht unangenehm,
abermals zu einer Vergleichung genötigt zu sein. Hatten sie zu Raymond und
Melusine komische Gegenbilder gefunden, so erblickten sie hier sich selbst
in einem Spiegel, der keineswegs verhässlichte. Man gestand sich's nicht
ausdrücklich, aber man verleugnete es nicht, dass man sich unter Geistes-
und Gefühlsverwandten bewege.
Alle Menschen guter Art empfinden
bei zunehmender Bildung, dass sie auf der Welt eine doppelte Rolle zu
spielen haben, eine wirkliche und eine ideelle, und in diesem Gefühl ist
der Grund alles Edlen aufzusuchen. Was uns für eine wirkliche zugeteilt
sei, erfahren wir nur allzu deutlich; was die zweite betrifft, darüber
können wir selten ins klare kommen. Der Mensch mag seine höhere Bestimmung
auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft suchen, so
bleibt er deshalb doch innerlich störenden Einwirkung ausgesetzt, bis er
ein für allemal den Entschluss fasst, zu erklären, das Rechte sei das, was
ihm gemäß ist.
Unter die lässlichsten Versuche,
sich etwas Höheres anzubilden, sich einem Höheren gleich zu stellen,
gehört wohl der jugendliche Trieb, sich mit Romanenfiguren zu vergleichen.
Er ist höchst unschuldig, und, was man auch dagegen eifern mag, höchst
unschädlich. Er unterhält uns in Zeiten, wo wir vor Langerweile umkommen
oder zu leidenschaftlicher Unterhaltung greifen müssten.
Wie oft wiederholt man nicht die
Litanei vom Schaden der Romane, und was ist es denn für ein Unglück, wenn
ein artiges Mädchen, ein hübscher junger Mann sich an die Stelle der
Person setzt, der es besser und schlechter geht als ihm selbst? Ist denn
das bürgerliche Leben so viel wert, oder verschlingen die Bedürfnisse des
Tags den Menschen so ganz, dass er jede schöne Forderung von sich ablehnen
soll?
So sind als kleine Nebenzweige der
romantischpoetischen Fiktionen die historisch-poetischen Taufnamen, die
sich an die Stelle der heiligen, nicht selten zum Ärgernis der taufenden
Geistlichen, in die deutsche Kirche eingedrungen, ohne Zweifel anzusehn.
Auch dieser Trieb, sein Kind durch einen wohlklingenden Namen, wenn er
auch sonst nichts weiter hinter sich hätte, zu adeln, ist löblich, und
diese Verknüpfung einer eingebildeten Welt mit der wirklichen verbreitet
sogar über das ganze Leben der Person einen anmutigen Schimmer. Ein
schönes Kind, welches wir mit Wohlgefallen Berta nennen, würden wir zu
beleidigen glauben, wenn wir es Urselblandine nennen sollten. gewiss, einem
gebildeten Menschen, geschweige denn einem Liebhaber, würde ein solcher
Name auf den Lippen stocken. Der kalt und einseitig urteilenden Welt ist
nicht zu verargen, wenn sie alles, was phantastisch hervortritt, für
lächerlich und verwerflich achtet; der denkende Kenner der Menschheit aber
muss es nach seinem Werte zu würdigen wissen.
Für den Zustand der Liebenden an
dem schönen Ufer des Rheins war diese Vergleichung, zu der sie ein Schalk
genötigt hatte, von den unmutigsten Folgen. Man denkt nicht über sich,
wenn man sich im Spiegel betrachtet, aber man fühlt sich und lässt sich
gelten. So ist es auch mit jenen moralischen Nachbildern, an denen man
seine Sitten und Neigungen, seine Gewohnheiten und Eigenheiten, wie im
Schattenriss, erkennt und mit brüderlicher Innigkeit zu fassen und zu
umarmen strebt.
Die Gewohnheit, zusammen zu sein,
befestigte sich immer mehr; man wusste nicht anders, als dass ich diesem
Kreis angehöre. Man ließ es geschehn und gehn, ohne gerade zu fragen, was
daraus werden sollte. Und welche Eltern finden sich nicht genötigt,
Töchter und Söhne in so schwebenden Zuständen eine Weile hinwalten zu
lassen, bis sich etwas zufällig fürs Leben bestätigt, besser, als es ein
lange angelegter Plan hätte hervorbringen können.
Man glaubte sowohl auf Friedrikens
Gesinnungen als auch auf meine Rechtlichkeit, für die man, wegen jenes
wunderlichen Enthaltens selbst von unschuldigen Liebkosungen, ein
günstiges Vorurteil gefasst hatte, völlig vertrauen zu können.
Man ließ uns
unbeobachtet, wie es überhaupt dort und damals Sitte war, und es hing von
uns ab, in kleinerer oder größerer Gesellschaft, die Gegend zu
durchstreifen und die Freunde der Nachbarschaft zu besuchen. Diesseits und
jenseits des Rheins, in Hagenau, Fort Louis, Philippsburg, der Ortenau,
fand ich die Personen zerstreut, die ich in Sesenheim vereinigt gesehn,
jeden bei sich, als freundlichen Wirt, gastfrei und so gern Küche und
Keller als Gärten und Weinberge, ja die ganze Gegend aufschließend.
Die
Rheininseln waren denn auch öfters ein Ziel unserer Wasserfahrten. Dort
brachten wir ohne Barmherzigkeit die kühlen Bewohner des klaren Rheines in
den Kessel, auf den Rost, in das siedende Fett, und hätten uns hier, in
den traulichen Fischerhütten, vielleicht mehr als billig angesiedelt,
hätten uns nicht die entsetzlichen Rheinschnaken nach einigen Stunden
wieder weggetrieben. Über diese unerträgliche Störung einer der schönsten
Lustpartien, wo sonst alles glückte, wo die Neigung der Liebenden mit dem
guten Erfolge des Unternehmens nur zu wachsen schien, brach ich wirklich,
als wir zu früh, ungeschickt und ungelegen nach Hause kamen, in Gegenwart
des guten geistlichen Vaters, in gotteslästerliche Reden aus und
versicherte, dass diese Schnaken allein mich von dem Gedanken abbringen
könnten, als habe ein guter und weiser Gott die Welt erschaffen. Der alte
fromme Herr rief mich dagegen ernstlich zur Ordnung und verständigte mich,
dass diese Mücken und anderes Ungeziefer erst nach dem Falle unserer ersten
Eltern entstanden, oder, wenn deren im Paradiese gewesen, daselbst nur
angenehm gesummet und nicht gestochen hätten. Ich fühlte mich zwar
sogleich besänftigt: denn ein Zorniger ist wohl zu begütigen, wenn es uns
glückt, ihn zum Lächeln zu bringen; ich versicherte jedoch, es habe des
Engels mit dem flammenden Schwerte gar nicht bedurft, um das sündige
Ehepaar aus dem Garten zu treiben; er müsse mir vielmehr erlauben, mir
vorzustellen, dass dies durch große Schnaken des Tigris und Euphrat
geschehn sei. Und so hatte ich ihn wieder zum Lachen gebracht, denn der
gute Mann verstand Spaß, oder ließ ihn wenigstens vorübergehn.
Ernsthafter jedoch und herzerhebender war der Genuss der Tags- und Jahreszeiten in diesem
herrlichen Lande. Man durfte sich nur der Gegenwart hingeben, um diese
Klarheit des reinen Himmels, diesen Glanz der reichen Erde diese lauen
Abende, diese warmen Nächte an der Seite der Geliebten oder in ihrer Nähe
zu genießen. Monate lang beglückten uns reine ätherische Morgen, wo der
Himmel sich in seiner ganzen Pracht wies, indem er die Erde mit
überflüssigem Tau getränkt hatte; und damit dieses Schauspiel nicht zu
einfach werde, türmten sich oft Wolken über die entfernten Berge, bald in
dieser, bald in jener Gegend. Sie standen Tage, ja Wochen lang, ohne den
reinen Himmel zu trüben, und selbst die vorübergehenden Gewitter
erquickten das Land und verherrlichten das Grün, das schon wieder im
Sonnenschein glänzte, ehe es noch abtrocknen konnte. Der doppelte
Regenbogen, zweifarbige Säume eines dunkelgrauen, beinah schwarzen
himmlischen Bandstreifens waren herrlicher, farbiger, entschiedener, aber
auch flüchtiger, als ich sie irgend beobachtet.
Unter diesen Umgebungen trat
unversehens die Lust zu dichten, die ich lange nicht gefühlt hatte, wieder
hervor. Ich legte für Friedriken manche Lieder bekannten Melodien unter.
Sie hätten ein artiges Bändchen gegeben; wenige davon sind übrig
geblieben, man wird sie leicht aus meinen übrigen herausfinden.
Da ich meiner wunderlichen Studien
und übrigen Verhältnisse wegen doch öfters nach der Stadt zurückzukehren
genötigt war, so entsprang dadurch für unsere Neigung ein neues Leben, das
uns vor allem Unangenehmen bewahrte, was an solche kleine Liebeshändel als
verdrießliche Folge sich gewöhnlich zu schließen pflegt. Entfernt von mir
arbeitete sie für mich, und dachte auf irgend eine neue Unterhaltung, wenn
ich zurückkäme; entfernt von ihr beschäftigte ich mich für sie, um durch
eine neue Gabe, einen neuen Einfall ihr wieder neu zu sein. Gemalte Bänder
waren damals eben erst Mode geworden; ich malte ihr gleich ein paar Stücke
und sendete sie mit einem kleinen Gedicht voraus, da ich diesmal länger,
als ich gedacht, ausbleiben musste. Um auch die dem Vater getane Zusage
eines neuen und ausgearbeiteten Baurisses noch über Versprechen zu halten,
beredete ich einen jungen Bauverständigen, statt meiner zu arbeiten.
Dieser hatte so viel Lust an der Aufgabe als Gefälligkeit gegen mich, und
ward noch mehr durch die Hoffnung eines guten Empfangs in einer so
angenehmen Familie belebt. Er verfertigte Grundriss, Aufriss und
Durchschnitt des Hauses; Hof und Garten war nicht vergessen; auch ein
detaillierter, aber sehr mäßiger Anschlag war hinzugefügt, um die
Möglichkeit der Ausführung eines weitläufigen und kostspieligen
Unternehmens als leicht und tulich vorzuspiegeln.
Diese Zeugnisse unserer
freundschaftlichen Bemühungen verschafften uns den liebreichsten Empfang;
und da der Vater sah, dass wir den besten Willen hatten, ihm zu dienen, so
trat er mit noch einem Wunsche hervor; es war der, seine zwar hübsche aber
einfarbige Chaise mit Blumen und Zierraten staffiert zu sehn. Wir ließen
uns bereitwillig finden. Farben, Pinsel und sonstige Bedürfnisse wurden
von den Krämern und Apothekern der nächsten Städte herbeigeholt. Damit es
aber auch an einem Wakefieldschen Misslingen nicht fehlen möchte, so
bemerkten wir nur erst, als alles auf das fleißigste und bunteste gemalt
war, dass wir einen falschen Firnis genommen hatten, der nicht trocknen
wollte: Sonnenschein und Zugluft, reines und feuchtes Wetter, nichts
wollte fruchten. Man musste sich indessen eines alten Rumpelkastens
bedienen, und es blieb uns nichts übrig, als die Verzierung mit mehr Mühe
wieder abzureiben, als wir sie aufgemalt hatten. Die Unlust bei dieser
Arbeit vergrößerte sich noch, als uns die Mädchen ums Himmelswillen baten,
langsam und vorsichtig zu verfahren, um den Grund zu schonen; welcher denn
doch, nach dieser Operation, zu seinem ursprünglichen Glanze nicht wieder
zurückzubringen war.
Durch solche unangenehme kleine
Zwischenfälligkeiten wurden wir jedoch so wenig als Doktor Primrose und
seine liebenswürdige Familie in unserm heitern Leben gestört: denn es
begegnete manches unerwartete Glück sowohl uns als auch Freunden und
Nachbarn; Hochzeiten und Kindtaufen, Richtung eines Gebäudes, Erbschaft,
Lotteriegewinn wurden wechselseitig verkündigt und mitgenossen. Wir trugen
alle Freude, wie ein Gemeingut, zusammen und wussten sie durch Geist und
Liebe zu steigern. Es war nicht das erste und letzte Mal, dass ich mich in
Familien, in geselligen Kreisen befand, gerade im Augenblick ihrer
höchsten Blüte, und wenn ich mir schmeicheln darf, etwas zu dem Glanz
solcher Epochen beigetragen zu haben, so muss ich mir dagegen vorwerfen,
dass solche Zeiten uns eben deshalb schneller vorübergeeilt und früher
verschwunden.
Nun sollte aber unsere Liebe noch
eine sonderbare Prüfung ausstehn. Ich will es Prüfung nennen, obgleich
dies nicht das rechte Wort ist. Die ländliche Familie, der ich befreundet
war, hatte verwandte Häuser in der Stadt, von gutem Ansehn und Ruf und in
behaglichen Vermögensumständen. Die jungen Städter waren öfters in
Sesenheim. Die ältern Personen, Mütter und Tanten, weniger beweglich,
hörten so mancherlei von dem dortigen Leben, von der wachsenden Anmut der
Töchter, selbst von meinem Einfluss, dass sie mich erst wollten kennen
lernen, und, nachdem ich sie öfters besucht und auch bei ihnen wohl
empfangen war, uns auch alle einmal beisammen zu sehen verlangten, zumal
als sie jenen auch eine freundliche Gegenaufnahme schuldig zu sein
glaubten. Lange ward hierüber hin und her gehandelt. Die Mutter konnte
sich schwer von der Haushaltung trennen, Olivie hatte einen
Abscheu vor der
Stadt, in die sie nicht passte, Friedrike keine Neigung dahin; und so
verzögerte sich die Sache, bis sie endlich dadurch entschieden ward, dass
es mir unmöglich fiel, innerhalb vierzehn Tagen aufs Land zu kommen,
da
man sich denn lieber in der Stadt und mit einigem Zwange als gar nicht
sehen wollte. Und so fand ich nun meine Freundinnen, die ich nur auf
ländlicher Szene zu sehen gewohnt war, deren Bild mir nur auf einem
Hintergrunde von schwankenden Baumzweigen, beweglichen Bächen, nickenden
Blumenwiesen und einem meilenweit freien Horizonte bisher erschien - ich
sah sie nun zum ersten Mal in städtischen, zwar weiten Zimmern, aber doch
in der Enge, in Bezug auf Tapeten, Spiegel, Standuhren und
Porzellanpuppen.
Das Verhältnis zu dem, was man
liebt, ist so entschieden, dass die Umgebung wenig sagen will; aber dass es
die gehörige, natürliche, gewohnte Umgebung sei, dies verlangt das Gemüt.
Bei meinem lebhaften Gefühl für alles Gegenwärtige konnte ich mich nicht
gleich in den Widerspruch des Augenblicks finden. Das anständige,
ruhig-edle Betragen der Mutter passte vollkommen in diesen Kreis, sie
unterschied sich nicht von den übrigen Frauen; Olivie dagegen bewies sich
ungeduldig, wie ein Fisch auf dem Strande. Wie sie mich sonst in dem
Garten anrief oder auf dem Felde bei Seite winkte, wenn sie mir etwas
Besonderes zu sagen hatte, so tat sie auch hier, indem sie mich in eine
Fenstertiefe zog; sie tat es mit Verlegenheit und ungeschickt, weil sie
fühlte, dass es nicht passte, und es doch tat. Sie hatte mir das
Unwichtigste von der Welt zu sagen, nichts als was ich schon wusste: dass es
ihr entsetzlich weh sei, dass sie sich an den Rhein, über den Rhein, ja in
die Türkei wünsche. Friedrike hingegen war in dieser Lage höchst
merkwürdig Eigentlich genommen passte sie auch nicht hinein; aber dies
zeugte für ihren Charakter, dass sie, anstatt sich in diesen Zustand zu
finden, unbewusst den Zustand nach sich modelte. Wie sie auf dem Lande mit
der Gesellschaft gebarte, so tat sie es auch hier. Jeden Augenblick wusste
sie zu beleben. Ohne zu beunruhigen, Setzte sie alles in Bewegung und
beruhigte gerade dadurch die Gesellschaft, die eigentlich nur von der
Langenweile beunruhigt wird. Sie erfüllte damit vollkommen den Wunsch der
städtischen Tanten, welche ja auch einmal, von ihrem Kanapee aus, Zeugen
jener ländlichen Spiele und Unterhaltungen sein wollten. War dieses zur
Genüge geschehn, so wurde die Garderobe, der Schmuck, und was die
städtischen, französisch gekleideten Nichten besonders auszeichnete,
betrachtet und ohne Neid bewundert. Auch mit mir machte Friedrike sich's
leicht, indem sie mich behandelte wie immer. Sie schien mir keinen andern
Vorzug zu geben, als den, dass sie ihr Begehren, ihre Wünsche eher an mich
als an einen andern richtete und mich dadurch als ihren Diener anerkannte.
Diese Dienerschaft nahm sie einen
der folgenden Tage mit Zuversicht in Anspruch, als sie mir vertraute, die
Damen wünschten mich lesen zu hören. Die Töchter des Hauses hatten viel
davon erzählt: denn in Sesenheim las ich, was und wann man's verlangte.
Ich war sogleich bereit, nur bat ich um Ruhe und Aufmerksamkeit auf
mehrere Stunden. Dies ging man ein, und ich las an einem Abend den ganzen
"Hamlet" ununterbrochen, in den Sinn des Stücks eindringend, wie ich es
nur vermochte, mit Lebhaftigkeit und Leidenschaft mich ausdrückend, wie es
der Jugend gegeben ist. Ich erntete großen Beifall. Friedrike hatte von
Zeit zu Zeit tief geatmet und ihre Wangen eine fliegende Röte überzogen.
Diese beiden Symptome eines bewegten zärtlichen Herzens, bei scheinbarer
Heiterkeit und Ruhe von außen, waren mir nicht unbekannt und der einzige
Lohn, nach dem ich strebte. Sie sammelte den Dank, dass sie mich
veranlasst
hatte, mit Freuden ein, und versagte sich, nach ihrer zierlichen Weise,
den kleinen Stolz nicht, in mir und durch mich geglänzt zu haben.
Dieser Stadtbesuch sollte nicht
lange dauern, aber die Abreise verzögerte sich. Friedrike tat das Ihrige
zur geselligen Unterhaltung, ich ließ es auch nicht fehlen; aber die
reichen Hülfsquellen, die auf dem Lande so ergiebig sind, versiegten bald
in der Stadt, und der Zustand ward um so peinlicher, als die Ältere nach
und nach ganz aus der Fassung kam. Die beiden Schwestern waren die
einzigen in der Gesellschaft, welche sich deutsch trugen. Friedrike hatte
sich niemals anders gedacht und glaubte überall so recht zu sein, sie
verglich sich nicht; aber Olivien war es ganz unerträglich, so
mägdehaft ausgezeichnet in dieser vornehm erscheinenden Gesellschaft einherzugehn.
Auf dem Lande bemerkte sie kaum die städtische Tracht an andern, sie
verlangte sie nicht; in der Stadt konnte sie die ländliche nicht ertragen.
Dies alles zu dem übrigen Geschicke städtischer Frauenzimmer, zu den
hundert Kleinigkeiten einer ganz entgegengesetzten Umgebung wühlte einige
Tage so in dem leidenschaftlichen Busen, dass ich alle schmeichelnde
Aufmerksamkeit auf sie zu wenden hatte, um sie, nach dem Wunsche
Friedrikens, zu begütigen. Ich fürchtete eine leidenschaftliche Szene. Ich
sah den Augenblick, da sie sich mir zu Füßen werfen und mich bei allem
Heiligen beschwören werde, sie aus diesem Zustande zu retten. Sie war
himmlisch gut, wenn sie sich nach ihrer Weise behaben konnte, aber ein
solcher Zwang setzte sie gleich in Missbehagen und konnte sie zuletzt bis
zur Verzweiflung treiben. Nun suchte ich zu beschleunigen, was die Mutter
mit Olivien wünschte und was Friedriken nicht zuwider war. Diese im
Gegensatze mit ihrer Schwester zu loben, enthielt ich mich nicht; ich
sagte ihr, wie sehr ich mich freue, sie unverändert und auch in diesen
Umgebungen so frei wie den Vogel auf den Zweigen zu finden. Sie war artig
genug zu erwidern, dass ich ja da sei, sie wolle weder hinaus noch herein,
wenn ich bei ihr wäre.
Endlich sah ich sie abfahren, und
es fiel mir wie ein Stein vom Herzen: denn meine Empfindung hatte den
Zustand von Friedriken und Olivien geteilt; ich war zwar nicht
leidenschaftlich geängstigt wie diese, aber ich fühlte mich doch
keineswegs wie jene behaglich.
Da ich eigentlich nach Straßburg
gegangen war, um zu promovieren, so gehörte es freilich unter die
Unregelmäßigkeiten meines Lebens, dass ich ein solches Hauptgeschäft als
eine Nebensache betrachtete. Die Sorge wegen des Examens hatte ich mir auf
eine sehr leichte Weise beiseitegeschafft; es war nun aber auch an die
Disputation zu denken: denn von Frankfurt abreisend hatte ich meinem Vater
versprochen und mir selbst fest vorgesetzt, eine solche zu schreiben. Es
ist der Fehler derjenigen, die manches, ja viel vermögen, dass sie sich
alles zutrauen, und die Jugend muss sogar in diesem Falle sein, damit nur
etwas aus ihr werde. Eine Übersicht der Rechtswissenschaft und ihres
ganzen Fachwerks hatte ich mir so ziemlich verschafft, einzelne rechtliche
Gegenstände interessierten mich hinlänglich, und ich glaubte, da ich mir
den braven Leyser zum Vorbild genommen hatte, mit meinem kleinen
Menschenverstand ziemlich durchzukommen. Es zeigten sich große Bewegungen
in der Jurisprudenz; es sollte mehr nach Billigkeit geurteilt werden; alle
Gewohnheitsrechte sah man täglich gefährdet, und besonders dem
Kriminalwesen stand eine große Veränderung bevor. Was mich selbst betraf,
so fühlte ich wohl, dass mir zur Ausfüllung jener Rechtstopik, die ich mir
gemacht hatte, unendlich vieles fehle; das eigentliche Wissen ging mir ab,
und keine innere Richtung drängte mich zu diesen Gegenständen. Auch
mangelte der Anstoß von außen, ja mich hatte eine ganz andere Fakultät mit
fortgerissen. Überhaupt, wenn ich Interesse finden sollte, so musste ich
einer Sache irgend etwas abgewinnen, ich musste etwas an ihr gewahr werden,
das mir fruchtbar schien und Aussichten gab. So hatte ich mir einige
Materien wohl gemerkt, auch sogar darauf gesammelt, und nahm auch meine
Kollektaneen vor, überlegte das, was ich behaupten, das Schema, wonach ich
die einzelnen Elemente ordnen wollte, nochmals, und arbeitete so eine
Zeitlang; allein ich war klug genug, bald zu sehen, dass ich nicht
fortkommen könne und dass, um eine besondere Materie abzuhandeln, auch ein
besonderer und lang anhaltender Fleiß erforderlich sei, ja dass man nicht
einmal ein solches Besondere mit Glück vollführen werde, wenn man nicht im
Ganzen, wo nicht Meister, doch wenigstens Altgeselle sei.
Die Freunde, denen ich meine
Verlegenheit mitteilte, fanden mich lächerlich, weil man über Theses
ebenso gut, ja noch besser als über einen Traktat disputieren könne; in
Straßburg sei das gar nicht ungewöhnlich. Ich ließ mich zu einem solchen
Ausweg sehr geneigt finden, allein mein Vater, dem ich deshalb schrieb,
verlangte ein ordentliches Werk, das ich, wie er meinte, sehr wohl
ausfertigen könnte, wenn ich nur wollte, und mir die gehörige Zeit dazu
nähme. Ich war nun genötigt, mich auf irgend ein Allgemeines zu werfen,
und etwas zu wählen, was mir geläufig wäre. Die Kirchengeschichte war mir
fast noch bekannter als die Weltgeschichte, und mich hatte von jeher der
Konflikt, in welchem sich die Kirche, der öffentlich anerkannte
Gottesdienst, nach zwei Seiten hin befindet und immer befinden wird,
höchlich interessiert. Denn einmal liegt sie in ewigem Streit mit dem
Staat, über den sie sich erheben, und sodann mit den einzelnen, die sie
alle zu sich versammeln will. Der Staat von seiner Seite will ihr die
Oberherrschaft nicht zugestehn, und die einzelnen widersetzen sich ihrem
Zwangsrechte. Der Staat will alles zu öffentlichen, allgemeinen Zwecken,
der einzelne zu häuslichen, herzlichen, gemütlichen. Ich war von Kindheit
auf Zeuge solcher Bewegungen gewesen, wo die Geistlichkeit es bald mit
ihren Oberen, bald mit der Gemeine verdarb. Ich hatte mir daher in meinem
jugendlichen Sinne festgesetzt, dass der Staat, der Gesetzgeber, das Recht
habe, einen Kultus zu bestimmen, nach welchem die Geistlichkeit lehren und
sich benehmen solle, die Laien hingegen sich äußerlich und öffentlich
genau zu richten hätten; übrigens sollte die Frage nicht sein, was jeder
bei sich denke, fühle oder sinne. Dadurch glaubte ich alle Kollisionen auf
einmal gehoben zu haben. Ich wählte deshalb zu meiner Disputation die
erste Hälfte dieses Themas: dass nämlich der Gesetzgeber nicht allein
berechtigt, sondern verpflichtet sei, einen gewissen Kultus festzusetzen,
von welchem weder die Geistlichkeit noch die Laien sich lossagen dürften.
Ich führte dieses Thema teils historisch, teils räsonierend aus, indem ich
zeigte, dass alle öffentlichen Religionen durch Heerführer, Könige und
mächtige Männer eingeführt worden, ja dass dieses sogar der Fall mit der
christlichen sei. Das Beispiel des Protestantismus lag ja ganz nahe. Ich
ging bei dieser Arbeit um so kühner zu Werke, als ich sie eigentlich nur
meinen Vater zu befriedigen schrieb, und nichts sehnlicher wünschte und
hoffte, als dass sie die Zensur nicht passieren möchte. Ich hatte noch von
Behrisch her eine unüberwindliche Abneigung, etwas von mir gedruckt zu
sehn, und mein Umgang mit Herdern hatte mir meine Unzulänglichkeit nur
allzu deutlich aufgedeckt, ja ein gewisses Misstrauen gegen mich selbst war
dadurch völlig zur Reife gekommen.
Da ich diese Arbeit fast ganz aus
mir selbst schöpfte, und das Latein geläufig sprach und schrieb, so
verfloss mir die Zeit, die ich auf die Abhandlung verwendete, sehr
angenehm. Die Sache hatte wenigstens einigen Grund; die Darstellung war,
rednerisch genommen, nicht übel, das Ganze hatte eine ziemliche Rundung.
Sobald ich damit zu Rande war, ging ich sie mit einem guten Lateiner
durch, der, ob er gleich meinen Stil im ganzen nicht verbessern konnte,
doch alle auffallenden Mängel mit leichter Hand vertilgte, so dass etwas
zustande kam, das sich aufzeigen ließ. Eine reinliche Abschrift wurde
meinem Vater sogleich zugeschickt, welcher zwar nicht billigte, dass keiner
von den früher vorgenommenen Gegenständen ausgeführt worden sei, jedoch
mit der Kühnheit des Unternehmens als ein völlig protestantisch Gesinnter
wohl zufrieden war. Mein Seltsames wurde geduldet, meine Anstrengung
gelobt, und er versprach sich von der Bekanntmachung dieses Werkchens eine
vorzügliche Wirkung.
Ich überreichte nun meine Hefte der
Fakultät, und diese betrug sich glücklicherweise so klug als artig. Der
Dekan, ein lebhafter gescheiter Mann, fing mit vielen Lobeserhebungen
meiner Arbeit an, ging dann zum Bedenklichen derselben über, welches er
nach und nach in ein Gefährliches zu verwandeln wusste und damit schloss,
dass es nicht tätlich sein möchte, diese Arbeit als akademische
Dissertation bekannt zu machen. Der Aspirant habe sich der Fakultät als
einen denkenden jungen Mann gezeigt, von dem sie das Beste hoffen dürfe;
sie wolle mich gern, um die Sache nicht aufzuhalten, über Theses
disputieren lassen. Ich könne ja in der Folge meine Abhandlung, wie sie
vorliege oder weiter ausgearbeitet, lateinisch oder in einer andern
Sprache herausgeben; dies würde mir, als einem Privatmann und
Protestanten, überall leicht werden, und ich hätte mich des Beifalls um
desto reiner und allgemeiner alsdann zu erfreuen. Kaum verbarg ich dem
guten Manne, welchen Stein mir sein Zureden vom Herzen wälzte; bei jedem
neuen Argument, das er vorbrachte, um mich durch seine Weigerung nicht zu
betrüben oder zu erzürnen, ward es mir immer leichter im Gemüt, und ihm
zuletzt auch, als ich ganz unerwartet seinen Gründen nichts
entgegensetzte, sie vielmehr höchst einleuchtend fand und versprach, mich
in allem nach seinem Rat und nach seiner Anleitung zu benehmen. Ich setzte
mich nun wieder mit meinem Repetenten zusammen. Theses wurden ausgewählt
und gedruckt, und die Disputation ging, unter Opposition meiner
Tischgenossen, mit großer Lustigkeit, ja Leichtfertigkeit vorüber; da mir
denn meine alte Übung, im "Corpus juris" aufzuschlagen, gar sehr zustatten
kam, und ich für einen wohlunterrichteten Menschen gelten konnte. Ein
guter herkömmlicher Schmaus beschloss die Feierlichkeit.
Mein Vater war indessen sehr
unzufrieden, dass dieses Werkchen nicht als Disputation ordentlich gedruckt
worden war, weil er gehofft hatte, ich sollte bei meinem Einzuge in
Frankfurt Ehre damit einlegen. Er wollte es daher besonders herausgegeben
wissen; ich stellte ihm aber vor, dass die Materie, die nur skizziert sei,
künftig weiter ausgeführt werden müsste. Er hob zu diesem Zwecke das
Manuskript sorgfältig auf, und ich habe es nach mehreren Jahren noch unter
seinen Papieren gesehn.
Meine Promotion war am 6. August
1771 geschehn, den Tag darauf starb Schöpflin im fünfundsiebenzigsten
Jahre. Auch ohne nähere Berührung hatte derselbe bedeutend auf mich
eingewirkt: denn vorzügliche mitlebende Männer sind den größeren Sternen
zu vergleichen, nach denen, solange sie nur über dem Horizont stehen,
unser Auge sich wendet, und sich gestärkt und gebildet fühlt, wenn es ihm
vergönnt ist, solche Vollkommenheiten in sich aufzunehmen. Die freigebige
Natur hatte Schöpflinen ein vorteilhaftes Äußere verliehn, schlanke
Gestalt, freundliche Augen, redseligen Mund, eine durchaus angenehme
Gegenwart. Auch Geistesgaben erteilte sie ihrem Liebling nicht kärglich,
und sein Glück war, ohne dass er sich mühsam angestrengt hätte, die Folge
angeborner und ruhig ausgebildeter Verdienste. Er gehörte zu den
glücklichen Menschen, welche Vergangenheit und Gegenwart zu vereinigen
geneigt sind, die dem Lebensinteresse das historische Wissen anzuknüpfen
verstehn. Im Badenschen geboren, in Basel und Straßburg erzogen, gehörte
er dem paradiesischen Rheintal ganz eigentlich an, als einem
ausgebreiteten wohlgelegenen Vaterlande. Auf historische und antiquarische
Gegenstände hingewiesen, ergriff er sie munter durch eine glückliche
Vorstellungskraft, und erhielt sie sich durch das bequemste Gedächtnis.
Lern - und lehrbegierig wie er war, ging er einen gleich vorschreitenden
Studien- und Lebensgang. Nun emergiert und eminiert er bald ohne
Unterbrechung irgend einer Art; er verbreitet sich mit Leichtigkeit in der
literarischen und bürgerlichen Welt: denn historische Kenntnisse reichen
überall hin, und Leutseligkeit schließt sich überall an. Er reist durch
Deutschland, Holland, Frankreich, Italien; kommt in Berührung mit allen
Gelehrten seiner Zeit; er unterhält die Fürsten, und nur, wenn durch seine
lebhafte Redseligkeit die Stunden der Tafel, der Audienz verlängert
werden, ist er den Hofleuten lästig. Dagegen erwirbt er sich das Vertrauen
der Staatsmänner, arbeitet für sie die gründlichsten Deduktionen und
findet so überall einen Schauplatz für seine Talente. Man wünscht ihn an
gar manchem Orte festzuhalten; allein er beharrt bei seiner Treue für
Straßburg und den französischen Hof. Seine unverrückte deutsche
Redlichkeit wird auch dort anerkannt, man schützt ihn sogar gegen den
mächtigen Prätor Klinglin, der ihn heimlich anfeindet. Gesellig und
gesprächig von Natur, verbreitet er sich, wie im Wissen und Geschäften, so
auch im Umgange, und man begriffe kaum, wo er alle Zeit hergenommen,
wüssten wir nicht, dass eine Abneigung gegen die Frauen ihn durch sein
ganzes Leben begleitet, wodurch er so manche Tage und Stunden gewann,
welche von frauenhaft Gesinnten glücklich vergeudet werden.
Übrigens gehört er auch als Autor
dem gemeinen Wesen und als Redner der Menge. Seine Programme, seine Reden
und Anreden sind dem besondern Tag, der eintretenden Feierlichkeit
gewidmet, ja sein großes Werk "Alsatia illustrata" gehört dem Leben an,
indem er die Vergangenheit wieder hervorruft, verblichene Gestalten
auffrischt, den behauenen, den gebildeten Stein wieder belebt, erloschene,
zerstückte Inschriften zum zweiten Mal vor die Augen, vor den Sinn des
Lesers bringt. Auf solche Weise erfüllt seine Tätigkeit das Elsass und die
Nachbarschaft; in Baden und der Pfalz behält er bis ins höchste Alter
einen ununterbrochenen Einfluss; in Mannheim stiftet er die Akademie der
Wissenschaften und erhält sich als Präsident derselben bis an seinen Tod.
Genähert habe ich mich diesem
vorzüglichen Manne niemals als in einer Nacht, da wir ihm ein
Fackelständchen brachten. Den mit Linden überwölbten Hof des alten
Stiftgebäudes erfüllten unsere Pechfeuer mehr mit Rauch, als dass sie ihn
erleuchtet hätten. Nach geendigtem Musikgeräusch kam er herab und trat
unter uns; und hier war er recht an seinem Platze. Der schlank und wohl
gewachsene heitere Greis stand mit leichtem freien Wesen würdig vor uns
und hielt uns wert genug, eine wohlgedachte Rede, ohne Spur von Zwang und
Pedantismus, väterlich liebevoll auszusprechen, so dass wir uns in dem
Augenblick etwas dünkten, da er uns wie die Könige und Fürsten behandelte,
die er öffentlich anzureden so oft berufen war. Wir ließen unsere
Zufriedenheit überlaut vernehmen, Trompeten- und Paukenschall erklang
wiederholt, und die allerliebste, hoffnungsvolle akademische Plebs verlor
sich mit innigem Behagen nach Hause.
Seine Schüler und
Studienverwandten, Koch und Oberlin, fanden zu mir schon ein näheres
Verhältnis. Meine Liebhaberei zu altertümlichen Resten war
leidenschaftlich. Sie ließen mich das Museum wiederholt betrachten,
welches die Belege zu seinem großen Werke über Elsass vielfach enthielt.
Eben dieses Werk hatte ich erst nach jener Reise, wo ich noch Altertümer
an Ort und Stelle gefunden, näher kennen gelernt, und nunmehr vollkommen
gefördert, konnte ich mir, bei größern und kleinern Exkursionen, das
Rheintal als römische Besitzung vergegenwärtigen und gar manchen Traum der
Vorzeit mir wachend ausmalen.
Kaum hatte ich mir hierin
einigermaßen aufgeholfen, als mich Oberlin zu den Denkmalen der Mittelzeit
hinwies und mit den daher noch übrigen Ruinen und Resten, Siegeln und
Dokumenten bekannt machte, ja eine Neigung zu den so genannten Minnesingern
und Heldendichtern einzuflößen suchte. Diesem wackeren Manne, sowie Herrn
Koch, bin ich viel schuldig geworden, und wenn es ihrem Willen und Wunsche
nach gegangen wäre, so hätte ich ihnen das Glück meines Lebens verdanken
müssen. Damit verhielt es sich aber folgendergestalt.
Schöpflin, der sich in der höheren
Sphäre des Staatsrechts zeitlebens bewegt hatte und den großen Einfluss
wohl kannte, welchen solche und verwandte Studien bei Höfen und in
Kabinetten einem fähigen Kopfe zu verschaffen geeignet sind, fühlte eine
unüberwindliche, ja ungerechte Abneigung gegen den Zustand des Zivilisten,
und hatte die gleiche Gesinnung den Seinigen eingeflößt.. Obgenannte beide
Männer, Freunde von Salzmann, hatten auf eine liebreiche Weise von mir
Kenntnis genommen. Das leidenschaftliche Ergreifen äußerer Gegenstände,
die Darstellungsart, womit ich die Vorzüge derselben herauszuheben und
ihnen ein besonderes Interesse zu verleihen wusste, schätzten sie höher als
ich selbst. Meine geringe, ich kann wohl sagen notdürftige Beschäftigung
mit dem Zivilrechte war ihnen nicht unbemerkt geblieben; sie kannten mich
genug, um zu wissen, wie leicht ich bestimmbar sei; aus meiner Lust zum
akademischen Leben hatte ich auch kein Geheimnis gemacht, und sie dachten
mich daher für Geschichte, Staatsrecht, Redekunst, erst nur im
Vorübergehn, dann aber entschiedener, zu erwerben. Straßburg selbst bot
Vorteile genug. Eine Aussicht auf die deutsche Kanzlei in Versailles, der
Vorgang von Schöpflin, dessen Verdienst mir freilich unerreichbar schien,
sollte zwar nicht zur Nachahmung, doch zur Nacheiferung reizen und
vielleicht dadurch ein ähnliches Talent zur Ausbildung gelangen, welches
sowohl dem, der sich dessen rühmen dürfte, ersprießlich, als andern, die
es für sich zu gebrauchen dächten, nützlich sein könnte. Diese meine
Gönner, und Salzmann mit ihnen, legten auf mein Gedächtnis und auf meine
Fähigkeit, den Sinn der Sprachen zu fassen, einen großen Wert, und suchten
hauptsächlich dadurch ihre Absichten und Vorschläge zu motivieren.
Wie nun aus allem diesem nichts
geworden, und wie es gekommen, dass ich wieder von der französischen Seite
auf die deutsche herübergetreten, gedenk ich hier zu entwickeln. Man
erlaube mir, wie bisher, zum Übergange einige allgemeine Betrachtungen.
Es sind wenig Biographien, welche
einen reinen, ruhigen, steten Fortschritt des Individuums darstellen
können. Unser Leben ist, wie das Ganze, in dem wir enthalten sind, auf
eine unbegreifliche Weise aus Freiheit und Notwendigkeit zusammengesetzt.
Unser Wollen ist ein Vorausverkünden dessen, was wir unter allen Umständen
tun werden. Diese Umstände aber ergreifen uns auf ihre eigne Weise. Das
Was liegt in uns, das Wie hängt selten von uns ab, nach dem Warum dürfen
wir nicht fragen, und deshalb verweist man uns mit Recht aufs Quia.
Die französische Sprache war mir
von Jugend auf lieb; ich hatte sie in einem bewegteren Leben, und ein
bewegteres Leben durch sie kennen gelernt. Sie war mir ohne Grammatik und
Unterricht, durch Umgang und Übung, wie eine zweite Muttersprache zu eigen
geworden. Nun wünschte ich mich derselben mit größerer Leichtigkeit zu
bedienen, und zog deswegen Straßburg zum abermaligen akademischen
Aufenthalt andern hohen Schulen vor, aber leider sollte ich dort gerade
das Umgekehrte von meinen Hoffnungen erfahren, und von dieser Sprache,
diesen Sitten eher abals ihnen zugewendet werden. Die Franzosen, welche
sich überhaupt eines guten Betragens befleißigen, sind gegen Fremde, die
ihre Sprache zu reden anfangen, nachsichtig, sie werden niemanden über
irgend einen Fehler auslachen, oder ihn deshalb ohne Umschweif tadeln. Da
sie jedoch nicht wohl ertragen mögen, dass in ihrer Sprache gesündigt wird,
so haben sie die Art, eben dasselbe, was man gesagt hat, mit einer anderen
Wendung zu wiederholen und gleichsam höflich zu bekräftigen, sich dabei
aber des eigentlichen Ausdrucks, den man hätte gebrauchen sollen, zu
bedienen, und auf diese Weise den Verständigen und Aufmerksamen auf das
Rechte und Gehörige zu führen.
So sehr man nun, wenn es einem
Ernst ist, wenn man Selbstverleugnung genug hat, sich für einen Schüler zu
geben, hiebei gewinnt und gefördert wird, so fühlt man sich doch immer
einigermaßen gedemütiget, und, da man doch auch um der Sache willen redet,
oft allzu sehr unterbrochen, ja abgelenkt, und man lässt ungeduldig das
Gespräch fallen. Dies begegnete besonders mir vor andern, indem ich immer
etwas Interessantes zu sagen glaubte, dagegen aber auch etwas Bedeutendes
vernehmen, und nicht immer bloß auf den Ausdruck zurückgewiesen sein
wollte; ein Fall, der bei mir öfter eintrat, weil mein Französisch viel
buntscheckiger war als das irgend eines andern Fremden. Von Bedienten,
Kammerdienern und Schildwachen, jungen und alten Schauspielern,
theatralischen Liebhabern, Bauern und Helden hatte ich mir die
Redensarten, sowie die Akzentuationen gemerkt, und dieses babylonische
Idiom sollte sich durch ein wunderliches Ingrediens noch mehr verwirren,
indem ich den französischen reformierten Geistlichen gern zuhörte und ihre
Kirchen um so lieber besuchte, als ein sonntägiger Spaziergang nach
Bockenheim dadurch nicht allein erlaubt, sondern geboten war. Aber auch
hiermit sollte es noch nicht genug sein: denn als ich in den
Jünglingsjahren immer mehr auf die Deutschheit des sechzehnten
Jahrhunderts gewiesen ward, so schloss ich gar bald auch die Franzosen
jener herrlichen Epoche in diese Neigung mit ein. Montaigne,
Amyot,
Rabelais, Marot waren meine Freunde, und erregten in mir Anteil und
Bewunderung.
Alle diese verschiedenen Elemente
bewegten sich nun in meiner Rede chaotisch durch einander, so dass für den
Zuhörer die Intention über dem wunderlichen Ausdruck meist verloren ging,
ja dass ein gebildeter Franzose mich nicht mehr höflich zurechtweisen,
sondern geradezu tadeln und schulmeistern musste. Abermals ging es mir also
hier wie vordem in Leipzig, nur dass ich mich diesmal nicht auf das Recht
meiner Vatergegend, so gut als andere Provinzen idiotisch zu sprechen,
zurückziehn konnte, sondern hier, auf fremdem Grund und Boden, mich einmal
hergebrachten Gesetzen fügen sollte.
Vielleicht hätten wir uns auch wohl
hierein ergeben, wenn uns nicht ein böser Genius in die Ohren geraunt
hätte, alle Bemühungen eines Fremden, Französisch zu reden, würden immer
ohne Erfolg bleiben: denn ein geübtes Ohr höre den Deutschen, den
Italiener, den Engländer unter seiner französischen Maske gar wohl heraus;
geduldet werde man, aber keineswegs in den Schoß der einzig sprachseligen
Kirche aufgenommen.
Nur wenige Ausnahmen gab man zu.
Man nannte uns einen Herrn von Grimm, aber selbst Schöpflin sollte den
Gipfel nicht erreicht haben. Sie ließen gelten, dass er früh die
Notwendigkeit, sich vollkommen französisch auszudrücken, wohl eingesehn;
sie billigten seine Neigung, sich jedermann mitzuteilen, besonders aber
die Großen und Vornehmen zu unterhalten; lobten sogar, dass er, auf dem
Schauplatz, wo er stand, die Landessprache zu der seinigen zu machen und
sich möglichst zum französischen Gesellschafter und Redner auszubilden
gesucht. Was hilft ihm aber das Verleugnen seiner Muttersprache, das
Bemühen um eine fremde? Niemand kann er es recht machen. In der
Gesellschaft will man ihn eitel finden: als wenn sich jemand ohne
Selbstgefühl und Selbstgefälligkeit andern mitteilen möchte und könntet
Sodann versichern die feinen Welt- und Sprachkenner, er disseriere und
dialogiere mehr, als dass er eigentlich konversiere. Jenes ward als Erb-
und Grundfehler der Deutschen, dieses als die Kardinaltugend der Franzosen
allgemein anerkannt. Als öffentlichem Redner geht es ihm nicht besser.
lässt er eine wohl ausgearbeitete Rede an den König oder die Fürsten
drucken, so passen die Jesuiten auf, die ihm, als einem Protestanten, gram
sind, und zeigen das Unfranzösische seiner Wendungen.
Anstatt uns nun hieran zu trösten
und, als grünes Holz, dasjenige zu ertragen, was dem dürren auflag, so
ärgerte uns dagegen diese pedantische Ungerechtigkeit; wir verzweifeln und
überzeugen uns vielmehr an diesem auffallenden Beispiele, dass die Bemühung
vergebens sei, den Franzosen durch die Sache genug zu tun, da sie an die
äußern Bedingungen, unter welchen alles erscheinen soll, allzu genau
gebunden sind. Wir fassen daher den umgekehrten Entschluss, die
französische Sprache gänzlich abzulehnen und uns mehr als bisher mit
Gewalt und Ernst der Muttersprache zu widmen.
Auch hiezu fanden wir im Leben
Gelegenheit und Teilnahme. Elsass war noch nicht lange genug mit Frankreich
verbunden, als dass nicht noch bei alt und jung eine liebevolle
Anhänglichkeit an alte Verfassung, Sitte, Sprache, Tracht sollte übrig
geblieben sein. Wenn der Überwundene die Hälfte seines Daseins
notgedrungen verliert, so rechnet er sich's zur Schmach, die andere Hälfte
freiwillig aufzugeben. Er hält daher an allem fest, was ihm die vergangene
gute Zeit zurückrufen und die Hoffnung der Wiederkehr einer glücklichen
Epoche nähren kann. Gar manche Einwohner von Straßburg bildeten zwar
abgesonderte, aber doch dem Sinne nach verbundene kleine Kreise, welche
durch die vielen Untertanen deutscher Fürsten, die unter französischer
Hoheit ansehnliche Strecken Landes besaßen, stets vermehrt und rekrutiert
wurden: denn Väter und Söhne hielten sich Studierens oder Geschäfts wegen
länger oder kürzer in Straßburg auf.
An unserm Tische ward gleichfalls
nichts wie Deutsch gesprochen.
Salzmann drückte sich im Französischen mit
vieler Leichtigkeit und Eleganz aus, war aber unstreitig dem Streben und
der Tat nach ein vollkommener Deutscher; Lersen hätte man als Muster eines
deutschen Jünglings aufstellen können; Meyer von Lindau
schlenderte lieber
auf gut deutsch, als dass er sich auf gut französisch hätte zusammennehmen
sollen, und wenn unter den übrigen auch mancher zu gallischer Sprache und
Sitte hinneigte, so ließen sie doch, solange sie bei uns waren, den
allgemeinen Ton auch über sich schalten und walten.
Von der Sprache wendeten wir uns zu
den Staatsverhältnissen. Zwar wussten wir von unserer Reichsverfassung
nicht viel Löbliches zu sagen; wir gaben zu, dass sie aus lauter
gesetzlichen Missbräuchen bestehe, erhuben uns aber um desto höher über die
französische gegenwärtige Verfassung, die sich in lauter gesetzlosen
Missbräuchen verwirre, deren Regierung ihre Energie nur am falschen Orte
sehen lasse, und gestatten müsse, dass eine gänzliche Veränderung der Dinge
schon in schwarzen Aussichten öffentlich prophezeit werde.
Blickten wir hingegen nach Norden,
so leuchtete uns von dort Friedrich, der Polarstern, her, um den sich
Deutschland, Europa, ja die Welt zu drehen schien. Sein Übergewicht in
allem offenbarte sich am stärksten, als in der französischen Armee das
preußische Exerzitium und sogar der preußische Stock eingeführt werden
sollte. Wir verziehen ihm übrigens seine Vorliebe für eine fremde Sprache,
da wir ja die Genugtuung empfanden, dass ihm seine französischen Poeten,
Philosophen und Literatoren Verdruss zu machen fortfuhren und wiederholt
erklärten, er sei nur als Eindringling anzusehn und zu behandeln.
Was uns aber von den Franzosen
gewaltiger als alles andere entfernte, war die wiederholte unhöfliche
Behauptung dass es den Deutschen überhaupt, sowie dem nach französischer
Kultur strebenden Könige, an Geschmack fehle. Über diese Redensart, die,
wie ein Refrain, sich an jedes Urteil anschloss, suchten wir uns durch
Nichtachtung zu beruhigen; aufklären darüber konnten wir uns aber um so
weniger, als man uns versichern wollte, schon Ménage habe gesagt, die
französischen Schriftsteller besäßen alles, nur nicht Geschmack; so wie
wir denn auch aus dem jetzt lebenden Paris zu erfahren hatten, dass die
neusten Autoren sämtlich des Geschmacks ermangelten, und Voltaire selbst
diesem höchsten Tadel nicht ganz entgehen könne. Schon früher und
wiederholt auf die Natur gewiesen, wollten wir daher nichts gelten lassen
als Wahrheit und Aufrichtigkeit des Gefühls, und den raschen derben
Ausdruck desselben.
Freundschaft, Liebe, Brüderschaft,
Trägt die sich nicht von selber vor?
war Losung und Feldgeschrei, woran
sich die Glieder unserer kleinen akademischen Horde zu erkennen und zu
erquicken pflegten. Diese Maxime lag zum Grunde allen unsern geselligen
Gelagen, bei welchen uns denn freilich manchen Abend Vetter Michel in
seiner wohlbekannten Deutschheil zu besuchen nicht verfehlte. Will man in
dem bisher Erzählten nur äußere zufällige Anlässe und persönliche
Eigenheiten finden, so hatte die französische Literatur an sich selbst
gewisse Eigenschaften, welche den strebenden Jüngling mehr abstoßen als anziehn
mussten. Sie war nämlich bejahrt und vornehm, und durch beides kann
die nach Lebensgenuss und Freiheit umschauende Jugend nicht ergetzt werden.
Seit dem sechzehnten Jahrhundert
hatte man den Gang der französischen Literatur niemals völlig unterbrochen gesehn, ja die innern politischen und religiösen Unruhen sowohl als die
äußeren Kriege beschleunigten ihre Fortschritte; schon vor hundert Jahren
aber, so hörte man allgemein behaupten, solle sie in ihrer vollen Blüte
gestanden haben. Durch günstige Umstände sei auf einmal eine reichliche
Ernte gereift und glücklich eingebracht worden, dergestalt, dass die
größten Talente des achtzehnten Jahrhunderts sich nur bescheidentlich mit
einer Nachlese begnügen müssen.
Indessen war aber doch auch gar
manches veraltet, das Lustspiel am ersten, welches immer wieder
aufgefrischt werden musste, um sich, zwar minder vollkommen, aber doch mit
neuem Interesse, dem Leben und den Sitten anzuschmiegen. Der Tragödien
waren viele vom Theater verschwunden, und Voltaire ließ die jetzt
dargebotene bedeutende Gelegenheit nicht aus den Händen,
Corneilles Werke
herauszugeben, um zu zeigen, wie mangelhaft sein Vorgänger gewesen sei,
den er, der allgemeinen Stimme nach, nicht erreicht haben sollte.
Und eben dieser Voltaire, das
Wunder seiner Zeit, war nun selbst bejahrt wie die Literatur, die er
beinah ein Jahrhundert hindurch belebt und beherrscht hatte. Neben ihm
existierten und vegetierten noch, in mehr oder weniger tätigem und
glücklichem Alter, viele Literatoren, die nach und nach verschwanden. Der
Einfluss der Sozietät auf die Schriftsteller nahm immer mehr überhand: denn
die beste Gesellschaft, bestehend aus Personen von Geburt, Rang und
Vermögen, wählte zu einer ihrer Hauptunterhaltungen die Literatur, und
diese ward dadurch ganz gesellschaftlich und vornehm. Standespersonen und
Literatoren bildeten sich wechselsweise, und mussten sich wechselsweise
verbilden: denn alles Vornehme ist eigentlich ablehnend, und ablehnend
ward auch die französische Kritik, verneinend, herunterziehend, missredend.
Die höhere Klasse bediente sich solcher Urteile gegen die Schriftsteller,
die Schriftsteller, mit etwas weniger Anstand, verfuhren so unter
einander, ja gegen ihre Gönner. Konnte man dem Publikum nicht imponieren,
so suchte man es zu überraschen, oder durch Demut zu gewinnen; und so
entsprang, abgesehen davon, was Kirche und Staat im Innersten bewegte,
eine solche literarische Gärung, dass Voltaire selbst seiner vollen
Tätigkeit, seines ganzen Übergewichts bedurfte, um sich über dem Strome
der allgemeinen Nichtachtung empor zu halten. Schon hieß er laut ein altes
eigenwilliges Kind; seine unermüdet fortgesetzten Bemühungen betrachtete
man als eitles Bestreben eines abgelebten Alters; gewisse Grundsätze, auf
denen er seine ganze Lebenszeit bestanden, deren Ausbreitung er seine Tage
gewidmet, wollte man nicht mehr schätzen und ehren; ja seinen Gott, durch
dessen Bekenntnis er sich von allem atheistischen Wesen loszusagen
fortfuhr, ließ man ihm nicht mehr gelten; und so musste er selbst, der
Altvater und Patriarch, gerade wie sein jüngster Mitbewerber, auf den
Augenblick merken, nach neuer Gunst haschen, seinen Freunden zu viel
Gutes, seinen Feinden zu viel Übles erzeigen, und, unter dem Schein eines
leidenschaftlich wahrheitsliebenden Strebens, unwahr und falsch handeln.
War es denn wohl der Mühe wert, ein so tätiges großes Leben geführt zu
haben, wenn es abhängiger enden sollte, als es angefangen hatte? Wie
unerträglich ein solcher Zustand sei, entging seinem hohen Geiste, seiner
zarten Reizbarkeit nicht; er machte sich manchmal sprung- und stoßweise
Luft, ließ seiner Laune den Zügel schießen und hieb mit ein paar
Fechterstreichen über die Schnur, wobei sich meist Freunde und Feinde
unwillig gebärdeten: denn jedermann glaubte ihn zu übersehn, obschon
niemand es ihm gleich tun konnte. Ein Publikum, das immer nur die Urteile
alter Männer hört, wird gar zu leicht altklug, und nichts ist
unzulänglicher als ein reifes Urteil, von einem unreifen Geiste
aufgenommen.
Uns Jünglingen, denen, bei einer
deutschen Natur- und Wahrheitsliebe, als beste Führerin im Leben und
Lernen, die Redlichkeit gegen uns selbst und andere immer vor Augen
schwebte, ward die parteiische Unredlichkeit Voltaires und die Verbildung
so vieler würdigen Gegenstände immer mehr zum Verdruss, und wir bestärkten
uns täglich in der Abneigung gegen ihn. Er hatte die Religion und die
heiligen Bücher, worauf sie gegründet ist, um den so genannten Pfaffen zu
schaden, niemals genug herabsetzen können und mir dadurch manche
unangenehme Empfindung erregt. Da ich nun aber gar vernahm, dass er, um die
Überlieferung einer Sündflut zu entkräften, alle versteinte Muscheln
leugnete, und solche nur für Naturspiele gelten ließ, so verlor er
gänzlich mein Vertrauen: denn der Augenschein hatte mir auf dem Bastberge
deutlich genug gezeigt, dass ich mich auf altem abgetrockneten Meeresgrund,
unter den Exuvien seiner Ureinwohner befinde. Ja! diese Berge waren
einstmals von Wellen bedeckt; ob vor oder während der Sündflut, das konnte
mich nicht rühren, genug, das Rheintal war ein ungeheuerer See, eine
unübersehliche Bucht gewesen; das konnte man mir nicht ausreden. Ich
gedachte vielmehr in Kenntnis der Länder und Gebirge vorzuschreiten, es
möchte sich daraus ergeben, was da wollte.
Bejahrt also und vornehm war an
sich selbst und durch Voltairen die französische Literatur. Lasset uns
diesem merkwürdigen Manne noch einige Betrachtung widmen!
Auf tätiges und geselliges Leben,
auf Politik, auf Erwerb im großen, auf das Verhältnis zu den Herren der
Erde und Benutzung dieses Verhältnisses, damit er selbst zu den Herren der
Erde gehöre, dahin war von Jugend auf Voltaires Wunsch und Bemühung
gewendet. Nicht leicht hat sich jemand so abhängig gemacht, um unabhängig
zu sein. Auch gelang es ihm, die Geister zu unterjochen; die Nation fiel
ihm zu. Vergebens entwickelten seine Gegner mäßige Talente und einen
ungeheueren Hass; nichts gereichte zu seinem Schaden. Den Hof zwar konnte
er nie mit sich versöhnen, aber dafür waren ihm fremde Könige zinsbar.
Katharina und Friedrich die Großen, Gustav von Schweden, Christian von
Dänemark, Poniatowski von Polen, Heinrich von Preußen, Karl von
Braunschweig bekannten sich als seine Vasallen; sogar Päpste glaubten ihn
durch einige Nachgiebigkeit kirren zu müssen. dass Joseph der Zweite sich
von ihm abhielt, gereichte diesem Fürsten nicht einmal zum Ruhme: denn es
hätte ihm und Seinen Unternehmungen nicht geschadet, wenn er, bei so
schönem Verstande, bei so herrlichen Gesinnungen, etwas geistreicher, ein
besserer Schätzer des Geistes gewesen wäre.
Das, was ich hier gedrängt und in
einigem Zusammenhange vortrage, tönte zu jener Zeit, als Ruf des
Augenblicks, als ewig zwiespältiger Missklang, unzusammenhängend und
unbelehrend in unseren Ohren. Immer hörte man nur das Lob der Vorfahren.
Man forderte etwas Gutes, Neues; aber immer das Neuste wollte man nicht.
Kaum hatte auf dem längst erstarrten Theater ein Patriot
nationalfranzösische, herzerhebende Gegenstände dargestellt, kaum hatte
"Die Belagerung von Calais" sich einen enthusiastischen Beifall gewonnen,
so sollte schon dieses Stück, mitsamt seinen vaterländischen Gesellen,
hohl und in jedem Sinne verwerflich sein. Die Sittenschilderungen des
Destouches, an denen ich mich als Knabe so oft ergetzt, hieß man schwach,
der Name dieses Ehrenmannes war verschollen, und wie viel andere
Schriftsteller müsste ich nicht nennen, um derentwillen ich den Vorwurf,
als urteile ich wie ein Provinzler, habe erdulden müssen, wenn ich gegen
jemand, der mit dem neusten literarischen Strome dahinfuhr, irgend einen
Anteil an solchen Männern und ihren Werken gezeigt hatte.
So wurden wir andern deutschen
Gesellen denn immer verdrießlicher. Nach unsern Gesinnungen, nach unserer
Natureigenheit liebten wir die Eindrücke der Gegenstände festzuhalten, sie
nur langsam zu verarbeiten, und, wenn es ja sein sollte, sie so spät als
möglich fahren zu lassen. Wir waren überzeugt, durch treues Aufmerken,
durch fortgesetzte Beschäftigung lasse sich allen Dingen etwas abgewinnen,
und man müsse durch beharrlichen Eifer doch endlich auf einen Punkt
gelangen, wo sich mit dem Urteil zugleich der Grund desselben aussprechen
lasse. Auch verkannten wir nicht, dass die große und herrliche französische
Welt uns manchen Vorteil und Gewinn darbiete: denn Rousseau hatte uns
wahrhaft zugesagt. Betrachten wir aber sein Leben und sein Schicksal, so
war er doch genötigt, den größten Lohn für alles, was er geleistet, darin
zu finden, dass er unerkannt und vergessen in Paris leben durfte.
Wenn wir von den Enzyklopädisten
reden hörten, oder einen Band ihres ungeheuren Werks aufschlugen, so war
es uns zu Mute, als wenn man zwischen den unzähligen bewegten Spulen und
Weberstühlen einer großen Fabrik hingeht, und vor lauter Schnarren und
Rasseln; vor allem Aug und Sinne verwirrenden Mechanismus, vor lauter
Unbegreiflichkeit einer auf das mannigfaltigste in einander greifenden
Anstalt, in Betrachtung dessen, was alles dazu gehört, um ein Stück Tuch
zu fertigen, sich den eignen Rock selbst verleidet fühlt, den man auf dem
Leibe trägt.
Diderot war nahe genug mit uns
verwandt; wie er denn in alle dem, weshalb ihn die Franzosen tadeln, ein
wahrer Deutscher ist. Aber auch sein Standpunkt war schon zu hoch, sein
Gesichtskreis zu weit, als dass wir uns hätten zu ihm stellen und an seine
Seite setzen können. Seine Naturkinder jedoch, die er mit großer
rednerischer Kunst herauszuheben und zu adeln wusste, behagten uns gar
sehr, Seine wackeren Wilddiebe und Schleichhändler entzückten uns, und
dieses Gesindel hat in der Folge auf dem deutschen Parnaß nur allzu sehr
gewuchert. So war er es denn auch, der, wie Rousseau, von dem geselligen
Leben einen Ekelbegriff verbreitete, eine stille Einleitung zu jenen
ungeheueren Weltveränderungen, in welchen alles Bestehende unterzugehen
schien.
Uns ziemt jedoch, diese
Betrachtungen noch an die Seite zu lehnen und zu bemerken, was genannte
beide Männer auf Kunst gewirkt. Auch hier wiesen sie, auch von ihr
drängten sie uns zur Natur.
Die höchste Aufgabe einer jeden
Kunst ist, durch den Schein die Täuschung einer höheren Wirklichkeit zu
geben. Ein falsches Bestreben aber ist, den Schein so lange zu
verwirklichen, bis endlich nur ein gemeines Wirkliche übrig bleibt.
Als ein ideelles Lokal hatte die
Bühne, durch Anwendung der perspektivischen Gesetze auf hinter einander
gestellten Kulissen, den höchsten Vorteil erlangt, und nun wollte man
diesen Gewinn mutwillig aufgeben, die Seiten des Theaters zuschließen und
wirkliche Stubenwände formieren. Mit einem Solchen Bühnenlokal sollte denn
auch das Stück selbst, die Art zu spielen der Akteurs, kurz, alles
zusammentreffen, und ein ganz neues Theater dadurch entspringen.
Die französischen Schauspieler
hatten im Lustspiel den Gipfel des Kunstwahren erreicht. Der Aufenthalt in
Paris, die Beobachtung des Äußern der Hofleute, die Verbindung der Akteurs
und Aktricen durch Liebeshändel mit den höheren Ständen, alles trug dazu
bei, die höchste Gewandtheit und Schicklichkeit des geselligen Lebens
gleichfalls auf die Bühne zu verpflanzen, und hieran hatten die
Naturfreunde wenig auszusetzen; doch glaubten sie einen großen Vorschritt
zu tun, wenn sie ernsthafte und tragische Gegenstände, deren das
bürgerliche Leben auch nicht ermangelt, zu ihren Stücken erwählten, sich
der Prosa gleichfalls zu höherem Ausdruck bedienten, und so die
unnatürlichen Verse zugleich mit der unnatürlichen Deklamation und
Gestikulation allmählich verbannten.
Höchst merkwürdig ist es und nicht
so allgemein beachtet, dass zu dieser Zeit selbst der alten strengen,
rhythmischen, kunstreichen Tragödie mit einer Revolution gedroht ward, die
nur durch große Talente und die Macht des Herkommens abgelenkt werden
konnte.
Es stellte sich nämlich dem
Schauspieler Lecain, der seine Helden mit besondrem theatralischen
Anstand, mit Erhebung und Kraft spielte, und sich vom Natürlichen und
Gewöhnlichen entfernt hielt, ein Mann gegenüber, mit Namen
Aufresne, der
aller Unnatur den Krieg erklärte und in seinem tragischen Spiel die
höchste Wahrheit auszudrücken suchte. Dieses Verfahren mochte zu dem des
übrigen Pariser Theaterpersonals nicht passen. Er stand allein, jene
hielten sich an einander geschlossen, und er, hartnäckig genug auf seinem
Sinne bestehend, verließ lieber Paris und kam durch Straßburg. Dort sahen
wir ihn die Rolle des August im "Cinna", des Mithridat und andere
dergleichen mit der wahrsten natürlichsten Würde spielen. Als ein schöner
großer Mann trat er auf, mehr schlank als stark, nicht eigentlich von
imposantem, aber von edlem gefälligem Wesen. Sein Spiel war überlegt und
ruhig, ohne kalt zu sein, und kräftig genug, wo es erfordert wurde. Er war
ein sehr geübter Künstler, und von den wenigen, die das Künstliche ganz in
die Natur und die Natur ganz in die Kunst zu verwandeln wissen. Diese sind
es eigentlich, deren missverstandene Vorzüge die Lehre von der falschen
Natürlichkeit jederzeit veranlassen.
Und so will ich denn auch noch
eines kleinen, aber merkwürdig Epoche machenden Werks gedenken: es ist
Rousseaus "Pygmalion". Viel könnte man darüber sagen: denn diese
wunderliche Produktion schwankt gleichfalls zwischen Natur und Kunst, mit
dem falschen Bestreben, diese in jene aufzulösen. Wir sehen einen
Künstler, der das Vollkommenste geleistet hat, und doch nicht Befriedigung
darin findet, seine Idee außer sich, kunstgemäß dargestellt und ihr ein
höheres Leben verliehen zu haben; nein! sie soll auch in das irdische
Leben zu ihm herabgezogen werden. Er will das Höchste, was Geist und Tat
hervorgebracht, durch den gemeinsten Akt der Sinnlichkeit zerstören.
Alles dieses und manches andere,
recht und töricht, wahr und halbwahr, das auf uns einwirkte, trug noch
mehr bei, die Begriffe zu verwirren; wir trieben uns auf mancherlei
Abwegen und Umwegen herum, und so ward von vielen Seiten auch jene
deutsche literarische Revolution vorbereitet, von der wir Zeugen waren,
und wozu wir, bewusst und unbewusst, willig oder unwillig, unaufhaltsam
mitwirkten.
Auf philosophische Weise erleuchtet
und gefördert zu werden, hatten wir keinen Trieb noch Hang, über religiose
Gegenstände glaubten wir uns selbst aufgeklärt zu haben, und so war der
heftige Streit französischer Philosophen mit dem Pfafftum uns ziemlich
gleichgültig. Verbotene, zum Feuer verdammte Bücher, welche damals großen
Lärmen machten, übten keine Wirkung auf uns. Ich gedenke statt aller des
"Système de la nature", das wir aus Neugier in die Hand nahmen. Wir
begriffen nicht, wie ein solches Buch gefährlich sein könnte. Es kam uns
so grau, so cimmerisch, so totenhaft vor, dass wir Mühe hatten, seine
Gegenwart auszuhalten, dass wir davor wie vor einem Gespenste schauderten.
Der Verfasser glaubt sein Buch ganz eigens zu empfehlen, wenn er in der
Vorrede versichert, dass er, als ein abgelebter Greis, soeben in die Grube
steigend, der Mit- und Nachwelt die Wahrheit verkünden wolle.
Wir lachten ihn aus: denn wir
glaubten bemerkt zu haben, dass von alten Leuten eigentlich an der Welt
nichts geschätzt werde, was liebenswürdig und gut an ihr ist. "Alte
Kirchen haben dunkle Gläser! - Wie Kirschen und Beeren schmecken, muss man
Kinder und Sperlinge fragen!" dies waren unsere Lust- und Leibworte; und
so schien uns jenes Buch, als die rechte Quintessenz der Greisenheit,
unschmackhaft, ja abgeschmackt. Alles sollte notwendig sein und deswegen
kein Gott. Könnte es denn aber nicht auch notwendig einen Gott geben?
fragten wir. Dabei gestanden wir freilich, dass wir uns den Notwendigkeiten
der Tage und Nächte, der Jahreszeiten, der klimatischen Einflüsse, der
physischen und animalischen Zustände nicht wohl entziehn könnten; doch
fühlten wir etwas in uns, das als vollkommene Willkür erschien, und wieder
etwas, das sich mit dieser Willkür ins Gleichgewicht zu setzen suchte.
Die Hoffnung, immer vernünftiger zu
werden, uns von den äußeren Dingen, ja von uns selbst immer unabhängiger
zu machen, konnten wir nicht aufgeben. Das Wort Freiheit klingt so schön,
dass man es nicht entbehren könnte, und wenn es einen Irrtum bezeichnete.
Keiner von uns hatte das Buch hinausgelesen: denn wir fanden uns in der
Erwartung getäuscht, in der wir es aufgeschlagen hatten. System der Natur
ward angekündigt, und wir hofften also wirklich etwas von der Natur,
unserer Abgöttin, zu erfahren. Physik und Chemie, Himmels- und
Erdbeschreibung, Naturgeschichte und Anatomie und so manches andere hatte
nun seit Jahren und bis auf den letzten Tag uns immer auf die geschmückte
große Welt hingewiesen, und wir hätten gern von Sonnen und Sternen, von
Planeten und Monden, von Bergen, Tälern, Flüssen und Meeren und von allem,
was darin lebt und webt, das Nähere sowie das Allgemeinere erfahren. dass
hierbei wohl manches vorkommen müsste, was dem gemeinen Menschen als
schädlich, der Geistlichkeit als gefährlich, dem Staat als unzulässlich
erscheinen möchte, daran hatten wir keinen Zweifel, und wir hofften,
dieses Büchlein sollte nicht unwürdig die Feuerprobe bestanden haben.
Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen
Halbnacht zu Mute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der
Himmel mit allen seinen Gestirnen verschwand. Eine Materie sollte sein von
Ewigkeit, und von Ewigkeit her bewegt, und sollte nun mit dieser Bewegung
rechts und links und nach allen Seiten, ohne weiteres, die unendlichen
Phänomene des Daseins hervorbringen. Dies alles wären wir sogar zufrieden
gewesen, wenn der Verfasser wirklich aus seiner bewegten Materie die Welt
vor unseren Augen aufgebaut hätte. Aber er mochte von der Natur so wenig
wissen als wir: denn indem er einige allgemeine Begriffe hingepfahlt,
verlässt er sie sogleich, um dasjenige, was höher als die Natur, oder als
höhere Natur in der Natur erscheint, zur materiellen, schweren, zwar
bewegten aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur zu verwandeln, und
glaubt dadurch recht viel gewonnen zu haben.
Wenn uns jedoch dieses Buch einigen
Schaden gebracht hat, So war es der, dass wir aller Philosophie, besonders
aber der Metaphysik, recht herzlich gram wurden und blieben, dagegen aber
aufs lebendige Wissen, Erfahren, Tun und Dichten uns nur desto lebhafter
und leidenschaftlicher hinwarfen.
So waren wir denn an der Grenze von
Frankreich alles französischen Wesens auf einmal bar und ledig. Ihre
Lebensweise fanden wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre Dichtung kalt,
ihre Kritik vernichtend, ihre Philosophie abstrus und doch unzulänglich,
So dass wir auf dem Punkte standen, uns der rohen Natur wenigstens
versuchsweise hinzugeben, wenn uns nicht ein anderer Einfluss schon seit
langer Zeit zu höheren, freieren und ebenso wahren als dichterischen
Weltansichten und Geistesgenüssen vorbereitet und uns erst heimlich und
mäßig, dann aber immer offenbarer und gewaltiger beherrscht hätte.
Ich brauche kaum zu sagen, dass hier
Shakespeare gemeint sei, und nachdem ich dieses ausgesprochen, bedarf es
keiner weitern Ausführung. Shakespeare ist von den Deutschen mehr als von
allen anderen Nationen, ja vielleicht mehr als von seiner eignen erkannt.
Wir haben ihm alle Gerechtigkeit, Billigkeit und Schonung, die wir uns
unter einander selbst versagen, reichlich zugewendet; vorzügliche Männer
beschäftigten sich, seine Geistesgaben im günstigsten Lichte zu zeigen,
und ich habe jederzeit, was man zu seiner Ehre, zu seinen Gunsten, ja ihn
zu entschuldigen gesagt, gern unterschrieben. Die Einwirkung dieses
außerordentlichen Geistes auf mich ist früher dargestellt, und über seine
Arbeiten einiges versucht worden, welches Zustimmung gefunden hat; und so
mag es hier an dieser allgemeinen Erklärung genug sein, bis ich eine
Nachlese von Betrachtungen über so große Verdienste, die ich an dieser
Stelle einzuschalten in Versuchung geriet, Freunden, die mich hören mögen,
mitzuteilen im Falle bin.
Gegenwärtig will ich nur die Art,
wie ich mit ihm bekannt geworden, näher anzeigen. Es geschah ziemlich
früh, in Leipzig, durch Dodds "Beauties of Shakespeare". Was man auch
gegen solche Sammlungen sagen kann, welche die Autoren zerstückelt
mitteilen, sie bringen doch manche gute Wirkung hervor. Sind wir doch
nicht immer so gefasst und so geistreich, dass wir ein ganzes Werk nach
seinem Wert in uns aufzunehmen vermöchten. Streichen wir nicht in einem
Buche Stellen an, die sich unmittelbar auf uns beziehen? Junge Leute
besonders, denen es an durchgreifender Bildung fehlt, werden von
glänzenden Stellen gar löblich aufgeregt, und so erinnere ich mich noch
als einer der schönsten Epochen meines Lebens derjenigen, welche gedachtes
Werk bei mir bezeichnete. Jene herrlichen Eigenheiten, die großen Sprüche,
die treffenden Schilderungen, die humoristischen Züge, alles traf mich
einzeln und gewaltig.
Nun erschien Wielands Übersetzung.
Sie ward verschlungen, Freunden und Bekannten mitgeteilt und empfohlen.
Wir Deutsche hatten den Vorteil, dass mehrere bedeutende Werke fremder
Nationen auf eine leichte und heitere Weise zuerst herübergebracht wurden.
Shakespeare prosaisch übersetzt, erst durch Wieland, dann durch
Eschenburg, konnte als eine allgemein verständliche und jedem Leser gemäße
Lektüre sich schnell verbreiten, und große Wirkung hervorbringen. Ich ehre
den Rhythmus wie den Reim, wodurch Poesie erst zur Poesie wird, aber das
eigentlich tief und gründlich Wirksame, das wahrhaft Ausbildende und
Fördernde ist dasjenige, was vom Dichter übrig bleibt, wenn er in Prose
übersetzt wird. Dann bleibt der reine vollkommene Gehalt, den uns ein
blendendes Äußere oft, wenn er fehlt, vorzuspiegeln weiß, und, wenn er
gegenwärtig ist, verdeckt. Ich halte daher zum Anfang jugendlicher Bildung
prosaische Übersetzungen für vorteilhafter als die poetischen; denn es
lässt sich bemerken, dass Knaben, denen ja doch alles zum Scherze dienen
muss, sich am Schall der Worte, am Fall der Silben ergetzen, und durch eine
Art von parodistischem Mutwillen den tiefen Gehalt des edelsten Werks
zerstören. Deshalb gebe ich zu bedenken, ob nicht zunächst eine prosaische
Übersetzung des Homer zu unternehmen wäre; aber freilich müsste sie der
Stufe würdig sein, auf der sich die deutsche Literatur gegenwärtig
befindet. Ich überlasse dies und das Vorgesagte unsern würdigen Pädagogen
zur Betrachtung, denen ausgebreitete Erfahrung hierüber am besten zu
Gebote steht. Nur will ich noch, zu Gunsten meines Vorschlags, an Luthers
Bibelübersetzung erinnern: denn dass dieser treffliche Mann ein in dem
verschiedensten Stile verfasstes Werk und dessen dichterischen,
geschichtlichen, gebietenden, lehrenden Ton uns in der Muttersprache wie
aus einem Gusse überlieferte, hat die Religion mehr gefördert, als wenn er
die Eigentümlichkeiten des Originals im einzelnen hätte nachbilden wollen.
Vergebens hat man nachher sich mit dem Buche Hiob, den Psalmen und andern
Gesängen bemüht, sie uns in ihrer poetischen Form genießbar zu machen. Für
die Menge, auf die gewirkt werden soll, bleibt eine schlichte Übertragung
immer die beste. Jene kritischen Übersetzungen, die mit dem Original
wetteifern, dienen eigentlich nur zur Unterhaltung der Gelehrten
untereinander.
Und so wirkte in unserer
Straßburger Sozietät Shakespeare, übersetzt und im Original, stückweise
und im ganzen, stellen- und auszugsweise, dergestalt, dass, wie man
bibelfeste Männer hat, wir uns nach und nach in Shakespeare befestigten,
die Tugenden und Mängel seiner Zeit, mit denen er uns bekannt macht, in
unseren Gesprächen nachbildeten, an seinen Quibbles die größte Freude
hatten, und durch Übersetzung derselben, ja durch originalen Mutwillen mit
ihm wetteiferten. Hiezu trug nicht wenig bei, dass ich ihn vor allen mit
großem Enthusiasmus ergriffen hatte. Ein freudiges Bekennen, dass etwas
Höheres über mir schwebe, war ansteckend für meine Freunde, die sich alle
dieser Sinnesart hingaben. Wir leugneten die Möglichkeit nicht, solche
Verdienste näher zu erkennen, sie zu begreifen, mit Einsicht zu
beurteilen; aber dies behielten wir uns für spätere Epochen vor:
gegenwärtig wollten wir nur freudig teilnehmen, lebendig nachbilden, und,
bei so großem Genuss, an dem Manne, der ihn uns gab, nicht forschen und
mäkeln, vielmehr tat es uns wohl, ihn unbedingt zu verehren.
Will jemand unmittelbar erfahren,
was damals in dieser lebendigen Gesellschaft gedacht, gesprochen und
verhandelt worden, der lese den Aufsatz Herders über Shakespeare, in dem
Hefte "Von deutscher Art und Kunst"; ferner
Lenzens "Anmerkungen übers
Theater", denen eine Übersetzung von "Love's labour's lost" hinzugefügt
war. Herder dringt in das Tiefere von Shakespeares Wesen und stellt es
herrlich dar; Lenz beträgt sich mehr bilderstürmerisch gegen die
Herkömmlichkeit des Theaters, und will denn eben all und überall nach
Shakespearescher Weise gehandelt haben. Da ich diesen so talentvollen als
seltsamen Menschen hier zu erwähnen veranlasst werde, so ist wohl der Ort,
versuchsweise einiges über ihn zu sagen.
Ich lernte ihn erst gegen das
Ende meines Straßburger Aufenthalts kennen. Wir sahen uns selten; seine
Gesellschaft war nicht die meine, aber wir suchten doch Gelegenheit uns zu
treffen, und teilten uns einander gern mit, weil wir, als gleichzeitige
Jünglinge, ähnliche Gesinnungen hegten. Klein, aber nett von Gestalt, ein
allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas
abgestumpfte Züge vollkommen entsprachen; blaue Augen, blonde Haare, kurz,
ein Persönchen, wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit zu Zeit eins
begegnet ist; einen sanften, gleichsam vorsichtigen Schritt, eine
angenehme, nicht ganz fließende Sprache, und ein Betragen, das, zwischen
Zurückhaltung und Schüchternheit sich bewegend, einem jungen Manne gar
wohl anstand. Kleinere Gedichte, besonders seine eignen, las er sehr gut
vor, und schrieb eine fließende Hand. Für seine Sinnesart wüsste ich nur
das englische Wort whimsical, welches, wie das Wörterbuch ausweist, gar
manche Seltsamkeiten in einem Begriff zusammenfaßt. Niemand war vielleicht
eben deswegen fähiger als er, die Ausschweifungen und Auswüchse des
Shakespeareschen Genies zu empfinden und nachzubilden. Die obengedachte
Übersetzung gibt ein Zeugnis hievon. Er behandelt seinen Autor mit großer
Freiheit, ist nichts weniger als knapp und treu, aber er weiß sich die
Rüstung oder vielmehr die Possenjacke seines Vorgängers so gut anzupassen,
sich seinen Gebärden so humoristisch gleichzustellen, dass er demjenigen,
den solche Dinge anmuteten, gewiss Beifall abgewann.
Die Absurditäten der Clowns machten
besonders unsers ganze Glückseligkeit, und wir priesen Lenzen als einen
begünstigten Menschen, da ihm jenes Epitaphium des von der Prinzessin
geschossenen Wildes folgendermaßen gelungen war:
Die schöne
Prinzessin schoss und traf
Eines jungen Hirschleins Leben;
Es fiel dahin in schweren Schlaf,
Und wird ein Brätlein geben.
Der Jagdhund boll! - Ein L zu Hirsch,
So wird es denn ein Hirschel;
Doch setzt ein römisch L zu Hirsch,
So macht es fünfzig Hirschel.
Ich mache hundert Hirsche draus,
Schreib' Hirschell mit zwei LLen.
Die Neigung zum Absurden, die sich
frei und unbewunden bei der Jugend zu Tage zeigt, nachher aber immer mehr
in die Tiefe zurücktritt, ohne sich deshalb gänzlich zu verlieren, war bei
uns in voller Blüte, und wir suchten auch durch Originalspäße unsern
großen Meister zu feiern. Wir waren sehr glorios, wenn wir der
Gesellschaft etwas der Art vorlegen konnten, welches einigermaßen
gebilligt wurde, wie z.B. folgendes auf einen Rittmeister, der auf einem
wilden Pferde zu Schaden gekommen war:
Ein Ritter
wohnt in diesem Haus,
Ein Meister auch daneben;
Macht man davon einen Blumenstrauß,
So wird's einen Rittmeister geben.
Ist er nun Meister von dem Ritt,
Führt er mit Recht den Namen;
Doch nimmt der Ritt den Meister mit,
Weh ihm und seinem Samen!
Über solche Dinge ward sehr
ernsthaft gestritten, ob sie des Clowns würdig oder nicht, und ob sie aus
der wahrhaften reinen Narrenquelle geflossen, oder ob etwa Sinn und
Verstand sich auf eine ungehörige und unzulässige Weise mit eingemischt
hätten. Überhaupt aber konnten sich diese seltsamen Gesinnungen um so
heftiger verbreiten, und um so mehrere waren im Falle daran teilzunehmen,
als Lessing, der das große Vertrauen besaß, in seiner "Dramaturgie"
eigentlich das erste Signal dazu gegeben hatte.
In so gestimmter und aufgeregter
Gesellschaft gelang mir manche angenehme Fahrt nach dem oberen Elsass,
woher ich aber eben deshalb keine sonderliche Belehrung zurückbrachte. Die
vielen kleinen Verse, die uns bei jeder Gelegenheit entquollen, und die
wohl eine muntere Reisebeschreibung ausstatten konnten, sind verloren
gegangen. In dem Kreuzgange der Abtei Molsheim bewunderten wir die
farbigen Scheibengemälde; in der fruchtbaren Gegend zwischen Kolmar und
Schlettstadt ertönten possierliche Hymnen an Ceres, indem der Verbrauch so
vieler Früchte umständlich auseinander gesetzt und angepriesen, auch die
wichtige Streitfrage über den freien oder beschränkten Handel derselben
sehr lustig genommen wurde. In Ensisheim sahen wir den ungeheuren
Aerolithen in der Kirche aufgehangen, und spotteten, der Zweifelsucht
jener Zeit gemäß, über die Leichtgläubigkeit der Menschen, nicht
vorahndend, dass dergleichen luftgeborene Wesen, wo nicht auf unsern eignen
Acker herabfallen, doch wenigstens in unsern Kabinetten sollten verwahrt
werden.
Einer mit hundert, ja tausend
Gläubigen auf den Ottilienberg begangenen Wallfahrt denk ich noch immer
gern. Hier, wo das Grundgemäuer eines römischen Kastells noch übrig,
sollte sich in Ruinen und Steinritzen eine schöne Grafentochter, aus
frommer Neigung, aufgehalten haben. Unfern der Kapelle, wo sich die
Wanderer erbauen, zeigt man ihren Brunnen und erzählt gar manches
Anmutige. Das Bild, das ich mir von ihr machte, und ihr Name prägte sich
tief bei mir ein. Beide trug ich lange mit mir herum, bis ich endlich eine
meiner zwar spätem, aber darum nicht minder geliebten Töchter damit
ausstattete, die von frommen und reinen Herzen so günstig aufgenommen
wurde.
Auch auf dieser Höhe wiederholt sich
dem Auge das herrliche Elsass, immer dasselbe und immer neu; ebenso wie man
im Amphitheater, man nehme Platz wo man wolle, das ganze Volk übersieht,
nur seine Nachbarn am deutlichsten, so ist es auch hier mit Büschen,
Felsen, Hügeln, Wäldern, Feldern, Wiesen und Ortschaften in der Nähe und
in der Ferne. Am Horizont wollte man uns sogar Basel zeigen; dass wir es
gesehen, will ich nicht beschwören, aber das entfernte Blau der
Schweizergebirge übte auch hier sein Recht über uns aus, indem es uns zu
sich forderte, und, da wir nicht diesem Triebe folgen konnten, ein
schmerzliches Gefühl zurückließ.
Solchen Zerstreuungen und
Heiterkeiten gab ich mich um so lieber und zwar bis zur Trunkenheit hin,
als mich mein leidenschaftliches
Verhältnis zu Friedriken nunmehr zu
ängstigen anfing. Eine solche jugendliche, aufs Geratewohl gehegte Neigung
ist der nächtlich geworfenen Bombe zu vergleichen, die in einer sanften,
glänzenden Linie aufsteigt, sich unter die Sterne mischt, ja einen
Augenblick unter ihnen zu verweilen scheint, alsdann aber abwärts zwar
wieder dieselbe Bahn, nur umgekehrt, bezeichnet, und zuletzt da, wo sie
ihren Lauf geendet, Verderben hinbringt. Friedrike blieb sich immer
gleich; sie schien nicht zu denken noch denken zu wollen, dass dieses
Verhältnis sich so bald endigen könne. Olivie hingegen, die mich zwar auch
ungern vermisste, aber doch nicht so viel als jene verlor, war
voraussehender oder offener. Sie sprach manchmal mit mir über meinen
vermutlichen Abschied und suchte über sich selbst und ihre Schwester sich
zu trösten. Ein Mädchen, das einem Manne entsagt, dem sie ihre Gewogenheit
nicht verleugnet, ist lange nicht in der peinlichen Lage, in der sich ein
Jüngling befindet, der mit Erklärungen ebenso weit gegen ein Frauenzimmer
herausgegangen ist. Er spielt immer eine leidige Figur: denn von ihm, als
einem werdenden Manne, erwartet man schon eine gewisse Übersicht seines
Zustandes, und ein entschiedener Leichtsinn will ihn nicht kleiden. Die
Ursachen eines Mädchens, das sich zurückzieht, scheinen immer gültig, die
des Mannes niemals.
Allein wie soll eine schmeichelnde
Leidenschaft uns voraussehn lassen, wohin sie uns führen kann? Denn auch
selbst alsdann, wenn wir schon ganz verständig auf sie Verzicht getan,
können wir sie noch nicht loslassen; wir ergetzen uns an der lieblichen
Gewohnheit, und sollte es auch auf eine veränderte Weise sein. So ging es
auch mir. Wenngleich die Gegenwart Friedrikens mich ängstigte, so
wusste
ich doch nichts Angenehmeres, als abwesend an sie zu denken und mich mit
ihr zu unterhalten. Ich kam seltner hinaus, aber unsere Briefe wechselten
desto lebhafter. Sie wusste mir ihre Zustände mit Heiterkeit, ihre Gefühle
mit Anmut zu vergegenwärtigen, so wie ich mir ihre Verdienste mit Gunst
und Leidenschaft vor die Seele rief. Die Abwesenheit machte mich frei, und
meine ganze Zuneigung blühte erst recht auf durch die Unterhaltung in der
Ferne. Ich konnte mich in solchen Augenblicken ganz eigentlich über die
Zukunft verblenden; zerstreut war ich genug durch das Fortrollen der Zeit
und dringender Geschäfte. Ich hatte bisher möglich gemacht, das
Mannigfaltigste zu leisten, durch immer lebhafte Teilnahme am
Gegenwärtigen und Augenblicklichen; allein gegen das Ende drängte sich
alles gar gewaltsam über einander, wie es immer zu gehn pflegt, wenn man
sich von einem Orte loslösen soll.
Noch ein Zwischenereignis nahm mir
die letzten Tage weg. Ich befand mich nämlich in ansehnlicher Gesellschaft
auf einem Landhause, von wo man die Vorderseite des Münsters und den
darüber emporsteigenden Turm gar herrlich sehn konnte. "Es ist schade",
sagte jemand, "dass das Ganze nicht fertig geworden und dass wir nur den
einen Turm haben." Ich versetzte dagegen: "Es ist mir ebenso leid, diesen
einen Turm nicht ganz ausgeführt zu sehn; denn die vier Schnecken setzen
viel zu stumpf ab, es hätten darauf noch vier leichte Turmspitzen gesollt,
sowie eine höhere auf die Mitte, wo das plumpe Kreuz steht."
Als ich diese Behauptung mit
gewöhnlicher Lebhaftigkeit aussprach, redete mich ein kleiner muntrer Mann
an und fragte: "Wer hat Ihnen das gesagt?" - "Der Turm selbst", versetzte
ich. "Ich habe ihn so lange und aufmerksam betrachtet, und ihm so viel
Neigung erwiesen, dass er sich zuletzt entschloss, mir dieses offenbare
Geheimnis zu gestehn." - "Er hat sie nicht mit Unwahrheit berichtet",
versetzte jener; "ich kann es am besten wissen, denn ich bin der
Schaffner, der über die Baulichkeiten gesetzt ist. Wir haben in unserem
Archiv noch die Originalrisse, welche dasselbe besagen, und die ich Ihnen
zeigen kann." - Wegen meiner nahen Abreise drang ich auf Beschleunigung
dieser Gefälligkeit. Er ließ mich die unschätzbaren Rollen sehn; ich
zeichnete geschwind die in der Ausführung fehlenden Spitzen durch
ölgetränktes Papier und bedauerte, nicht früher von diesem Schatz
unterrichtet gewesen zu sein. Aber so sollte es mir immer ergehn, dass ich
durch Anschauen und Betrachten der Dinge erst mühsam zu einem Begriff
gelangen musste, der mir vielleicht nicht so auffallend und fruchtbar
gewesen wäre, wenn man mir ihn überliefert hätte.
In solchem Drang und Verwirrung
konnte ich doch nicht unterlassen, Friedriken noch einmal zu sehn. Es
waren peinliche Tage, deren Erinnerung mir nicht geblieben ist. Als ich
ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen,
und mir war sehr übel zu Mute. Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen
Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahndungen. Ich sah
nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir
selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegen kommen, und zwar in einem
Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald
ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg.
Sonderbar ist es jedoch, dass ich nach acht Jahren, in dem Kleide, das mir
geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade
trug, mich auf demselben Wege fand, um Friedriken noch einmal zu besuchen.
Es mag sich übrigens mit diesen Dingen wie es will verhalten, das
wunderliche Trugbild gab mir in jenen Augenblicken des Scheidens einige
Beruhigung. Der Schmerz, das herrliche Elsass, mit allem, was ich darin
erworben, auf immer zu verlassen, war gemildert, und ich fand mich, dem
Taumel des Lebewohls endlich entflohn, auf einer friedlichen und
erheiternden Reise so ziemlich wieder.
In Mannheim angelangt, eilte ich mit
größter Begierde, den Antikensaal zu sehn, von dem man viel Rühmens
machte. Schon in Leipzig, bei Gelegenheit der Winckelmannschen und
Lessingschen Schriften, hatte ich viel von diesen bedeutenden Kunstwerken
reden hören, desto weniger aber gesehn: denn außer Laokoon, dem Vater, und
dem Faun mit den Krotalen befanden sich keine Abgüsse auf der Akademie;
und was uns Oeser bei Gelegenheit dieser Bildnisse zu sagen beliebte, war
freilich rätselhaft genug. Wie will man aber auch Anfängern von dem Ende
der Kunst einen Begriff geben? Direktor Verschaffelts Empfang war
freundlich. Zu dem Saale führte mich einer seiner Gesellen, der, nachdem
er mir aufgeschlossen, mich meinen Neigungen und Betrachtungen überließ.
Hier stand ich nun, den wundersamsten Eindrücken ausgesetzt, in einem
geräumigen, viereckten, bei außerordentlicher Höhe fast kubischen Saal, in
einem durch Fenster unter dem Gesims von oben wohl erleuchteten Raum: die
herrlichsten Statuen des Altertums nicht allein an den Wänden gereiht,
sondern auch innerhalb der ganzen Fläche durch einander aufgestellt; ein
Wald von Statuen, durch den man sich durchwinden, eine große ideale
Volksgesellschaft, zwischen der man sich durchdrängen musste. Alle diese
herrlichen Gebilde konnten durch Auf- und Zuziehn der Vorhänge in das
vorteilhafteste Licht gestellt werden; überdies waren sie auf ihren
Postamenten beweglich und nach Belieben zu wenden und zu drehen.
Nachdem ich die erste Wirkung
dieser unwiderstehlichen Masse eine Zeitlang geduldet hatte, wendete ich
mich zu denen Gestalten, die mich am meisten anzogen, und wer kann
leugnen, dass Apoll von Belvedere, durch seine mäßige Kolossalgröße, den
schlanken Bau, die freie Bewegung, den siegenden Blick, auch über unsere
Empfindung vor allen andern den Sieg davon trage? Sodann wendete ich mich
zu Laokoon, den ich hier zuerst mit seinen Söhnen in Verbindung sah. Ich
vergegenwärtigte mir so gut als möglich das, was über ihn verhandelt und
gestritten worden war, und suchte mir einen Gesichtspunkt; allein ich ward
bald da- bald dorthin gezogen. Der sterbende Fechter hielt mich lange
fest, besonders aber hatte ich der Gruppe von Kastor und Pollux, diesen
kostbaren, obgleich problematischen Resten, die seligsten Augenblicke zu
danken. Ich wusste noch nicht, wie unmöglich es sei, sich von einem
genießenden Anschaun sogleich Rechenschaft zu geben. Ich zwang mich zu
reflektieren, und so wenig es mir gelingen wollte, zu irgend einer Art von
Klarheit zu gelangen, so fühlte ich doch, dass jedes einzelne dieser großen
versammelten Masse fasslich, ein jeder Gegenstand natürlich und in sich
selbst bedeutend sei.
Auf Laokoon jedoch war meine größte
Aufmerksamkeit gerichtet, und ich entschied mir die berühmte Frage, warum
er nicht schreie, dadurch, dass ich mir aussprach, er könne nicht schreien.
Alle Handlungen und Bewegungen der drei Figuren gingen mir aus der ersten
Konzeption der Gruppe hervor. Die ganze so gewaltsame als kunstreiche
Stellung des Hauptkörpers war aus zwei Anlässen zusammengesetzt, aus dem
Streben gegen die Schlangen, und aus dem Fliehn vor dem augenblicklichen
Biss. Um diesen Schmerz zu mildern, musste der Unterleib eingezogen und das
Schreien unmöglich gemacht werden. So entschied ich mich auch, dass der
jüngere Sohn nicht gebissen sei, und wie ich mir sonst noch das
Kunstreiche dieser Gruppe auszulegen suchte. Ich schrieb hierüber einen
Brief an Oesern, der aber nicht sonderlich auf meine Auslegung achtete,
sondern nur meinen guten Willen mit einer allgemeinen Aufmunterung
erwiderte. Ich aber war glücklich genug, jenen Gedanken festzuhalten und
bei mir mehrere Jahre ruhen zu lassen, bis er sich zuletzt an meine
sämtlichen Erfahrungen und Überzeugungen anschloss, in welchem Sinne ich
ihn sodann bei Herausgabe der "Propyläen" mitteilte.
Nach eifriger Betrachtung so vieler
erhabenen plastischen Werke sollte es mir auch an einem Vorschmack antiker
Architektur nicht fehlen. Ich fand den Abguss eines Kapitells der Rotonde,
und ich leugne nicht, dass beim Anblick jener so ungeheuren als eleganten
Akanthblätter mein Glaube an die nordische Baukunst etwas zu wanken
anfing.
Dieses große und bei mir durchs
ganze Leben wirksame frühzeitige Schauen war dennoch für die nächste Zeit
von geringen Folgen. Wie gern hätte ich mit dieser Darstellung ein Buch
angefangen, anstatt dass ich's damit ende: denn kaum war die Türe des
herrlichen Saals hinter mir zugeschlossen, so wünschte ich mich selbst
wieder zu finden, ja ich suchte jene Gestalten eher, als lästig, aus
meiner Einbildungskraft zu entfernen, und nur erst durch einen großen
Umweg sollte ich in diesen Kreis zurückgeführt werden. Indessen ist die
stille Fruchtbarkeit solcher Eindrücke ganz unschätzbar, die man
genießend, ohne zersplitterndes Urteil in sich aufnimmt. Die Jugend ist
dieses höchsten Glücks fähig, wenn sie nicht kritisch sein will, sondern
das Vortreffliche und Gute, ohne Untersuchung und Sonderung, auf sich
wirken lässt.
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